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Nr. 247 (R. 127). Leipzig, Donnerstag den 23. Oktober 1830. 87. Jahrgang. Redaktioneller TA» Das europäische Kinderbuch. Von Kurt Saucke, Hamburg. »Das Kinderbuch steht seit einigen Jahren in einer neuen Blüte. Unter sinnvoller Bewahrung alter, schöner Kinderbilder wandeln sich die Formen des Ausdrucks. Nicht nur in Deutsch land — fast in allen Ländern Europas bildet sich neue Form gestaltung, auch im Kinderbuch. Zum Anschauen und Vergleichen sandten uns Freunde aus den Hauptstädten Europas, sorgfältig wählend, die Bilderbücher der Kinder ihres Landes. Eine Völkerkunde der Kleinen in Europa — eine fröhliche, bunte, anregende und nachdenkliche Ausstellung ist eröffnet. Wir laden Sie hierdurch herzlichst zur Besichtigung ein.« Dieses war der Text meiner in blau auf weiß gedruckten vierseitigen Einladungskarte zu meiner Ausstellung »Das Euro päische Kinderbuch«, die in der letzten Märzwoche und im April dieses Jahres bei mir stattfand. Aus der Rückseite der Einladung waren die Länder, die die Ausstellung beschickt hatten, verzeich net, nämlich: Deutschland, Bulgarien, Dänemark, England, Finnland, Frankreich, Italien, Lettland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Rußland, Schweden, Schweiz, Spanien und Ungarn. Seit Jahren habe ich mich für das Kinderbilderbuch, fast möchte ich sagen vom bibliophilen Standpunkt aus, interessiert, und immer wieder gesehen, daß die Eigenart jedes Landes sich nicht nur in der äußeren Form seiner Buchherstellung überhaupt, sondern besonders auch in der Aufmachung und Illustration sei ner Kinderbücher spiegelt. Wie den Kennern meiner Buchhand lung bekannt ist, habe ich im ersten Stock einen geräumigen Lese- und Ausstellungsraum zur Verfügung, in dem auf niedrigen, jedem erreichbaren Borten zunächst die Kinderbücher, dann die Kunstwissenschaft, die Philosophie und das Schöne Buch unter gebracht sind. Ich hatte den Raum schon lange gern für eine Sonderausstellung verwenden wollen und war froh, als mir die Idee kam, einmal die Kinderbücher der europäischen Länder in einer Ausstellung zusammenzustellen. Zunächst schrieb ich an persönliche Freunde, Bekannte oder Kunden in einzelnen Ländern mit der Bitte, mir die Kinder bücher ihres Landes, die sie besonders schätzten, zu nennen, mir die Namen der bekanntesten Kinderbuch-Schriftsteller und -Illu stratoren aufzugeben bzw. den Verleger oder Kommissionär, an den man sich wegen einer Auswahl wenden könnte. Der Erfolg war überraschend. Mit der größten Freundlichkeit und wahrem Eifer wurden mir Angaben gemacht, aus Grund deren ich mich dann an Verleger oder Buchhandlungen mit schon genauer ange gebenen Wünschen wenden konnte. Fast alle Firmen der betref fenden Länder haben dann in liebenswürdigster Weise, aller- größtenteils auch mit wirklicher Sachkenntnis, mir eine Auswahl zusammengestellt und in Kommission übersandt. So konnte ich von den oben genannten Ländern — ich kann wohl mit Recht sagen — die schönsten Bilderbücher zeigen. Nur aus Griechen land, Belgien und der Tschechoslowakei konnten wir keine Ant wort der Buchhändler bekommen; vielleicht tragen diese Zeilen dazu bei, uns bei einer späteren Veranlassung die richtigen Quellen zu ermitteln. — Nun trafen aus aller Herren Ländern die Bilderbücher ein, sie wurden alle ausgezeichnet und erhielten jedes eine laufende Nummer, nach der sie in einer Sonderliste, die auch Näheres über Verlag, Einkaufspreis usw. enthielt, für den eigenen Gebrauch aufgeführt waren. Dann ging es an die Ausschmückung des Raumes. Mit rotem Kreppapier und gol denem Glanzpapier, zu Streifen und Sternen geschnitten, und mit hübschen Bildchen — von denen uns der Verlag Francke in Bern eine besonders hübsche Auswahl gesandt hatte — wurde der ganze Raum geschmückt. Fast jedes Land hatte einen beson deren Tisch und jeder Tisch war mit der Flagge des betreffenden Landes und den reizenden Tieren der Werkschar Naumburg ge schmückt. Besonders bei Licht am Nachmittag und Abend bot sich dem Besucher gleich beim Betreten des Raumes ein freundlicher und fröhlicher Anblick. Die Ausstellung begann mit Deutschland und Österreich, denen sich die anderen Länder in planmäßiger Reihenfolge anschlossen. Ohne auf einzelne Büchertitel und Illu stratoren einzugehen, denn das würde zu weit führen, möchte ich kurz einige charakteristische Züge der einzelnen Länder, wie sie sich in ihren Bilderbüchern darstellen, skizzieren. Deutschland fällt auf durch eine starke Reichhaltigkeit und Vielseitigkeit. Jedes Buch trägt seine Individualität in sich: neue Sachlichkeit, Tempo und unbekümmerte Fröhlichkeit wie auch Romantik, Verträumtheit und Phantasie. Als Ganzes uneinheitlich, dadurch interessant, aber auch nachdenklich stim mend, wenn man vergleicht, wie viel einheitlicher das Gesamtbild fast aller anderen Länder ist. Eins aber ist sicher: in keinem Lande wird so um neue Form und neuen Ausdruck gerungen wie in Deutschland. Das Vorliegen einiger sehr schöner Lösungen des modernen Bilderbuches läßt uns weiterhin Schönes erwarten. Für Österreich gilt ähnliches wie für Deutschland. Auf fallend der kunstgewerbliche Einschlag; die Wiener Kunstgewerbe schule hat sich fast auf alle namhaften Bilderbücher irgendwie ausgewirkt. Schweden, Norwegen und Finnland fallen auf durch eine bezaubernde Kindlichkeit ihrer Bücher; reine Farben, klare, schöne Bilder, eine Kinderwelt darstellend, die ungetrübt ist durch die Erschütterungen des Weltkrieges, eben dadurch freundlicher, kurz und gut, eine fröhliche Welt. In sehr viele Bücher spielt die Sagenwelt des Nördlandes hinein und der starke Zusammenhang mit der Vergangenheit. Schon anders liegt es mit Dänemark. Was bei den anderen Ländern ur sprünglicher ist, ist hier schon westlicher, dafür zarter, graziöser, manchmal wieder grotesk, stellenweise für Erwachsene sehr amü sant, teilweise künstlerisch überraschend schön und modern. Die Farben sind gewissermaßen die des Wassers, der Dünen und des Küstenlandes. Ähnliche Farben finden sich auch in vielen englischen Kin derbüchern. England ist nun wirklich das Land des Kinder buches pur excsllonos. Wer englische Kinderbücher kennt, wird gleich mir mit wirklichem Behagen feststellen, wie köstlich die Kinderwelt Englands sich in seinen Büchern spiegelt. Ich brauche keine Namen zu nennen, jedem Kenner englischer Kinder- 1017