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Ottendorfer Zeitung : 22.06.1906
- Erscheinungsdatum
- 1906-06-22
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Privatperson
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1811457398-190606226
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1811457398-19060622
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1811457398-19060622
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Ottendorfer Zeitung
-
Jahr
1906
-
Monat
1906-06
- Tag 1906-06-22
-
Monat
1906-06
-
Jahr
1906
- Titel
- Ottendorfer Zeitung : 22.06.1906
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Politilcbe Krmäsckau. Deutschland. * Der Kaiser traf am Montag nachunttag ganz unerwartet zum Besuche des Reichs kanzlers Fürsten v. Bülow in Norderney ein. Der Monarch hatte mit seinem Kanzler angesichts der bevorstehenden Nordlandsreise sich noch besprechen wollen, und um, wie in früheren Jahren, den Urlaub des Fürsten nicht zu unter brechen, begab sich der Kaiser nach Norderney. Bon Norderney fuhr derselbe nach Kuxhaven, wo er auf der „Amerika" Wohnung nahm/ * K aiserWilhelm wohnte am Sonntag dem Auguste Viktoria-Jagdrennen in Hamburg- Horn bei und überreichte den Siegern selbst die Preise. *Der Kaiser hielt bei dem Appell der Gardisten von Nvrdwestdeutschland in Ham burg eine Ansprache, in der er die alten Grenadiere und Füsiliere der Garde herzlich begrüßte. * Der Bundesrat nahm die Ausschuß- anträge an betreffend Ausführungsbestimmungen ») zum Zigarettensteuergesetz, d) zum Brau steuergesetz, e) über die Stempelabgabe von Er laubniskarten für Kraftfahrzeuge, ä) über die Vergütungen von Aufsichtsratsmitgliedern, e) über die Stempelabgabe von Personenfahrkarten, t) über die Stempelabgabe von Frachturkunden, x) zum Erbschaftssteuergesetz. *Eine Kommission von dreißig höheren Regierungsbeamten hat eine Bereisung der Gesamtstrecke des Kaiser-Wilhelm- Kanals vorgenommen, um einen umfassenden Entwurf für die Verbreiterung dieser wichtigen Wasserstraße auf seine Durchführbarkeit zu prüfen. Die Kosten dieses Entwurfs dürften sich auf rund 200 Mill. Mk. belaufen. Es scheint, daß die Regierung gewillt ist, dem Reichstage Vorschläge in diesem Sinne zu unter breiten. *Die w ürttemb er g is ch e Abgeord netenkammer hat das neue Landtags wahlgesetz in der Schlußabstimmung mit 71 Stimmen gegen eine Stimme bei einer Stimmenthaltung angenommen. Osterreich-Ungarn. *Der Budgetausschuß der öster reichischen Abgeordneten bewilligte nach kurzer Debatte die Marineforderungen. Marinekommandant Graf Montecuccoli hob hervor, daß der russisch-japanische Krieg die große Wichtigkeit einer starken, schlacht bereiten Flotte dargetan habe; die Hauptlehre sei, daß im Seekriege Schlachtschiffe von großer Schnelligkeit und guter Bestückung die entscheidende Rolle spielen. Was die für die österreichisch-ungarische Marine erforderlichen Schiffstypen betreffe, so genügten Schiffe von wenigstens 14 000 Tonnen, weil die Ver wendung der Schiffe sich auf das Mittelländische Meer beschränke. Frankreich. * Der Deputierte Lemire brachte in der Kammer einen/Gesetzentwurf ein betr. Auf nahme einer Anleihe von 500 Millionen Frank, Welchs dazu dienen soll, allen be dürftigen Familien, welche keinerlei Besitz haben, ein Stückchen Land zu geben. Der Deputierte Coutant brachte einen Gesetz entwurf ein, durch den den Arbeitgebern unter sagt werden soll, ausländischen Arbeitern einen niedrigeren Lohn zu geben, als den ein heimischen. *Mit der Drehfu s- Ang elegenh eit beschäftigte sich der 'Pariser Kassationshof in geheimer Sitzung. Generalstaatsanwalt Baudouin und Dreyfus' Verteidiger Mönärd wohnten der Sitzung hei. Dieselbe war der Prüfung des von dem Major Darges im Auftrage des Kriegsministers vorgelegten geheimen militärischen Schriftstückes gewidmet. .Von dem Gange der Verhandlungen drang nichts an die Öffentlichkeit. * Der sozialistische Gemeinderat von Toulon hat einen Beschluße gefaßt, daß der erste Mai als 'Feiertag erklärt werde, und hat die Abgeordneten des Departements Var aufgefordert, einen diesbezüglichen Gesetz entwurf in der Kammer einzubringen. England. *Jm Unterhaus wurde der Staats sekretär des Auswärtigen SirEdwardGrey befragt, ob seine Aufmerksamkeit auf den von König Leopold an das Sekretariat des Komitees für die Reform der Kongoverwaltung gerichtete Schreiben gelenkt worden sei, in dem derKönig der Belgier erklärte, keine Macht habe das Recht zu einer Intervention im Kongo st aat, und seine Rechte auf den Kongo seien persön liche und unteilbare. Der Staatssekretär er widerte hierauf, er sei nicht sicher, was mit „persönlichen und unteilbaren Rechten" gemeint sei. England habe die Unabhängigkeit des Kongos anerkannt und die Rechte der Inter vention, die England habe, seien die, darauf zu achten, daß die vertraglichen Verpflichtungen inne gehalten werden. Diese könnten durch nachträg liche Erklärungen von dem Souverän des Kongos nicht beeinflußt werden, und das Schreiben König Leopolds könne sie nicht ändern. Schweiz. * Der Bundesrat ist mit der in Bern eingetroffenen Antwort Frankreichs auf die letzten schweizerischen Vorschläge für den Handels vertrag nicht zufrieden. Er wird in den nächsten Tagen darüber Beschluß fassen. Norwegen. * Die Tagung des S to rth in g s wurde durch eine vom Ministerpräsidenten Michelsen verlesene königliche Botschaft geschlossen. Spanien. * Die spanische Königsfamilie wird Anfang Juli nach Schloß Miramar kommen. Für August plant der König eine Kreuzerfahrt an Bord der Jacht „Giralda", auf der er englische, belgische, holländische und dänische Häfen besuchen will. Rußland. * Im Lande des Zaren ist es nun schon so weit gekommen, daß ganze Kas aken-R e gi- meuter sich mit Bittgesuchen an die Volksvertretung wenden, um die Milde rung ihrer dienstlichen Verpflichtungen zu er reichen. Die Polizeitruppen, die jetzt ununter brochen 2^2 Jahre im Dienst sind, wünschen heimzukehren zu Frau und Kind. Alle ihre Vorstellungen bei den Vorgesetzten und zu ständigen Behörden blieben bis jetzt ohne jeden Erfolg. * In Petersburg ist das Gerücht verbreitet, daß die russische Regierung mit Deutschland und Österreich über ein gemeinschaftliches Vorgehen im Falle eines Auf standes in den westlichen Provinzen verhandle und daß der Besuch des Großfürsten Wladimir in Berlin mit diesen Verhandlungen zusammen hänge. *Die Unruhen in Bialhstok haben nachgelassen, nachdem über die Stadt der Belagerungszustand verhängt worden ist. Es scheint, daß die Behörden mit der Ver hängung des Kriegszustandes die Zügel wieder straffer angezogen haben; auch dürfte schon die bloße Anwesenheit der von der Duma zur Untersuchung des Judengemetzels an Ort und Stelle entsandten Kommission eine wohltätige Wirkung ausüben. Balkanstaaten. * Nachdem in der Welt auf kurze Zeit die Ruhe eingekehrt war, macht sich wieder auf dem Balkan eine ernste Bewegung bemerkbar. Zwar sind die bulgarischen Banden aufgerieben, aber ihre Macht ist in die Hände von Griechen übergegangen. Griechische Banden durchziehen Macedo uien mordend und plündernd. Infolgedessen ist es zwischen Griechenland und Rumänien nun zu einem rechten Konflikt gekommen, der den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur Folge gehabt hat. — Die rumänische Regierung klagt Griechenland an, durch Duldung des Unwesens der in Mazedonien wütenden Banden den Abbruch der diplomatischen Beziehungen verschuldet zu haben. * In der Gegend von Khinis haben angeb lich blutige Kämpfe zwischen Ku rden und Armeniern stattgefunden. * Die politischen Verhältnisse in Serbien werden sich angeblich in kurzer Zeit derart ge stalten, daß es dem König von Serbien mög lich sein werde, eine Reise ins Ausland an zutreten. Der serbische König werde hierbei mehreren Monarchen, zunächst dem Kaiser Franz Joseph, Besuch abstatten. Amerika. * Ein dem Präsidenten Roosevelt ge nehmes Fleischbeschaugesetz wird im Kongreß zur Annahme vorgelegt werden. Ein Mitglied des Landwirtschastskomitees prüfte mit dem Präsidenten Roosevelt die Komitee vorlage Zeile für Zeile und notierte dessen An wendungen. Nur drei wesentliche Punkte wurden gefunden, auf deren Änderung Roosevelt besteht. Diese werden entsprechend geändert, um den Fleischskandal endlich verstummen zu lassen. Das neue russische Gteuerprogramm, das dürch den Ministerrat seine Billigung er halten hat, sieht die Schaffung neuer lÄnnahme- quellen zur Bezahlung der Zinsen und zur Amortisierung der aufgenommenen Anleihen vor, ferner zur Deckung der entstandenen Verluste, die den Staat durch Zahlungseinstellungen be ttoffen haben, und zum Ankauf von Landbesitz für die Bauern. Von diesen Ausgaben werden jedoch noch 35 Millionen Rubel ungedeckt bleiben. Am 14. Januar 1907 wird das Finanz ministerium damit beginnen, der Entscheidung der Duma Gesetzentwürfe zu unterbreiten be treffend eine Einkommensteuer und eine Erhöhung der Tabaksteuer. Von diesen soll die erstere 25—40 Millionen Rubel ergeben, während die letztere 11—12 Millionen Rubel bringen soll. Die Erhöhung der Grundsteuer wird infolge des Steigens des gegenwärtigen Preises für Land besitz 30 433 000 Rubel ergeben,' was gegenüber dem gegenwärügen Steuererttägnis ein Plus von 17 069 000 Rubel bedeutet. Die Erhöhung bis auf 6 Prozent der Einkommensteuer für Ein kommen aus städtischen Immobilien wird ein Erträguis von 1 bis 2 Millionen Rubel bringen. Auch die Jndustriesteuer soll von neuem geprüft und ein Gesetzentwurf zur Einführung einer Kapitalsteuer ausgearbeitet werden. Die Prüfung eines Gesetzentwurfs zur Einführung einer Erb schaftssteuer wurde einer scharfen Kritik unter zogen, da man dagegen einwandte, daß der artige Steuern wenig geeignet zur Einführung seien. Das Finanzministerium schlägt auch die Erhebung einer Abgabe auf Elektrizität und Leuchtgas vor, eine Steuer, die allein in Peters burg 3 bis 4 Millionen Rubel als Erträgnis bringen dürste, und die dadurch gerechtfertigt erscheint, daß bereits eine Abgabe auf Petroleum, dem Hauptbeleuchtungsmittel der ärmeren Be-. völkerung, besteht. Die Einführung einer Steuer auf Zucker wird als sehr ungelegen bezeichnet. Das Finanzministerium ist der Ansicht, daß eine allgemeine umfassende Steuerreform notwendig ist, durch die die direkte Besteuerung auf gleicher Basis geregelt wird, und durch die dabei auch eine stufenweise Verminderung der Steuerlast für dir ärmeren Bevölkerungsklassen erzielt wird. Von unä fern. Der Prozeß des früheren Polizei- kommiffars Stephany wird noch ein Nach spiel erfahren, da der Metzer Polizei-Bureau- vorsteher a. D. Kanzleirat Mensch Strafantrag wegen verschiedener schwerer Beleidigungen gestellt hat. Dem Anträge sei vom Gericht bereits Folge gegeben worden. Es handle sich' hierbei um andre Beleidigungen als die in der Broschüre enthaltenen. — Stephany, der zur Zeit im dortigen Gefängnis seine Strafe verbüßt, wird am 3. Juli in Freiheit gesetzt. Er beab sichtigt sodann, sich nach Frankreich zu begeben und dort eine neue Broschüre erscheinen zu lassen. Ei« gefährlicher Messerheld wurde in Hannover verhaftet. In der Zett von 12 bis 1 Uhr nachts wurden > im Norden der Stadt vier Personen in verschiedenen Straßen von einem jungen, etwa 20 Jahre alten Mann durch Messerstiche schwer verletzt. Ein 67 Jahre alter Invalide, den der Verbrecher nach einer Straße ftagte, erhielt einen Messerstich in den Bauch, ein Beamter, der in einer Haustür stand, einen solchen in die Brust, ein junges Mädchen einen Stich in den Arm und ein Student zwei in den rechten Arm. Der Täter zielte mit seinem Werk zeug stets nach der Brust oder dem Bauch seiner Opfer. Die Stiche in die Arme kamen dadurch, daß die Betreffenden sie mit den Armen parieren wollten. Der Student hatte Geistesgegenwart genug, sofort die Verfolgung des Verbrechers aufzunehmen und es gelang ihm mit Hilfe eines Beamten des Wach- und Schließinstituts und eines Schutzmanns, den Messerhelden zu fassen. Es ist der aus Braunschweig zugereiste Schlosser Koch. Nach dem Grunde für seine Tat befragt, antwortete er mit rohem Lächeln: „Ich muß Blut sehen!" Aus dem Kirchturm gestürzt ist in Bocholt i. W. ein mit Läuten beschäftigter älterer Mann. Der Glöckner fiel auf das Steinpflaster des Kircheninnern auf einen Knaben. Der alte Mann war alsbald eine Leiche, der Knabe wurde lebensgefährlich verletzt. Ein eigentümlicher Eisenbahnunfall wird auS Oberlahnstein gemeldet. Dort wurde infolge Entgleisung eines Wagens am Ablauf berge bei Bahnhof Oberlahnstein die eiserne Mittelstütze einer etwa 25 Meter langen Sttaßenüberführung herausgerissen, wodurch d« eiserne Überbau in ganzer Länge abgestürzt ist und beide Hauptgleise und drei Nebengleise ge sperrt sind. Personen sind nicht verletzt. Im Hafen ertrunken. Beim Einlaufen des Panzers „Brandenburg" in die Kieler Föhrde fiel der Mattose Pietsch über Bord und ertrank. Erschossen. Der Schreibermaat Kühling von der 2. Werftdivision in Wilhelmshaven wurde im Forst bei Upjever erschossen aufge funden. Eine Zugentgleisung ereignete sich zwischen Trzonken und Kessel (Westpreußen). Der von Johannisburg nach Arys abgehende Personen zug stürzte die Böschung hinunter. Der Loko motivführer und die Heizer wurden verbrüht und tödlich verletzt in das Krankenhaus von Johannes burg gebracht. Außerdem erlitten mehrere Passa giere leichte Verletzungen. Von der Straßenbahn überfahren. Die Witwe Opielka und ihr vierjähriges Kind wurden beim überschreiten des Gleises bei dem Borfigwerk in Kattowitz von der Straßenbahn überfahren und. getötet. ÄOttOVO Mark unterschlagen. Beim Vorschußverein in Eigeltingen am Bodensee wurden Unterschlagungen in der Höhe vou 200 000 Mark entdeckt. Automobilnnglück. Ein Automobil zer trümmerte den Wohnwagen eines fahrende« Geschirrhändlers in Bruck (Österreich), der mit fünf Kindern schwer verletzt unter den Trümmern liegen blieb. Vom elektrischen Strom getötet. Der deutsche Direktor des Elektrizitäts-Werkes von Tosciano bei Salerno, Heinrich Brüstlein, wurde bei der Untersuchung eines Zählers vom elek trischen Strom getroffen, der ihn sofort tötete. Schadenersatzansprüche eines durch- gefallenen Deputierten. Der bei den letzte« Wahlen durchgefallene frühere Deputierte Lau- rencon strengte gegen einen Pariser Automobil fabrikanten einen seltsamen Prozeß an. Laurenco« behauptet, daß das ihm gelieferte Automobil nicht brauchbar gewesen sei. Er sei deshalb sehr oft in Verlegenheit gekommen, so daß er häufig genötigt war, Ochsen und Maultiere vorzu spannen, ja sogar mit seinen Anhängern das Automobil von hinten zu schieben, während sei« Gegner mit einem tadellosen Automobil höhnisch vorbeifuhr. Er sei deshalb bei den bäuerlichen Wählern des im Departement Hautes - Alpes gelegenen Wahlbezirkes zu einem Gegenstand« unaufhörlichen Spottes geworden. Dies sei die einzige Ursache seiner Wahlniederlage geweses- Er beanspruche daher von dem Auwmobil fabrikanten einen Schadenersatz in Höhe voll 10 000 Frank. K Oie Alsge äer Gerechtigkeit. 81s Roman von Maximilian Brytt. (Fortsetzung.; Fassungslos hatten sich die Zeugen schon nach Vorlesung der ersten Sätze angesehen. Schreck, Entsetzen malten sich in den Zügen Stephanies, die sich von dem Stuhl, auf dem sie sich hatte niederlassen dürfen, zitternd erhob und mit angstvoll aufgerifsenen Augen dem Vorleser auf die Lippen starrte, während sie ungeduldig die bebende Hand nach dem inhalt schweren Blatt auSstreckte, als müsse sie sich erst mit eigenem Blick von dem Ungeheuer lichen überzeugen, das darauf geschrieben stand. Eckenbrecher hatte sich stöhnend dem Unter suchungsrichter zugewandt. „Aber das wäre ja eine ganz furchtbare Lösung I" sagte er. „Diese Kühle, diese Ruhe des Tons — woher nimmt sie ein Mensch nach solch einer Tat, wenn er nicht schon ein ganz abgefeimter Ver brecher ist?" Tante Gusti war von Haushofer nur durch ernstmahnende Blicke zurückgeyalten worden, schon während der Vorlesung ihrem Entsetzen und ihrer Empörung Luft zu machen. Jetzt brach sie in die Worte auS: „DaS soll ein Brief meines Neffen sein? Das soll Benjamin geschrieben haben? . . . Eine schmähliche Mystifikation liegt hier vor, nichts andres!" Der Untersuchungsrichter nickte gedanken voll. „Sie gebrauchen ja das Wort, das ich selbst anzuwenden mich veranlaßt sah. Aber trotz alledem ist daran nicht zu zweifeln, daß das Schreiben tatsächlich die Schriftzüge Ihres Neffen trägt." Die alte Dame preßte die Stirn in ihre Hände. Einräumen mußte fie dem Unter suchungsrichter ja immerhin, daß auch fie heute morgen, als fie den Brief in den Fingern des Briefträgers gesehen, des festen Glaubens gewesen sei, Benjamins Handschrift auf der Adresse vor sich zu haben. „Und Sie werden nach Einsichtnahme in die Schrift des Briefes erst recht keinen Zweifel daran mehr äußern!" sagte Haushofer. DaS Schriftstück wurde der alten Dame hin gehalten. Sie musterte es in wachsender Er regung. Zornig rief fie schließlich: „Aber der Inhalt stimmt nicht! Das kann mein Neffe nicht geschrieben haben!" „Und was haben Sie für Gründe anzu geben ?" Tante Gusti atmete immer hastiger. Sie antwortete nicht direkt auf dis Frage. „Wo war der Ingenieur Struck, als dieser Brief ge schrieben wurde?" hielt fie dem Richter auf geregt entgegen. „Tante Gusti!" schrie Stephanie ver- zwerflungsvoll auf. „Es wird mir schwer genug," ließ sich die alte Dame in ihrem dünnen, weinerlichen Tone vernehmen, „meine Meinung offen auszu sprechen, weil ich weiß, daß ich meiner Nichte damit wehe tue. Aber nun heißt es alle Rück sicht beiseite lassen. Hätte meine Nichte nicht fortwährend noch versucht, den eigentlichen Täter in Schutz zu nehmen, nie würde fie selbst in diese grausame Lage geraten sein, in der fie sich nun befindet. Aber wenn fie sich nicht retten will, so muß ich fie retten." „Sie steigern unsre Spannung, Fräulein von Reck," drängte Haushofer. „Seien Sie kurz: wie erklären Sie sich den Brief?" „Ich bin nach wie vor der Überzeugung, daß kein andrer als Arnold Struck die Untat begangen hat. Er haßte seinen Nebenbuhler, Benjamin haßte seinen Schwager aber nicht. Im Gegenteil: man konnte sich kein rührenderes Verhältnis denken, als jenes zwischen den beiden Schwägern war. Benjamin liebte den Gatten seiner Schwester ebenso aufrichtig, wie er Stephanie selbst liebte. Er hat ihn nicht ge tötet, er hatte auch gar keinen Grund zu solch einem Verbrechen. Und wenn er, sicher vor Verfolgung, weit von hier im Ausland, plötz lich sich selbst der Tat bezichtigt, dann ist nur anzunehmen: er ist von Struck gekauft!" Stephanie war vor der Tante zmückgswichen. Düster starrte fie nach ihr hin. „Ein Mann wie Arnold Struck braucht den Betrug eines Fremden nicht! Wenn er die Tat begangen hätte — er würde sich Ihnen, so wahr ein Gott im Himmel lebt, gestellt haben!" „Ihr blindes Vertrauen könnte uns rühren," ließ sich der Untersuchungsrichter vernehmen, „wenn es uns nicht anderseits mit Zorn über den Trotz erfüllen müßte, den Sie immer von neuem der Justiz eutgegenbringen. Mit Ihrer Tante bin ich allerdings der Ansicht, daß Ihr Bruder Benjamin weit entfernt davon gewesen ist, jenes Verbrechen begangen zu haben. Mit Ihnen bin ich der Meinung, daß auch Arnold Struck einen tätigen Anteil an dem Verbrechen nicht gehabt hat. Aber die Überzeugung mußt« sich mir aufdrängen, daß die beiden Männ«, die an Ihre Schuld glauben mußten, ja, höchst« wahrscheinlich darum wußten, sich im Ausland« zusammengefunden haben, um durch eine Selbst- bezichtigung, sicher vor Verfolgung und vor Strafe durch den Arm des irdischen Richters, Sie zu retten!" Fräulein von Reck hatte in steigender Er regung den Ausführungen des Untersuchungs richters gelauscht. „Mein Heiland — so fassen Sie die Sache auf, Herr Landrichter?! Aber ich beschwöre Sie: so meinte ich es doch nicht! Meine Nichte ist unschuldig - ohne Zweifel unschuldig. . . ." „Genug jetzt," wehrte Haushofer ab, „dar über werden die Geschworenen zu befinden haben. Meine Pflicht ist in dieser Angelegen heit getan." , Stephanies Hände hatten sich wie im Gebet zusammengefunden. „Gott wird mich enöien aus diesem Jammer. Die Wahrheit muß ans Tageslicht kommen. Ich verliere den Glauben an den Himmel nicht und auch nicht an die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Miner Richter!" ' . Der Untersuchungsrichter schloß dis Ver nehmung und entließ die Zmgen. Stephan e wurde von ihren B alestern wieder in die Mm« genommen, um zu der unten haltenden Momu gebracht zu werden. Dabei kam eS zu aufgeregten Szene; denn Fräulein von Re wollte sich von der Untersuchungsgefangeue durchaus nicht trennen.
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