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Ottendorfer Zeitung : 06.07.1906
- Erscheinungsdatum
- 1906-07-06
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Privatperson
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1811457398-190607064
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1811457398-19060706
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1811457398-19060706
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Ottendorfer Zeitung
-
Jahr
1906
-
Monat
1906-07
- Tag 1906-07-06
-
Monat
1906-07
-
Jahr
1906
- Titel
- Ottendorfer Zeitung : 06.07.1906
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PoLirilcke Aunäkkau. Deutschland. * Der Kaiser trat am 3. d. seine Nord- landsreise an. * Kaiser Wilhelm und der Z a r werden in diesem Jahre noch zusammentreffen, doch ist über Zeit und Ort noch nichts bestimmt. Angesichts der von Tag zu Tag schwieriger werdenden Verhältnisse in Rußland erscheint es in hohem Maße fraglich, ob die Verworrenheit der inneren Zustände dem Zaren gestatten wird, überhaupt sein Land zu verlassen. * Die Mitglieder der chinesischen Studienkommission, die auch Deutsch land bereist haben, sind vom Kaiser Wil helm mit Orden ausgezeichnet worden. *Die Errichtung eines selbständigen Kolonialamts bezeichnete Fürst v. Bülow in einem Briefe an den Präsidenten der deutschen Kolonialgesellschaft Herzog Johan nAlbrecht zu Mecklenburg als eine der wichtigsten kolonialen Aufgaben. *Der Präsident des Reichsver sicherungsamtes, Wirkt. Geh. Ober- Regierungsrat Otto Gäbel, ist am Montag in Berlin nach kurzem Krankenlager im 69. Lebensjahre verstorben. Seit der im Jahre 1887 erfolgten Gründung des Reichs versicherungsamtes war der Verstorbene, der bei der ersten Eiimchtung dieser Neichsinstitution geholfen hatte, bei diesem Amt ununterbrochen tätig gewesen, zuerst als Direktor, seit dem Jahre 1898, nach dem Ausscheiden des ersten Präsidenten Bödiker, als Leiter und Chef des Amtes. * Auf Veranlassung des Neichsamtes des Innern werden noch im Laufe dieses Jahres bei allen preußischen Truppenteilen Er hebungen veranstaltet über den Einfluß, den Herkunft und Beschäftigung der Militärpflichtigen auf die Militärtauglichkeit ausüben. *DaS Preuß. Herrenhaus und das Abgeordnetenhaus begannen wieder ihre Sitzungen. *Die württembergische Kammer der Standesherren hat nochmals die Ver fassungsrevision beraten. Sie beharrte dabei einstimmig auf ihrem früheren Standpunkt bezüglich des Budgetrechts, machte aber auf andern Gebieten wesentliche Zugeständnisse gegen über der Zweiten Kammer und stimmte nament lich hinsichtlich des Ersatzes sür die aus der Zweiten Kammer ausscheidenden Bevorrechtigten der Zuwahl von 17 Abgeordneten zur Zweiten Kammer zu, und zwar in der Weise, daß diese in zwei Parsten gewählt werden, und vom Neckarkreis und Schwarzwaldkreis zehn Abge ordnete, vom Jagstkreis und Donaustcis sieben Abgeordnete. *Der Dampfer „Lulu Bohlen" der Wörmann-Linie ist mit 4 Offizieren und 211 Unteroffizieren und Mannschaften aus Süd west-Afrika in Hamburg eingetroffen. Österreich-Ungarn. *Zu den vielfachen Ehrungen, die dem ehr würdigen Kaiser Franz Joseph zu seinem im Jahre 1908 bevorstehenden sechzig jährigen Regierungsjubiläum vorbereitet werden, gesellt sich der Plan einer Kaiser-Jubi- läumsausstellung in Wien. Der Kaiser hat einer Abordnung seine Zustimmung gegeben, daß die Ausstellung den Titel „Kaiser- Jubiläumsausstellung" führe und hinzugefügt, daß er das Unternehmen unter seinen besonderen Schutz nehme. *Kaiser Franz Joseph hat an den Statthalter von Mähren ein Handschreiben gerichtet, in welchem er seinen innigsten Dank ausspricht für die wahrhaft rührenden Beweise der Anhänglichkeit, und dem Wunsche Ausdruck gibt, daß das in Mähren geschaffene nationale Friedenswerk zum Vorbilde werden möge für eine friedliche, einverstandliche Lösung auch andrer nationaler Gegensätze. Das emsige Schaffen, das reiche Können der beiden Volks stämme Mährens hätten dem Kaiser dargetan, daß deren kulturelle Entwickelung eine Höhe er reichten, die einen erfreulichen Ausblick in die Zukunft gewährt. * In Fünfkirchen entstand bei der Rekrutierung zwischen Stellungspflichtigen und Polizisten ein Zusammenstoß. Die Rekruten überfielen mit Messern und Stöcken die Polizisten, die sich mit dem Säbel wehrten. Ein Polizist wurde gewürgt, der Säbel wurde ihm zerbrochen. Hierauf kamen berittene Poli zisten und zerstreuten die Rekruten. Fünf wurden verhaftet, drei sind schwer, mehrere leicht verletzt. Von den Beamten sind einer schwer und zwei leicht verwundet. Frankreich. *Der Mini st errat befaßt sich augen blicklich mit der Frage der Arbeiter pensionen. Manuel Garcia, der berühmte Gesanglchrer, Erfinder des Kehlkopf spiegels, ist am Sonntag in London in seiner Wohnung im Alter von 101 Jahren sanft ent schlafen. Über ein halbes Jahrhundert wirkte Manuel Garcia als bedeutendster Gesangsmeister. er—i-ui— * Angesichts des Berichtes des Botschafters Cambon, der bestätigt, daß die neuen spani schen Zolltarife wegen ihrer übertriebenen Höhe für Frankreich unannehmbar sind, hat die Regierung endgültig beschlossen, den Ver trag vom Jahre 1893 zu kündigen. Da die Kündigung erst nach drei Monaten in Kraft tritt, so würde vom 1. Oktober an der allgemeine Marimaltarif auf die aus Spanien eingeführten Produkte Anwendung finden. England. * Infolge der Wiederaufnahme der diplo matischen Beziehungen mit Serbien gedenkt die Regierung mit Serbien einen Handelsvertrag, ähnlich wie mit Rumänien und Bulgarien, abzuschließen, worin England Vorteile erlangen will, die über die den meistbegünstigten Nationen gewährten hinausgehen. Serbien wünscht englisches Kapital heranzuziehen. Zu gleich benutzt England diese neue Basis auf dem Balkan, um damit einen Druck auf Österreich und auf Goluchowskis Stellung aus zuüben. Schweiz. * Infolge des Scheiterns aller Zollver - tra g su n t erh a nd lu n g c n und Ablehnung des Provisoriums begann zwischen derSchweiz und Spanien ein scharfer Zollkrieg. Der Bundesrat setzte für spanische Waren Zoll ansätze fest, die die spanische Einfuhr fast gänzlich ausschließen. Diese neuen Tarife treten sofort in Kraft. Italien. *Die Zeitungen begrüßen die beschlossene Umwandlung der R ente n sch u ld en als glänzenden Beweis der wirtschaftlichen Erstarkung Italiens und treten für sofortige Inangriffnahme von Steuerreformen zur Entlastung der unteren Volksklassen ein. Spanien. * Der neue Minister des Äußeren Perez Caballero kündigt eine Neubesetzung des Botschafterpostens in Berlin an. * Der General st aatsanwalt in Madrid bereitet eine Denkschrift vor, die gesetz geberische Maßnahmen gegen Anarchisten ver langt. (Der junge König hatte sofort nach dem Attentat auf seinem Hochzeitszuge erklärt, daß er keine Ausnahmegesetze wünsche. Es scheint, als ob aus diesem Zwiespalt der Ansichten sich die gegenwärtige Ministerkrise entwickelt hat.) Rußland. * Am Zaren Hofe gibt man sich der Hoff nung hin, daß das Exempel, das an dem un botmäßigen Bataillon des Preobraschenskischen Leibgarde-Regiments statuiert wurde, die wankende Disziplin in Armee und Flotte wieder auf einige Zeit befestigen werde. Von der Verbannung aus der Residenz sind auch Offiziei-e bettoffen worden, die den ersten Adelsfamttien des Reiches entstammen. Aber eS hat fast den Anschein, daß mit diesen Maßregelungen die Säuberung der Garde von unzuverlässigen Elementen noch lange nicht als abgeschlossen betrachtet werden könne. * Die Lage des Ministeriums Goremykin ivird immer unhaltbarer. Nicht nur, daß die Reichsduma einhellig und ungestüm seinen Rücktritt fordert, auch der Reichsrat, jene konservativste Körperschaft des Zarenreiches, wen det sich von dem Leiter des gegenwärtigen Kabi netts ab und ist bereit, ihn jederzeit fallen zu lassen. In einer Beratung war die Mehr heit des Reichsrats geneigt, dem gegenwärti gen Ministerium ein Mißtrauensvotum auszusprechen. *Jn Moskau wächst die öffentliche Un sicherheit mit jedem Tage. Lichtscheues Ge sindel versucht häufig, Zusammenstöße mit der Polizei herbeizuführen, um im allgemeinen Wirr warr ungestört plündern zu können. Der ein sichtsvollere Teil der Bevölkerung hat sich daher in der Erkenntnis, daß die gegenwärtige Regie rung Abhilfe nicht schaffen kann oder will, zum Selbstschutz zusammengetan. Organisierte Arbeiter durchziehen die Straßen und be obachten alle verdächtigen und zweifelhaften Per sonen. *Jn einer Privatwohnung zu Moskau entdeckte die Polizei eine Bombenfabrik und eine Waffenniederlage. Zwanzig Revo lutionäre wurden verhaftet. Amerika. * Wenn Castro am 5. Juli die Präsident schaft wieder übernimmt, wird ihm die Forderung der Ver. Staaten entgegentteten, den Ansprüchen der Ver. Staaten gegen Venezuela ohne Rück sicht auf die venezolanischen Gerichte zu ent sprechen. Afrika. * Meldungen aus Natal besagen, daß der Häuptling Silvane, der.Kraals mit 6000 Kriegern in fünf Bezirken Natals besitzt, seine Stammes- genossen einberuft und bewaffnet, weshalb englischerseits weitere Milizen ausgehoben werden. VeLrugrprozeß v. Zander. Je mehr Zeit der Aufsehen erregende Prozeß in Anspruch nimmt, je mehr Betrügereien täglich ans Tageslicht kommen, je mehr wird auch das Bild von Schuld und Unschuld der einzelnen Angeklagten ver worren. So wurden beispielsweise am 12. Ver handlungstage eine Anzahl von Urteilen aus Zivil- Prozessen verlesen, aus denen zu ersehen ist, daß der Verkauf des Zanderschen Inventars und Mobiliars an Lüttich zwar nicht einwandsfrei und der Ver trag nach Inhalt und Fassung nicht ohne Bedenken, aber gleichwohl ein gültiger Vertrag und kein Scheinvertrag fei. — Der Angeklagte äußert hier zu auf Befragen: Der Vertrag wurde vor dem Rechtsanwalt und Notar Ulrich in Goslar ge schlossen. Vor Ulrich habe ich noch drei andre Rechtsanwälte aufgesucht, die zwar sagten, daß sie nicht geraten hätten, den Vertrag abzuschließen, denn er sei faul, aber trotzdem unanfechtbar. — Dorf.: Wenn Sic sich aber so sicher fühlten, daß es kein Scheinvertrag war, wozu fragten Sie denn so viele Juristen? Sie haben auch, wenn bei Ihnen ge pfändet wurde, selbst interveniert und nicht die Intervention von Lüttich abgewartet. — Angekl.: Ich hoffte dadurch die Pfändungen von vornherein abzuwenden, wenn ich die Richter und Gläubiger über die Rechtslage aufklärte. Es ist doch das pein lichste und scheußlichste, wenn die Gerichtsvollzieher^ auf den Gnlshof kommen. — Es kommen dann Fälle < zur Verhandlung, aus denen hervorgeht, daß die l Angeklagte v. Zander trotz der vom Untersuchung^-! Achter über sic verhängten Briefspcrre Briefe unter 1 falscher Adresse empfing. Am <Ähluß des zwölften j Verhandlungstagcs teilt der Vorsitzende mit, daß die j Verhandlung noch über eine Woche dauern wird. DerwcitcreVerlaufderVerhandlungbrachtedieVcr- z lcsung einiger Briefe, die sichzumTeil sehr zugunsten des i Majors von Zander aussprechen. Wie immer in j solchen Aufsehen erregenden Prozessen, hät dass Publikum für und gegen den Angeklagten Partei s ergriffen und diefir Stimmung durch Zuschriften ans das Gericht Ausdruck gegeben, die ebenfalls zur Ver-s lcsung gelangten. In einem dieser Briefe heißt es:s „Die kleinen Diebe hängt man; wird man nunl wieder einen großen Dieb laufen lassen?" Jul andern Briefen wird Major v. Zander geradezu j gefeiert. Besonders bemerkenswert sind zwei Briefe i aus Berlin, die an den Verteidiger Justizrat Dr. j Mamroth gelangt find. Der eine von einem mit j Namen genannten Herrn S. N, der 1893/94 unter dem ; Angeklagten gedient hat. Es heißt in dem Schreiben ' u. a.: „Mindestens die Hälfte von uns Rekruten j waren damals Sozialdemokraten. Wenn troydem - während des ganzen Jahres nicht ein Fall von/ Insubordination, grober Disziplinlosigkeit oder j Mißhandlung von Kameraden vorgekommen iü, ' so ist dies einzig und allein der vortreff-1 lichen und überaus erzieherischen Persönlichkeit! f unsres Hauptmanns und Kompaniechefs zuzu- i schreiben, der wirklich der Vater seiner Kompanie: war. Als einst ein sonst ganz gutmütiger Soldat j in der Trunkenheit mit gezogenem Säbel auf ihn j losgiug, hatte er ihn einfach ins Bett und nichts zur Anzeige gebracht — er wollte ihn nicht für j das ganze Leben unglücklich machen." Es' gelangen , dann Briefe der Angeklagten Frau v. Zander an ihren Mann zur Verlesung, in denen sie den - Wunsch ausspricht, sich von ihm zu trennen, da er ihr so schonungslos die Augen geöffnet. Von unä ^ern. Schweres Eisenbahn-Unglück in Eng land. Einer der furchtbarsten Eisenbahn- ! Unglücksfälle, die England je erlebt hat, hat sich ani Sonntag früh in der Nähe des Bahn- ! Hofes Salisbury ereignet. Kurz nach zwei Uhr j morgens entgleiste dort der Expreßzug, der die i mit dem Dampfer „New Jork" der American Linie bei Plymouth gelandeten Passagiere nach London bringen sollte. Der aus einer Lokomo- i tive und vier Wagen bestehende Zug wurde voll ständig zertrümmert. Dabei wurden von 47 Passa gieren 22 sowie drei Bahnbeamte auf der Stelle getötet und die Mehrzahl der übrigen verwundet. Bon letzteren sind vier ihren Verletzungen er legen, so daß die Gesamtzahl der Toten bisher 29 beträgt. Dampfcrzusammensloß in Stettin. Der große Dampfer der neuen Dampfschiffahrts- Gesellschaft „Oberbürgermeister Haken" ist am Sonntag, als er von See kam, bei den Oder- werken in der Oder mit dem Passagierdampfer „Heringsdorf" der Stettin -Swinemünder Dampfschiffahrts - Gesellschaft zusammengestoßen. Das Wetter war klar und die Sonne schien hell. Unter den Paffagieren des „Heringsdorf" entstand wilde Aufregung und ein 16 jähriger junger Mann sprang in seiner Angst in. das Wasser und ertrank. Sonst ist niemand ver letzt worden. Der „Heringsdorf" erhielt bei - dem Zusammenstoß ein Loch am Bug, hätte aber trotzdem die Fahrt fortsetzen können. Die j Passagiere waren jedoch durch den Vorfall so in Schrecken versetzt, daß sie auf sofortiger Landung bestanden, die dann auch ohne jeden Unfall erfolgte. Der Dampfer „Oberbürger meister Haken" hatte keine Beschädigung gehabt- Der Unfall wird auf ein mißverstandenes Signal zurückgeführt. Im Tode vereint! Aus dem Main wurden die Leichen einer Frau und eines Mannes im Alter von etwa 40 Jahren ge landet, die mit. Stricken mehrfach zusammenge bunden waren. Ihre Persönlichketten sind noch nicht festgestellt. Eilt heftiger Westorkan richlete in Zingst arge Verwüstungen an. Bäume sind entwurzelt. Im Bodstedter Bodden ist ein Fischerboot ge kentert, dessen Besatzung jedoch von Zingster Fischern gerettet werden konnte. Die Straßen sind dick mit abgeschlagenen Zweigen bedeckt. U Sin frauenleben. 1) Erzählung von Fritz Reutter.*) 1. Rechtsanwalt Dr. Bruno Stauffer saß an einem düsteren, regnerischen Novembertage, den Kopf in die Hände gestützt, an seinem Schreib tisch und blickte sinnend vor sich hin. Von der Straße her drang das dumpfe Wagen geraffel der belebten Friedrich Wilhelmstraße, und darüber erhob sich alle Augenblicke der schrille Schrei der Zeitungsjungen, die die letzte Ausgabe der Berliner Blätter ankündigten: „Urteil im großen Prozeß Forster! Urteil! — Pro—zeß!" Immer und immer wieder drangen diese Laute undeutlich an sein Ohr. Aber er wußte, was sie bedeuteten; denn er, der jetzt grübelnd am Schreibtische saß, war während der letzten zehn Tage in alle Wirr- gänge des Prozesses verwickelt gewesen und hatte mit Herz und Seele dessen Ausgang er wartet. Jetzt war der Kampf entschieden, der Sieg war sein. Und doch konnte er eine unange nehme Erinnerung daran nicht los werden. Ihm ward keine Gelegenheit geboten, sich wie sonst auszuzeichnen; keine dramatisch bewegte Szene, keine beredte Kasuistik, kein hübsches, erfolgreiches Wortgefecht mit dem Staatsanwalt blieb ihm in dauernder Erinnerung hasten, um ihm den Sieg noch zu versüßen und zu lohnen, er hatte den Prozeß geführt für eine Frau, die in Gefahr stand, alles — Ehre und Leben — *) Unberechtigter Nachdruck wird verfolgt. zu verlieren, und aus seiner mehr als zehn jährigen, rühmlichen Praxis kannte er keinen andern Fall, der ihn so stark und so persönlich interessiert hätte. Das Geheimnis, das sich um den Prozeß gewoben, hatte das öffentliche Interesse der ganzen Hauptstadt erregt und ba nnt aufs neue bewiesen, daß die Neugier eben noch immer eine mächtige Triebfeder im mensch lichen Leben ist. Wer auch diese Neugier war nicht vollauf befriedigt worden. Zwar war jedes tatsächliche Vorkommnis im Leben der unglücklichen Frau in aller Breite und Deut lichkeit vor einem lüsternen Publikum ausge kramt worden, und selbst dem scharfsinnigsten und skrupellosesten der gegnerischen Advo katen war es nicht mehr gelungen, auch nur ein Fäserchen neuer Tatsachen ans Tageslicht zu zerren. Der Wahlspruch der zwölf Geschwo renen war gefallen, der Richter hatte ihn bestätigt, und das Publikum durste sich noch weiter verwundern, um die Geschichte zu vergessen. Nur er, der Rechtsbeistand, konnte sie nicht aus dem Geiste los werden. Die Stunde des Essens war längst unbeachtet vorüber gegangen, ganz gegen seine Gewohnheit; denn er war ein Freund der Tafelsteuden und selbst im Essen und Trinken eine gebildete, verfeinerte Natur. Seit Stunden hatte er gefastet. Das Glas Bordeaux und die Biskuits, die er sich bei seiner Rückkehr aus dem Gerichtssaal hatte reichen lassen, standen in diesem Augenblick noch unberührt vor ihm, und sein Geist mühte sich ab, rückwärts blickend, das Weib, das er ver teidigt, mit seinem Geheimnis zu durchdringen. So m Gedanken versunken und die Ereignisse der letzten Tage durchlebend, vernimmt er plötz lich das Geräusch von raschen, hasügen Schritten vom Korridor her, jemand scheint mit seinem Bureaudiener laut zu sprechen, und im nächsten Augenblick schon öffnet sich die Tür wett und der stramme Diener meldet mit Heller Stimme: „Herr Baumbach," und fügt etwas leiser hin zu : „lÄ: wollte sich nicht abweisen lassen, Herr," und schon tritt der Besucher mitten ins Zimmer und die Art seines Eintretens erlaubt einen Schluß auf seinen Charakter. „Georg," ruft der Advokat herzlich, sich seiner Gedanken für den Augenblick entschla- gend, „was in aller Welt führt denn dich hierher?" „Der Frühzug und die Neugierde eines Toren," antwortet der Besucher. „Ich wollte die HÄdin in diesem großen Prozeß sehen — und auch dich. Und zum Lohn für all meine Mühe erblickte ich gerade noch die Feder auf ihrem Hut und etwas von ihrem dunklen Haar." Damit läßt er sich bereits in einen der bereit stehenden Sessel nieder, knöpft seinen schweren Mantel auf und zieht ein warmes Tuch vom Halse. „Mein lieber Freund," spricht er seufzend, „lebst denn du gewöhnlich in einer solchen Atmosphäre? Sechs Stunden genügen, um den stärksten Mann stank zu machen. Nun, um eine Erfahrung bin ich reicher geworden. Ich habe entdeckt, daß eine Menge wohlgekleideter Damen sich mindestens ebenso drängen und drücken und ihre Ellbogen gebrauchen können wie die flegelhaftesten Burschen eines Volks festes. Sie haben mich breiweich gedrückt." Der andre lacht und streckt seine Hand aoA- nacb der Weinkaraffe. „Ein Glas Bordeaux ge fällig ? Du siehst allerdings ganz elend cms,"j versetzte er ironisch und wirft einen Blick auf! seinen Freund, der seine riesigen Glieder behag lich im Lehnstuhl dehnt. Georg Baumbach schlürft seinen Bordeaux gedankenvoll. „Sind alle Frauen so grausam?" fragt er nach einer Weile. „Oder war es mir bloße Neugierde, die sie in den Gerichtssaal führ«, um eine der ihren abgehetzt, gefoltert, im Elend zu sehen?" „Sag' doch du," sagt der andre lächelnd, „weshalb du hierherkamst?" „Wie schon gesagt, teilweise aus Neugierde, hauptsächlich aber, wett mich eine Frau selbst veranlaßte, hierher zu kommen. Tatsächlich haben wir während der letzten zehn Tage nichts andres gehört, gelesen und gesprochen, als von diesem Prozeß; und am Ende bestand Gertrüd darauf, daß ich selbst hierher fahren sollte, um das Urtett zu vernehmen, die neuesten Nach richten nach Hause zu bringen und wenn mög lich — auch dich selbst." Auf diese Einladung gibt der Freund vor derhand keine Antwort. Er lehnt sich gemäch lich in seinen Stuhl zurück und überläßt sich wieder seinem so plötzlich unterbrochenen Ge dankengang. „Was den ersten Zweck meiner Reise be trifft," fährt Georg Baumbach plaudernd fort und füllt sich sein Glas wieder, „so habe ich eigentlich nichts gewonnen. Vom ganzen Prozeß weiß ich nun kein Jota mehr, als das,
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