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bevor ich dem Verlobter wurde, Und habe doppelte Rück« sicht von dir zu erwarten. Vergiß das nicht, Jane!" „Ich weiß ja", entgegnete sie traurig, „und glaube mir doch, ich nehme die allergrößte Rücksicht auf dich, indem ich so handle, wie ich es leider gezwungen bin zu tun." „Nein, ich kann dir nicht glauben", sagte er herbe; „oder ich müßte annehmen, daß deine Begriffe von Gerechtig keit und dergleichen etwas eigentümliche sind." „O, wie du grausam bist", murmelte sie schmerzlich. „Du würdest freilich nicht so sprechen, wenn du alles wüßtest." „Nun, dann sage mir alles! Es wäre wahrlich die einfachste Art, die Sache in Ordnung zu bringen." „Das denkst du dir so, aber es gibt Dinge, welche dem einen Menschen als ein unüberwindliches Hindernis erscheinen, dem andern unbedeutend vorkommen mögen. Es kann sein, daß unsere Meinungen hierin auch ver schieden wären, aber das würde an der meinen nichts ändern — außerdem sind noch viele andere Gründe da." Sie sprach nachdenklich und tiefbekümmert; plötzlich richtete sie sich auf und sagte entschlossen: „Doch was auch kommen möge, mein Vater muß zu allererst berücksichtigt werden!" „Bedroht ihn denn etwas, Jane?" fragte Herbert, der wirklich zu verzweifeln anfing. „Nein, weshalb wohl?" rief daS junge Mädchen er schrocken mit einer kleinen Beimischung von Trotz. „Du quälst mich so mit Fragen, Herbert, daß ich bald nicht mehr weiß, was ich spreche. Ich erkläre dir nun hiermit zum letztenmal, daß ich unser Verlöbnis als aufgehoben betrachte." „Und ich erkläre dir ebenfalls endgültig, daß ich nicht gesonnen bin, meine Rechte so ohne weiteres aufzugeben. Du hast vor drei Stunden meinen Antrag angenommen und mir gesagt, daß du meine Liebe erwiderst, und seit dem kann unmöglich etwas eingetreten sein, was deine Gefühle plötzlich zu ändern imstande wäre. — Natürlich sehe ich ein, daß der unerwartete Tod deiner alten Pflegerin dich erschreckt und bekümmert hat. Du kommst eben von einem Sterbebett — da gebe ich zu, daß die Welt und ihr Getriebe einen großen Teil ihrer An ziehungskraft verliert. — Es erscheint dem Menschen, der soeben dem Tod ins Auge geblickt hat, alles unendlich wertlos, nichtig und trivial — aber das geht vorüber, man lernt wieder mit andern Gefühlen um sich schauen, und auch du, mein armes Kind, wirst wieder froh und glücklich werden. Meine Liebe zu dir bleibt unverändert bestehen, weshalb willst du sie also anläßlich einer augen- bucklichen seelischen Verstimmung von dir weisen?" „Ich will deine treue Liebe nicht ganz von mir weisen, Herbert", sagte sie weich. „Es ist auch keine vorüber gehende seelische Verstimmung, unter der ich leide. Wollte Gott, es wäre so, aber leider ist es etwas, das seinen dunklen Schatten über mein ganzes zukünftiges Leben werfen wird, und ich kann ihm nicht entrinnen. Willst du nicht wieder mein treuer Bruder und Beschützer sein, wie ehedem, Herbert? — Einen solchen werde ich nur allzu nötig brauchen!" Sie seufzte schwer und sah bittend zu ihm auf. „Ich liebe dich nicht wie ein Bruder, Jane", murmelte er finster. „Jetzt vielleicht nicht; aber später, wenn du einsehen wirst, daß alles andere hoffnungslos ist." — „Das werde ich nie einsehen." „O ja, du wirst es mit der Zeit. Du hättest es doch auch müssen, wenn ich dich nicht geliebt hätte, Herbert." „Dann wohl; aber ein Mensch, der nie einen Blick in das Paradies geworfen hat, leidet nicht so, wenn es ihm verschlossen bleibt, als der, welcher bereits die Schwelle überschritten hatte und all die berauschende Schönheit mit seinen entzückten Sinnen wahrgenommen hat." „Das ist wahr, Herbert; doch du bist ein Mann mit starkem, edlem Herzen. Du wirst nicht unter einem solchen Kummer zusammenbrechen, wie ein elender Schwächling. Sei mutig und stolz, wie ich es zu sein mich bemühen will, und dann wird vielleicht in einigen Jahren eine andere den Platz einnehmen, für den ich mein Herzblut geopfert hätte. Und nun laß uns scheiden." Das Eintreten einiger Herren gab Lady Jane voll- tommenen Grund, Herbert zu verlassen und in den BaU- saal zurückzukehren. In verzweifelter Stimmung folgte ihr der junge Mann bald; er beobachtete unablässig jede ihrer Be wegungen, ihr Miuenspiel — konnte aber nichts entdecken, das ihm einen Anhaltspunkt für ihre unbegreifliche Handlungsweise hätte geben können. Obgleich ihr Antlitz auffallend blaß war und in den Augen noch immer jener seltsame, sinnende Ausdruck lag, bewahrte sie doch während der noch folgenden drei Stunden eine bewundernswerte Haltung. Niemand ahnte, daß etwas Außergewöhnliches mit Jane vorgefallen war. Das tapfere Mädchen hielt geduldig aus, bis sich auch der letzte Gast verabschiedete — für jeden hatte sie ein Lächeln, ein freundliches Wort. Als alle gegangen waren, huschte ein Zug trostloser Verzweiflung über ihr Gesicht; sie schloß einen Moment wie in Ermüdung die Augen, ein schmerzhaftes Zucken verzog den schönen Mund. Herbert bemerkte diese plötzliche Veränderung, aber als er mit dem Herzog auf sie zutrat, umspielte schon wieder ein mattes, liebliches Lächeln die feinen Lippen, und zärtlich zu ihrem Vater blickend, sagte sie leise: „Gute Nacht" oder vielmehr „Guten Morgen", Papa. Ich fürchte, daß du sehr, sehr müde sein wirst." „Nicht im geringsten, mein Kind", erwiderte der Herzog in bester Laune. „Ich meinte eben zu Herbert, daß es gar nicht mehr lohnen wird, sich zu Bett zu legen. Habe ihm daher den Vorschlag gemacht, im Rauchzimmer ein Stündchen bei Brandy und Sodawasser zu ver plaudern. Dort ist noch ein ganz passables Feuer im Gange, und wollen wir beide es uns am Kamin so recht gemütlich machen, nicht wahr, Herbert?" „Ja, lieber Vater, wenn ich es dir nicht verbieten würde", sagte Jane in scherzhaft gebieterischem Ton. „Bedenke, daß du nicht mehr 25 Jahr alt bist." „Beim Zeus, nein", rief der Herzog lachend, „und ich fühle mich auch gar nicht danach." „Nun, warum aber willst du dich danach betragen? Drei Stunden Ruhe werden dir sicher besser sein als gar kein Schlaf." „Siehst du, Herbert, ick stehe unter höherer Autorität und habe zu gehorchen", seufzte der Herzog mit tragi komischer Miene. „Du Glücklicher bist dein eigener Herr und kannst tun, was dir beliebt." „Wenn es darauf ankäme, würde ich deine Stellung der meinigen vorziehen", meinte der junge Mann, Jane einen vorwurfsvollen Blick zuwerfend. „Nun, dann weißt du nicht, was du sprichst. Jane ist sehr energisch und hartnäckig." — „Ja, ich weiß es." „Und sie erlaubt mir nicht, das zu tun, was ich gern möchte." „Wenn es etwas ist, was dir zum Schaden sein würde. In anderer Beziehung bevormundet sie dich durchaus nicht." „Aber du närrischer Mensch, dich bevormundet sie eben in keiner Weise", rief der Herzog lachend. „Vielleicht tut sie schlimmeres als das", erwiderte Herbert mit tiefem Seufzer. Lady Jane sah ihn ernst und warnend an. Ihre Augen schienen sagen zu wollen, was ihre Lippen jetzt nicht aussprechen durften. Er verstand — der Herzog sollte vorläufig mit jeder aufregenden Nachricht verschont bleiben. Später natürlich mußte er es ja erfahren, daß sie Herbert zurückgewiesen hatte, aber sie hoffte es ihm so nach und nach beibringen zu können und ihn in dem Glauben zu lassen, daß sie ihren Vetter nicht genügend liebte, um seine Frau zu werden. Jetzt aber fühlte sie sich unfähig, irgendeine Erklärung zu geben: sie hatte heute fchon zu viel ertragen müsfen. Sie trieb ihren Vater an, sich zur Ruhe zu begeben: — auf keinen Fall wollte sie die beiden Männer beute noch allein lassen — sie traute Herbert nicht nnd fürchtete, daß er dem Herzog alles sagen würde. Als sie an dem jungen Mann vorüberkam, streckte sie ihre heiße, zuckende Hand aus und wünschte ihm leise gute Nacht; Herbert gab sich den Anschein, nichts zu sehen, und wandte sich zürnend ab. Mochte der Herzog schlafen — er, Herbert, konnte eS nicht. Er lieb sich Brandy und Soda in die Bibliothek bringen, und dort saß er, in tiefes Grübeln versunken, bis der Morgen graute. Als er sich erhob, sah er in der L s fahlen Morgendämmerung um Jahre gealtert aus. Trübe starrte er eine Weile durch die leicht beschlagenen Fenster scheiben in die öde, graue Ferne hinaus, seufzte einige Male tief und schwer auf und trat kopfschüttelnd in das Innere des Zimmers zurück. Er blieb sinnend vor dem Kamin stehen und beobachtete mechanisch das letzte schwache Aufflackern des ausgehenden FeuerS. Wie die kleinen matten Flämmchen immer wieder emporzuzüngeln versuchten und doch, nirgends Nahrung findend, endlich erstarken — in das Nichts versanken. Ein Frösteln überlief den einsamen Mann. Wie leer, wie öde erschien ihm beute sein Leben . Gestern noch so froh, so zuversichtlich — heute alles erstorben, alles vorbei —. Der dunkle Schatten, der sich, wie Jane meinte, plötzlich über ihr Dasein geworfen hatte — würde auch mit undurchdringlicher Finsternis seine ganze Zukunft einhüllen; und was sie da sagte von der andern — die i wen Platz einnehmen sollte — das würde nie, nie der Fall sein! Er fühlte es, ohne Jane gab es kein Leben für ihn — er war eine der wenigen Naturen, die nur einmal und ewig liebten. Plötzlich richtete Herbert sich energisch auf. Er wollte sich nicht länger diesen trübseligen Gedanken überlasten — nein, er war fest entschlossen, für sein Glück zu kämpfen. Er zog seinen Überzieher an, nahm Hut und Stock und ging hinaus. Die kühle Morgenluft tat seiner brennenden Stirn unendlich wohl, und er versuchte, klarer und besonnener über das so plötzlich Vorgefallene nachzudenken. Es war unmöglich, Janes unbegreiflichen Sinneswechsel nicht mit Mrs. Norwoods Tod in Zusammenhang zu bringen. Eins war dem andern auf dem Fuß gefolgt. Von einer ihm fast fremden, peinoollen Neugierde getrieben, richtete Herbert seine Schritte nach dem Häuschen der Ver storbenen. Er zögerte einen Moment vor dem niedrigen Zaun des kleinen Vorgärtcheus, welches die alte Frau so sorgsam in Ordnung gehalten hatte. Die bunten Herbst blumen neigten wehmütig ihre regenschweren Köpfchen, als ahnten sie, daß die sorglich pflegende Hand kalt und starr geworden —, daß sie welken und verdorren müßten, ohne daß sich noch einmal jenes liebe Gesicht über sie neigen, jene freundliche Stimme zu ihnen wie zu lebenden Wesen sprechen würde. Die Haustür stand halb offen; Herbert durchschritt den Garten und ging hinein. Ein kleines unverhülltes Fenster in der Küchentür gestattete ihm «inen Einblick in das Innere. (Fortsetzung folgt.) 6roMaät2igeuner. Plauderei von Ernst Seiffert. (Nachdruck verboten.) ' Man träumt bei dem Wort „Zigeuner' meist von nachtdunklen, rätselhaften Schwarzaugen, von heitzpulsendem Blut und lockenden Pußtaweissn. In dem Milieu der Unsteten liegt so viel Poesie, datz speziell ein Nordländer dabei Wahrheit und Dichtung gar nickt auseinander halten kann. Von dem einstigen, in so unendlich vielen Liedern besungenen Zigeunerleben ist in gewissem Sinne nur recht wenig übrig geblieben. Äerhältnismätzig klein ist die Zahl der Zigeunergesellschaften, die — getreu ihren alten Traditionen — stehlend und bettelnd durch die Länder ziehen, überall mit mißtrauischen Gesichtern empfangen und nach kurzer Rast zur Weiterfahrt ge zwungen. Jetzt hat sich die braune Gesellschaft meist in den äußeren Gegenden der Großstädte festgesetzt, und be sonders im Weichbilde Berlins sind sie zahlreich zu finden. Aber man muß sie doch suchen. Die grellfarbigen Kleider, die sie unserem Volksempfinden nach zu tragen verpflichtet sind, haben, der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe, meistens absolut nicht mehr ganz neuen Bekleidungen Platz machen müssen, von denen sich auch beim besten Willen nur schwerlich sagen läßt, daß sie nach Maß ge macht sein könnten. Geradezu entsetzlich schlampige Kleider steht man hauptsächlich bei den Weibern; die Männer tragen meistenteils die schon durch Generationen vererbten, unzerreißbaren, aber total verschmierten Samtanzüge. Im groben Ganzen ist das Völkchen recht bescheiden geworden. Es arbeitet sogar, d. h. betreibt einen ebenso umfangreichen wie raffinierten Pferdehandel. Natürlich in echter Zigeunerart, denn jedenfalls erbringen diese aus- gekochtey Roßtäuscher in Gestalt ihrer Kunden den lebendigen Beweis für das Sprichwort, das da be hauptet, daß eine gewisse Menschensorte nie alle wird. Wie können sie aber auch einem eventuellen Käufer zusetzen! Und ist das Opfer ihres Geschäftsgeistes trotz drei brüllender, ungewaschener Mäuler noch nicht zum Ankauf zu bewegen gewesen, so tauscht man das alte Pferd gegen ein neues ein, holt das nach acht Tagen wieder ab, stellt noch ein anderes dafür hin usw., bis der elendeste Klepper, der — mit frischem Gras gefüttert — erst schön rund aussieht, um nach acht Tagen zum Skelett zusammen zuhauchen, glücklich endgültig losgeschlagen ist. Ja, die Zigeuner der Großstadt sammeln die Schätze, die die Motten oder der Rost fressen sollen! Natürlich sieht man ihnen den wachsenden Reichtum nicht an, sie laufen so lange in den gleichen, ungewaschenen Sachen herum, bis diese überhaupt nicht mehr zusammen zuhalten find, aber doch haben diese eigenartigen Kinder des Südens Tage, an denen sie nicht mit verächtlich mit leidigen Blicken über die Achsel angesehen werden. Tage, an denen sie die Angestaunten, der Mittelpunkt des Interesses der gaffenden Bevölkerung sind. Zu diesen Ausnahmefällen find in erster Linie die Zigeunerbochzeiten zu nennen, die nach altem Brauch in geradezu endloser Weise gefeiert werden. Ist es nun gar die Hochzeit eines Primas — wie die des jungen Petermann mit einer auffallend schönen Zigeunerin, Stammbaum Müllerstraße, die vor nicht allzu langer Zeit stattfand — so kann die Feierei natürlich gar nicht Geld genug kosten. Dann will der Zigeuner einmal den großen, vornehmen Herrn spielen; und wohl dem Gastwirt, der einer Zigeunerhochzeit auf einige Tage seine Räume öffnen kann, er verdient Tausende! Bei der oben erwähnten Hochzeit legte z. B. der Vater des Bräutigams 5000 Mark als „Anzahlung" vor die entzückten Augen des Wirtes auf den Tisch des Hauses. — Trotzdem wll der Wirt nicht zu bewegen gewesen sein, seine silbernen Löffel zur freundlichen Benutzung zur Verfügung zu stellen, denn — Zigeuner bleibt Zigeuner. Das niußten die eifrigen Photographen und Journalisten auch erfahren, die ob ihrer berufsmäßigen Neugier mit wahrer Virtuosität geneppt wurden. Diese verschiedenen, etwas seltsamen Gepflogenheiten sind den Zigeunern nun einmal eigentümlich. Sie nehmen, was und wo sie kriegen können, das ist ihr gutes Recht, ihre Tradition! — Und — so bizarr es klingt — trotzdem haben sie einen Rassenstolz, der sicher schon durch das zähe Festhalten ihrer Gebräuche dokumentiert. Wer daran nicht glaubt, soll einmal versuchen, einem Zigeunermädel den Hof zu machen (es kostet in manchen Fallen nur eine sehr bedingte Überwindung), er kann aber versichert sein, daß er nicht nur von „ihr" eine gründliche Abfuhr kriegt, sondern auch mit „ihm" in höchst unliebsame Berührung kommen kann. Es liegt ein gutes Stück Hochmut in dieser Inzucht der Zigeuner, die sich keineswegs als die Geduldeten fühlen. Dieser Zug ist auch bei dem kleinen Zigeuner bengel zu finden, der in den Zigarrenladen kommt, für ein echtes! Zweipfennigstück zwei Zigaretten fordert und auf den nicht mißzuverstehenden Wink nach der Tür nur einen Blick maßloser Verachtung hat. — Warum auch nicht? — An der anderen Ecke ist ja noch ein Laden, und schließlich hat er sie doch, die heißgeliebte Zigarette, ohne die ein Zigeuner vom 11. Jahre an gar nicht zu denken ist. Die alten Wagenwohnungen sind zum Teil auf gegeben, obwohl diese ungeschlachten fahrenden Häuser zum eisernen Bestandteil jeder Zigeunergesellschaft gehören. Sie stehen aber meist, in einen Winkel des rummeligen Hofes gerückt, öde und verlassen nnd träumen von einer Zeit, in der sie die Hauptobjekte ihrer Besitzer waren, deren ganzes Leben sich in ihnen abspielte, und sie Freud und Leid mit ihnen teilen konnten. Jetzt haben sie dieses Ehrenamt an alte baufällige Häuser abtreten müssen, die allerdings auch keine bleibende Stätte sind, aber bis zur nächsten Exmittierung immerhin nach Zigeunerbegrisieu recht komfortable Unterkunft bieten.