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Ottendorfer Zeitung : 12.01.1906
- Erscheinungsdatum
- 1906-01-12
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Privatperson
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1811457398-190601128
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1811457398-19060112
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1811457398-19060112
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Ottendorfer Zeitung
-
Jahr
1906
-
Monat
1906-01
- Tag 1906-01-12
-
Monat
1906-01
-
Jahr
1906
- Titel
- Ottendorfer Zeitung : 12.01.1906
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AMnscke A.LMLiscbLLr. Dir Wirre« in Rußland. * Die Unterdrückung des Auf standes inK urland geht in ebenso grau samer Weise vor sich, wie sich die Rebellion selbst gezeigt hatte. Als die Arbeiter und Frauen, die in der Fabrik Prowodnik einge- schloffen waren, ihre Freilassung verlangten, um Nahmng eirnehmen zu können, erklärte der Wachkommandeur Oberst Mydel, fie sollten binnen fünf Minuten die Mörder nennen, sonst würde «r schießen lassen. Die Arbeiter weigerten sich, dieser Aufforderung nachznkommen. Meydel befahl nun, Kanonenschüsse in den Fabriksaal abzugeben. Das geschah, und über hundert Arbeiter wurden getötet. Nun brach eine furchtbare Panik aus, die Arbeiter suchten zu fliehen, wurden aber von den Soldaten mit Schüssen zurückgejagt. Wieder gab es viele Tote. Darauf wurden drei Mörder ausge- lieftrt. Jetzt ließ Oberst Meydel die Weiber, nachdem fie auf Waffen untersucht worden waren, ziehen. Die Männer lieferten später noch vierzig Delegierte aus, welche gesetzmäßig die Interessen der Arbeiter zu vertreten hatten, und wurden daraus gleichfalls steigelasssn. Die Delegierten blieben in Hast. Sie müssen bis Donnerstag früh 10 Uhr die Mörder nennen, sonst werden fie sämtlich gehängt. * Banden von mehreren hundert Köpfen (meist Esthen, aber auch viele Letten) durch ziehen jetzt sengend und plündernd ganz Ekh - land bis zur äußersten Westküste. Jeder Verkehr ist unterbrochen, die ausländische Post muß über Finnland und Schweden befördert werden. Telephon- und Telegraphenleitungen find zerstört. Auf die Eisenbabnzügs werden Attentate verübt, nur unter militärischer Be deckung kann hin und wieder ein Zug Ver kehren. Bei Laakt stürzte ein solcher Zug in den Fluß, da die Schienen ausgerissen waren. Auf den Rittergütern und Pastoraten wird alles niedergebrannt und verwüstet. Die Auf rührer mißhandeln Männer, Frauen und Kinder auf das entsetzlichste. Die Deutschen verbergen sich, falls fie noch beizeiten zu entkommen ver mögen, in den Wäldern, wo fie dem ganzen Grimm des harten nordischen Winters preisgegeben find, flüchten auch> auf Bauern schlitten und in Bausrnkleidern massenweise auf Umwegen nach Reval. Ncht wenige Gutsbesitzer und Geistliche werden gefangen zurückgehalten, um einem Volksgericht unter worfen zu werden. Deutsche Männer vom Selbstschutz ziehen im Geleit von Kosaken in Gruppen durch das Land, um Gefangene zu befreien, was ihnen auch in vielen Fällen ge lungen ist. * Über 17 Kreise, die zum sibirischen Militärbezirk gehören und welche die sibirische Bahn durschneidet, ist der Kriegs zustand verhängt worden. * Deutschland. * Für die Feier des Geburtstags des Kaisers ist in Berlin an militärischen Ver anstaltungen nur großer Paroleempsang in der Rnhmeshalle des Zeughauses in Au? ficht ge nommen. Die silberne Hochzeitsfeier des Kaiserpaares wird im engsten Familien kreise begangen werden und von keinerlei mili tärischem Gepränge begleitet sein. Dis Hoch zeit des Prmzen Eitel Friedrich mit der Herzogin Charlotte von Oldenburg dürfte vielleicht doch nicht am Tage der silbernen Hoch zeit des kaiserlichen Elternpaares stattfinden. Die Hochzeit wird, wie in Hofkreisen verlautet, wohl auf einen früheren Tag im Februar gelegt werden. * Der Prinz-Regent von Bayern hat einer großen Reihe von deutschen Kämpfern in Südwestafrika Ordensauszeichnungen verliehen. *Amerika, England und Frank reich entsenden für die Zeit der Marokko- konserenz Kriegsschiffe in die Mhe von Algeciras, und jetzt soll auch Deutsch land die Absicht haben, eine Kreuzer-Division «ach dem Mittelmeer zu schicken. *Jn den letzten Tagen haben im Reichs- sLatzmAt eingehende Besprechungen stattgefunden über das Maß der Zu g e st Snd ni s s e, die eventuell dem Reichstage bei den neuen Steuervorlagen gemacht werden könnten, ohne daß das zu erreichende finanzielle Er trägnis im wesentlichen gefährdet würde. Dabei ist auch die finanzielle Wirkung der von den verschiedenen Parteien oder Parteiorganen be fürworteten anderweiten Steuerwünsche fest- gestellt worden. Das gesamte Material wird der Steuerkommisfion des Reichstages unter breitet werden. *Zur Erweit erungdes Kaiser Wil helm-Kanals schreibt die,Kö!n. Ztg/, daß nicht nur eine Vergrößerung der Kanalschleusen, sondern auch eine Erweiterung der Ausweichen beschlossen sei; und einer Zeitungsmeldung, wonach eine Verbreiterung der ganzen Kanal sohle von 22 auf 40 und des Wasserspiegels von 67 auf 107 Meter beabsichtigt sei, wird nicht einfach widersprochen, sondern es wird nur bemerkt, an zuständiger Stelle sei über diese Einzelheiten des Erweiterungsbaues nichts be kannt und die Vorarbeiten seien noch nicht so weit vorgeschritten, daß sich Genaueres Mitteilen lasse. Zugegeben aber wird noch der Plan, die vorhandenen Kurven des Kanalweges zu beseitigen. Die oben angegebenen Ziffern find sicher zu hoch gegriffen. Aber im übriaen wäre es natürlich das beste, gleich ganze Arbeit zu machen. * Die preußischenOberpräsiden- ten traten in Berlin, wie in jedem Jahre, zu einer Konferenz zusammen. Freitag hat ein gemeinsames Diner stattgefunden und Lags darauf waren die Herren bei ihrem Chef, dem Minister des Jnnem von Bethmann-Hollweg, zur Tafel geladen; hier erschien auch der Kaiser, und wie in jedem Jahre hielt der Monarch eine Ansprache an die Oberpräst- denten. *Die Viehzählung vom 1. Dezember 1904 hat ergeben, daß von dem gesamten Vish- stand nur die Schweine dem Bevölkerungs zuwachs etwas überholt haben, daß aber alle andern Gattungen gegenüber der Bevölkerungs zunahme zurückgeblieben find. *JnDeutsch-Ostafrika wurden fünf „Zauberer", die im wesentlichen die Urheber des Aufstandes sind, öffentlich durch den Strang hingerichtet. Hoffentlich ist damit die Macht ihres „Zaubers" gebrochen. ÖKsrrLlch-AKMr«. * Der Kaiser ließ sich über die Vor fälle in Debreczin ausführlich berichten und war höchst entrüstet, als er erfuhr, zu welchen unerhörten Mitteln die Koalition ge griffen hat. Es ist unter den gegebenen Um ständen vollständig ausgeschlossen, daß die Krone sich mit der Koalition auch nur in Ver handlung einlassen wird. Der Monarch hat dem Kab-nett Fejervary die weitgehendsten Voll machten erteilt, damit ähnliche Fälle wie in Debreczin sich nicht wiederholen können. Zwei österreichische Armeekorps stehen zur Beihilfe der Regierung in Ungarn bereit. ArEkreich. * Durch den Ausfall der Senats- Wahlen am Sonntag wird die Zusammen setzung des Senats nicht wesentlich verändert. Spam««. *Der Zivilgouverneur der Provinz wird während der ganzen Dauer der Marokko- Konferenz seinen Wohnsitz in Algeciras nehmen. Die Polizei und die Z'vilgarde werden den Sicherheitsdienst übernehmen. Rahlaud. *Jn den russischen diplomatischen Kreisen wird lebhaft erörtert, daß eine Besserung in den deutsch-russischen Beziehungen, besonders in der letzten Zeit, zu beobachten ist. Allgemein ist ausgefallen, daß sich die dem neuen deutschen Botschafter v. Schön am Zarenhofs zuteil gewordene Ausnahme überaus herzlich gestaltete und ihm verschiedene Mf- merksaNksiten erwiesen wurden. Aus der nächsten Umgebung des Zireu wird eine solche Aufnahme des neuen demschen Botschafters da- s durch begründet, v. Schön sei dazu berufen, Rußland und Deutschland einander noch näher zu bringen und die aus der Zeit des Vor gängers, des Grafen v. Alvenslebsn, noch vor handenen Spuren einer deutsch-feindlichen Ge sinnung am Zarenhofe gänzlich zu beseitigen. Daß demnächst zwischen Petersburg und Berlin auch in militärischer Hinsicht freundschaftlichere Beziehungen gepflegt werden sollen, beweist der Umstand, daß die beider seitigen MWäragenturen erweitert und deren Leitung Militärs in höherem Range über tragen wird. Balkanstaate«. "Die Pforte sandte an ihre Botschafter im Auslande zwei Zirkulare, in denen unter Hin weis auf die in neuester Zeit erfolgte Bildung von Banden aus Bulgarien und Griechenland die Botschafter beauftragt werden, die Großmächte um Einleitung ent sprechender Schritte in Sofia und Athen zu ersuchen. Amerika. * Wie aus Washington gemeldet wird, machte das Acksrbaudepartement dem Kongreß eine Vorlage betreffend Vermehrung der Fleischbeschaubeamten. Es soll da durch eine Steigerung der Ausfuhr von Schweine fleisch möglich gemacht werden, weil dieses jetzt im Auslände infolge gestiegener Nachfrage hö here Preise erziele. "Der deutsch-amerikanische Na tiv n a! b u n d hat an sämtliche Mitglieder des Kongresses eine Petition gerichtet, die den Abschluß eines gerechten, den Geschäftsverkehr fördernden Gegenseitigieitsvertrages zwischen Deutschland und Amerika befürwortet. "Der bisherige Präsident von Santo Domingo, Morales, hat sich nach einer Nachricht aus Washington bereit erklärt, feinen Rücktritt auszusprechen, wenn er unbehelligt das Land verlassen dürfe. Die jetzige Regierung halte dem Vernehmen nach den Vorschlag für annehmbar. Afrika. * Im Kongostaat ist ein Aufstand der Neger ausgebrochen. Eine Mission ist zerstört worden und mehrere getaufte Neger wurden ermordet. d. Erschütternde Bilder von den Moskauer NraßenlSmpsen zeichnet der Korrespondent des .Daily Tele- graphst „Der blutige Bürgerkrieg. dessen Schauplatz Moskau mit seinen 180 000 Arbeitern ist, zeitigte erschütternde Zwischenfälle und er staunliche Kontraste. Taten des höchsten Helden muts wechseln mit solchen niedrigster Gesinnung, die schlimmsten menschlichen Leidenschaften find entfesselt, und vor allem herrscht eine Grausam keit, die ihresgleichen in der Geschichte kaum hat. Dramatisch klingt auch die Episode in der Sytin-Druckerei, die niederbrannte und in der eine Anzahl Rebellen in ihrem Fanatismus zu Grunde gegangen sein sollten. Mehrere Offi ziere, die an dem Sturm auf diese Druckerei teilnahmen, erzählten mir aber, daß die auf ständischen Drucker im Inneren des prächtigen Gebäudes Feuer anlegten, aus dem Fenster Bomben auf die Truppen warfen und dann in die anstoßende Gaffe entkamen, während die Frauen und Kinder der friedlichen Arbeiter und viele andre unbeteiligte Personen auf dem Grundstück einen schrecklichen Tod in den Flammen fanden . . . Gruben, die mit Draht verhaue« versehen find, und Hinterhalte gehören zu den Mitteln der Kriegsführung, die dis Revolutionäre in der Nacht anwenden. Sie entfalten dabei die höchste Geschicklichkeit; auf ein KommMdswort scheinen improvisierte Be festigungen aus dem Erdboden hervorzuschießen. So verriete« z. B. drei Reihen Barrikaden, die über 2 Kilometer lang und mit Draht ver bunden waren und dis am Montag errichtet wurde«, die erfahrene Hand eines militärischen Sachverständigen; das war aber nur ein Teil eines großen Systems von improvisierten Befesti gungen, die die Oistzisre in Erstaunen setzen ; die letzteren können nicht begreifen, woher dis Fanatiker ihre Energie, ihren Fleiß und ihre Beharr lichkeit nehmen. Jedesmal, wenn die Truppen Vordringen, werden sie unter ein wirksames Feuer genommen, das aus gedeckten Stellungen kommt; wenn fie gerade auf den Feind feuern, überschüttet fie von einer andern Seite aus Fenstern und Türen und von Dächern ei« tödlicher Kugelregen. Durch die furchtbaren Explosionen todbringender Bomben, die mitten unter fie geschleudert werden, werden zudem die Truppen demoralisiert. In derselben Art werden die Verstärkungen empfangen, höhnisches Beisallgeschrei begleitet jeden Erfolg dieses blutigen Werkes. Werden nach tapferen An strengungen und unter schweren Verlusten die Barrikaden gesäubert, so find auch die Revo lutionäre verschwunden, um an einer andern Stelle aufzutauchen und ihr erfolgreiches Manöver zu wiederholen. Die Aufständisches haben vielleicht übertrieben, als fie sich rühmten, Zehntausende würden aus andern Städten und Bezirken kommen und ihre Reihen verstärken; aber grundlos war ihre Behauptung nicht. Am Montag kam von der etwa 14 Kilometer ent fernten Station Perowo ein Zug mit 300 gut bewaffneten Revolutionären an, die sich sogleich an die Spitze von 3—4000 Arbeitslosen stellten und Revolver und Bomben unter sie verteilten. Die Männer des „Kampfkorps" besetzten dann die großen Güterschuppen des Bahnhofs und eröffneten das Feuer auf die Truppen. So entspann sich eine Schlacht, die durch Artillerie gegen Gewehrfeuer und Bomben entschieden wurde. Zum Schluß zählte man 70 Tote, und die Schuppen waren völlig zerstört . . ." Von unct fern. Dis Hamvurg-AmeriLa-Lmie hat mit der Anglo-American Nile Steamers and Hotels Company ein Abkommen geschlossen, wonach letztere Gesellschaft ihr Kapital vergrößert und zukünftig den Namen Hamburg und Anglo- Amerikanische Nil-Gesellschaft führen wird. Die auszugebenden Aktien werden von der Hamburg- Amerika-Linie übernommen. ES sollen eine Anzahl neuer, luxuriöser Touristendampfer sofort in Bau gegeben werden. Die Vertretung der Gesellschaft in Europa und Amerika ist der Hamburg-Amerika-Linie übertragen. Ei« Vereiu „Reiseresorm" besteht für Deutschland mit dem Sitz in Karlsruhe. Das Ziel des Vereins ist, seinen Mitgliedern dis Möglichkeit zu bieten, Reisen im Inland sowohl als auch im Ausland so angenehm und billig als möglich auszuführen, sowie durch geeignete Vorträge die Mitglieder auf die zu besuchenden Orte vorzubereiten und auf diese Weise den Genuß am Reisen zu erhöhen. Wie wir dem Programm des Vereins für das Jahr 1906 entnehmen, veranstaltet der Verein Ausflüge und Gesellschaftsreisen nach Nizza, Südsrankreich und der Riviera, sowie nach Nordafrika, ferner Studentenfahrten nach Grenoble zum Besuch der dortigen Universität. Auskunft über den Verein erteilt während der Wintermonate 1906 Monsieur le Secrötaire du Club „Reisereform" Nice. Der Gesundheitszustand der deutsche« Viehherde«, der während des ganzen Som mers ausgezeichnet gewesen ist, ist neuerdings wiederum durch Ausbruch der Maul» und Klauenseuche an zwei Stellen gefährde'. Im Kreise Prenzlau (Bez. Potsdam) und Roten berg (Bez. Marienwerder) find örtliche Seuchen herde entstanden, bei denen eine Einschleppung nicht nachweisbar ist. Auf Veranlassung des landwirtschaftlichen Ministeriums ist in beiden Fällen zur Verhütung der Ausbreitung der Seuche die Löfflersche Schutzimpfung ange wandt worden. Es darf nach den umfassenden Maßregeln zm Absperrung des Seuchenherdes angenommen werden, daß eine Ausbreitung der Krankheit verhindert wird. Selbstmord. In Gotha erschoß sich in der Nahe des Leichenverbrennungsgebäudes der Kaufmann Johannes Wolf aus Leipzig, ein Bmder des dortigen Fabrikdirektors gleichen Namens. In einem Brief an den Stadtrat wurde die Stelle bezeichnet, wo die Leiche zu finden sei, und die Feuerbestattung erbeten. O Der fall Mäelung. 1) Kriminalroman von Artur Roehl.^ Es war die alte Geschichte gewesen. Das Ende war von Anfang an von niemand vor ausgesehen worden, aber dann hatte sich die Sache immer mehr in die Länge gezogen, Sympathie, Gewohnheit und Pflichtgefühl traten hinzu, und nun saß Robert Madelung, wie man sagt, fest, und seine Freunde schlugen die Hände über den Kopf zusammen, weil fie, an die er sich gefesselt hatte, arm war, von Eltern flammte, die auf der großen sozialen Leiter der Menschheit ein paar Sprossen tiefer als seine standen, und fie ihre Lebensbildung aus keinem höheren Töchter-Institut bezogen hatte. Sie war allerdings ein rechtes Kind ans dem Volke, eine kunstlos erblühte, liebliche Blume des Feldes, die eS ihm aber mit dem Dust ihrer Naivität und der köstlichen Frische ihrer unverfälschten Schlichtheit angetan hatte. Sie war, als er ihr -um ersten Male im Leben begegnete, kaum über achtzehn Jahre gewesen. Er hatte fie eines Abends im Gewühl der Straßen kennen gelernt. Es war nicht mehr die allerfrüheste Stunde gewesen; aber die Schaufenster der Waren- Magazine erstrahlten noch in ihrem elektrischen Glanz und beleuchteten dem heimwärts eilenden Menschen den Weg. Robert Madelung schlen derte mit einer Zigarette im Munde sorglos durch die Abendlühle. Er war ein hübscher, *) Unberechtigter Nachdruck wird verfolgt. stattlicher junger Mann, Anfang der Dreißiger. Er hatte irgendwo in einem Restaurant, wo er Gesellschaft gefunden, sein Abendbrot einge nommen, und schien nun noch nicht ganz mit sich einig, ob er schon nach Hause gehen solle, als ihm plötzlich an der andern Seite des FahrdammeS eine junge, die Straße wie in Angst hinunter hastende Mädchengestalt auifisl, die mit drängenden Schritten von zwei nicht gerade Vertrauen erweckenden Männern, offen bar auf ihr Vergnügen und auf Eroberung ausgehenden Abenteuerjägern verfolgt ward. Robert blickte eine Weile neugierig über den Fahrdamm, als plötzlich das junge Mäd chen, wie einer der fie verfo lgenden Wichte sich erdreistete, fie am Arm festhalten zu wollen, einen lauten Hilferuf ausstieß. Im nächsten Augenblick stand er auf dem Trottoir drüben. Die Schlingel hatten sich, sowie fie ihn herbeieilen sahen, auS dem Staube gemacht, und sich in das Dunkel ge flüchtet. Robert stand vor dem jungen, ge ängstigten Mädchen allein, sich mtt dem Zynis mus des Großstädters fragend, ob es am Ende nicht eine recht überflüssige oder lächer liche Rolle war, die er übernommen, die Rolle eines Tugendwächters für eine so späte Paffantin auf der Straße. Ein einziger aus der Nähe auf fie geworfener Blrck belehrte ihn jedoch über die Unbegründetheit seiner Zweifel. Sie war blutjung und ihr artiges Kindergeficht särbie sich purpurn, wie fie zur Entschuldigung der Situation verlegen hervorstieß: „Seit einer halben Stunde verfolgen mich diese Menschen I" Robert Madelung machte nm die Bemer kung, daß eS allerdings für ein so junges Mädchen — ganz allein auf der Straße l — wohl auch etwas spät war. „Ja," gab fie zu. ES hatte heute in dem Geschäft, wo fie „geliefert", etwas lange ge dauert. Sie war Goldstickerin und arbeitete für eine große Fabrik der Friedrichstadt. Aber fie wm auch schon andere Male nicht früher nach Hause gegangen und es hatte fie keiner be lästigt. Damit verneigte fie sich leicht, wie um ihren Weg allein Wetter zu gehen. Indes nun wollte er fie nicht allein weiter gehen lassen. Er besorgte, die Schelme, die fie bedrängten, könnten, wenn sie wieder allein war, von neuem auftauchen. Sie nahm seine Begleitung an, fie wohnte zwar noch ein gutes Stück hinter dem Hafenplatz, aber der Gang wmd dem jungen Manne nicht lang. Er ließ sich erzählen, wer fie sei und erfuhr, daß ihre Mutter, bei der fie wohnte, eine Witwe war. Sie habe nur noch eine einzige Schwester, die in der Provinz die Stellung einer Gesellschafterin bei einer alten Dame inne habe. Es waren offenbar mme, brave, sich ehrlich durch das Leben schlagende Leute. Er zog, wie er fie bis an ihre Tür geführt, seinen Hut. „Ich bin neugierig, ob wir uns Wiedersehen werden," sagte er. „überlassen wir es dem Zufall," wm ihre Antwort und dann wm fie, nachdem fie fich rasch nochmals für seine Liebenswürdigkeit be dankt, hinter der Haustür verschwunden und er staud allein auf der Straße und kam fich recht wie ein Don Quixote vor, daß eine kleine nied liche Arbeiterin ihn bis in diese Vorstadtstraße gezogen und er fich für den weiten Weg von ihr noch nicht einmal einen Abschiedskuß als Lohn zu fordern gewagt. Er kam fich wirklich närrisch vor. Er war fonst gar nicht so sentimental. Im Gegenteil. Unter feinen Freunden galt er für einen Schwerenöter, der Frauen im Sturm er obern konnte. Von dieser Kleinen aber hatte er kaum ihren Namen erforscht. Sie hatte ihm auf sein Fragen ihren Namen genannt. Sie hieß: „Netta." i „Eigentlich Anna — Annette," hatte fie ge sagt. „Woraus fie aber alle, so lange ich denke» kann, Netta gemacht. Nicht wahr, ein täppischer Name?" „Reim reizend, ganz reizend," hatte er ge sagt, „und paffend auf Sie, Fräulein Netta, als wäre der Name eigens für Sie geschaffen." Aber dann hatte er nach ihrem Vater namen gm nicht erst weiter gefragt. Wozu auch? Sr sah fie nicht wieder, wenn er fie bis zu ihrer Tür gebracht. Er hatte fie vor den Zudringlichkeiten der Burschen, die fie unterwegs belästigen wollten, in Schutz ge nommen. Er hatte seine Pflicht getan, mit jedem weiteren Wort konnte er nur zeigen, daß er nicht besser wm, als ihre Bedränger gewesen. Indes das Schicksal, dem fie eine Wieder begegnung anheimgegeben, mußte es auf fie abgesehen haben. Berlin ist so groß, und wenn zwei Menschen einander fich nicht eigenS auf den Weg stellen, kann Jahr und Tag ins
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