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war ja doch die Veranlassung, daß du dich mit mir ver lobt hast. . ." Herr von Gandersheim konnte den Blick dieser armen, gequälten Kinderaugen nicht aushalten. Und von der hatte er geglaubt, sie wolle ihn „ins Unrecht setzen?!" Er sank vor ihr auf die Knie, und dann nahm sie seinen Kopf in ihre Hände und küßte ihn langsam und zärtlich auf beide Augen, und ihre Tränen vermischten sich mit den seinen. Dann winkte sie ihm, er solle aufstehen und gehen. Und dann schritt ' er stolz und straff weiter: ein „Zmw t" gab es jetzt nicht mehr für ihn, er mußte vor wärts! l 16. Der neue Stil. „Wissen Sie", sagte Doktor Weinfeldt, als er diesmal mit Egon Fransecki in der geschlossenen Droschke, durch deren regennasse Scheiben das zitternde Licht der Laterne blinlte, ins „Lyrische Theater" fuhr: „Ich denke mir, wir werden heute eine Sensation erleben . . ." „Wieso meinen Sie? Hinsichtlich der Vorstellung?" „Las will ich nicht gerade sagen, aber jedenfalls hin sichtlich des neuen Hauses. Ich habe es halb fertig, im Rohbau sozusagen, gesehen, aber ich muß sagen, es hat mich geradezu frappiert ..." Er überlegte einen Augenblick und fuhr dann fort: „Reizend ist an sich schon, was man sich über die Ent- uehung des Gebäudes erzählt: Sie kennen doch Deimichel, nicht wahr? . . . Nur oberflächlich? Na, jedenfalls werden Sie schon von ihm gehört haben und werden wissen, daß er nicht gern sein eigenes Geld riskiert. Nun harte er sich aber kontraktlich verpflichtet, dem Baron von Gandersheim ein Theater ganz nach dessen Wünschen hinzuhauen. Vollständig eigener neuer Stil, selbst verständlich mit allem modernen Komfort und mit aller Pracht, die man sich nur wünschen konnte. Wie man das macht, ohne die dafür tatsächlich verausgabte Million aus der eigenen Tasche zu nehmen, das ist 'ne Preisfrage, die dieser Pfiffikus, der natürlich über die bellen Ver bindungen verfügt, in einer geradezu glänzenden Weise gelöst hat." „Und die Hindersin tritt wirklich nicht mehr auf?" fragte Egon Fransecki. „Nee, die hat das bessere Teil erwählt. Sie batte ja ihre Stimme verloren, wie Sie wissen, aber das dar stellerische Talent dieser reizenden Person wäre groß genug gewesen, um auch damit noch etwas zu machen; als Diseuie zum Beispiel würde sie der Hansi Tücher noch immer eine erhebliche Länge vorgeben." „Na, dann wird es wohl etwas dünn mit den Kräften aussehen", meinte der Reporter. „Ach, sie sollen ja sehr viel neue engagiert haben", erwiderte Weinfeldt und öffnete, da die Droschke eben hielt, den Schlag. Das Vestibül mit den bequem gebauten Garderoben wogte jetzt von Menschen. Und es war in der Tat die Elite des Theaterpublikums, die sich heute hier ein- gefnnden hatte, ein Toilettenluxus, eine folche Fülle von bebänderten Fracks und Uniformen, wie man sie sonst nur in großen Cercles oder in sehr noblen Privatgesellschaften findet. Und als jetzt der Baron von Gandersheim selbst, vielleicht aus einem kleinen Trick wohlüberlegter Koketterie oder aber, weil er wirklich notwendig etwas mit dem Kassierer zu besprechen hatte, durch den Vorraum schritt, da erhob sich ein allgemeines „Ah!" und man sah, daß der eigentümliche Zauber, mit dem dieser Mann das Publikum unterjochte, noch immer wirksam war. Aber diese Ausrufe des Erstaunens wiederholten sich in noch viel stärkerem Maße, als das Publikum jetzt in breitem Strome in das Theater hinsindrängte. Das war in der Tat etwas Neues! So sehr diese Herrschaften auch verwöhnt waren, etwas Derartiges an prunklosem, unaufdringlichem und dabei raffiniert ele gantem Luxus war ihnen noch nicht vorgekommen. Das war nicht das herkömmliche Theater mit den Unmassen von Goldstuck und allerhand törichtem Bildwerk an den Wänden, hier halte ein reicher und feiner Geist mit Mitteln, denen nichts zu kostbar erschien, ein absolut neuartiges und selbst dem verwöhntesten Auge wohlgefälliges Werk geschaffen. Viele mochten ja Lie Ornamente, mit denen die in sanften Farben gehaltenen Stoffe, Wände und Teppiche bedeckt oder durchwirkt waren, etwas bizarr finden, und dem kundigen Auge konnte auch der Einfluß der Japaner auf den hier am Werk gewesenen Künstler nicht entgehen; aber selbst die gewagteste der hier ver wandten Formen hatte nichts Geschmackloses, und die wunderbar milden Töne in olive, lila und fraise erzeugten eine Stimmung in dem viereckigen und sehr hohen Raume, die sich wie ein Gefühl kunstfroher Erwartung über alle Anwesenden ausbreitete. Dann spielte das Orchester eine schmetternde Ouver türe von Kapellmeister Stern, und der Vorhang ging aus einander. Die Spannung und das Erwartungsfieber waren zu hoch gestiegen, als daß sie durch die Gaben der leicht sinnigen und immer ein wenig gedankenlosen Muse dieses Theaters überhaupt noch hätten befriedigt werden können. Das mochte Herr von Gandersheim selber fühlen, als er jetzt, nachdem der äußere Vorhang hochgegangen, vor den zweiten, die Bühne noch verdeckenden Jnnenvorhang trat, und „seine lieben Gäste" um Nachsicht bat,Falls, wie das ja bei der ungeheuren Blühe und Anstrengung der letzten Zeit leicht möglich wäre, sich die eine oder andere Sache ihre Zufriedenheit nicht erwerben würde. Statt aller Antwort klatschte das Publikum, und der Baron dankte mit seinem Siegerlücheln, das seinen schwarzen starken Schnurrbart etwas hob und die weißen Zähne er glänzen ließ. Dann verschwand er. wieder hinter dem Vorhang, vor welchem die Bühne in breit elliptischer Form ins Parterre hineiuragse, und die kleine Wally Fehr trat in einer sehr reizenden, wenn auch ein wenig indifferenten Toilette, die mehr Ballkleid als Sezessionskostüm war, gleich ihrem Herrn und Meister hinter dem Theatervorhang heraus. Sie sang ein paar nette Liedchen, von denen besonders esi.es, „Das Mägdelein", dessen Text von einem sehr be kannten Maler-Dichter herrührte, von einer graziösen Pikanterie war, die die reizende Musik noch bedeutend hervorhob. Aber das Publikum horchte kaum nach ihr hin. Warum wurde denn der Vorhang nicht aufgezogen? Wo blieb denn das stimmungsvolle Interieur der Bühne, diese anmutige Vortäuschung des literarischen Salons, an die Herr von Gandersheim seine Freunde und Verehrer gewöhnt hatte? Und warum blieb es trotz der wohlig durchwärmten Luft und trotz der in fein abgestimmte Holländerinnenkostüme gesteckten hübschen Logenschließe rinnen, warum blieb es trotz alledem nur so kali im Tbeater? Waxen vielleicht die hochaufstrebenden, phan tastischen, Tropfsteinbildungen ähnlichen Säulenornamente daran schuld? Hinter der kleinen Wally Fehr halte der Kapellmeister Karl Blausand die Bühne betreten, der als dritter von den jetzt hier angestellten vier Kapellmeistern figurierte, und gleichzeitig mit seinem Erscheinen war etwas geschehen, wovon sich die Theaterleitung offenbar einen großen Erfolg versprochen hatte. Es stieg nämlich plötzlich aus der Versenkung ein großer Flügel herauf, der mit seinen schreiend bunten Holzintarsien wohl zuerst etwas Verblüffendes halte, in der Tat aber von hervorragender Geschmacklosigkeit war. Das Publikum konnte sich für diesen Effekt absolut nicht erwärmen. Viele fanden ihn sogar lächerlich und lachten, was wohl vermieden worden wäre, wenn sich statt dieses grell bunten Kastens ein einfacher schwarzer Ebenholzflügel präsentiert hätte. Zur nächsten Stummer öffnete sich dann endlich auch der Jnnenvorhang, und es kam nun eine Produktion, die, rein bildlich genommen, von überwältigender Schön heit war. Die Bühne war in meisterhafter Weise in einen Laubwald umgewandelt, der in den; Glanz des jungen Frühlings blühte und dessen unschuldiges Grün die Strahlen der Maisonne wärmte. Und inmitten dieser fröhlichen Pracht schritten drei entzüaende, junge Geschöpfe, sich umschlungen haltend, in ihren weiten, wallenden, halbdurchsichtigen Gewändern und sangen den „Maienreigen". Aus dem Orchester, klang ekne Musik herauf, so sanft Und wohltuend, wie der Wald sie mit seinem Rauschen hervorbringt, und als sich die drei lichten Gestalten singend entfernten, warf ihnen ein vereinzelter, aber starker Beifall seine Grüße nach. Die künstlerischen Elemente im Publikum hatten den Wert dieser Darbietung voll erfaßt, für die andern aber blieb es nur ein Bild, „recht hübsch, aber nicht auf regend", wie sich ein dicker Börsianer vernehmlich äußerte. .. . . Haben Sie übrigens gelesen, da steht doch auch ein Fräulein Emilie Lechner auf dem Programm, als Gitarresängerin... wer ist denn das?" Ein junger Mann, offenbar sehr erfreut, mit seinen Kenntnissen glänzen zu können, meinte rasch: „Die Emilie Lechner? ... O, da bin ich imstande. Ihnen ganz genaue Auskunft zu geben: Einer der Angestellten in unserem Geschäft (daß dieser Angestellte Hausdiener war, ver schwieg er weislich) ist nämlich nahe verwandt mit je mand, der hier am „Lyrischen Theater" tätig ist. (Daß diese Tätigkeit im Versetzen der Kulissen bestand, hielt er gleichfalls nicht für nötig, besonders zu betonen.) Und dadurch bin ich ziemlich informiert über die Verhältnisse dieser Bühne. . ." Der junge Mann machte eine kleine Kunstpause, dann fuhr er selbstgefällig lächelnd fort: „Dieses Fräulein Emilie Lechner ist die Braut des Herrn Barons . . . Sie werden sich ja noch des großen Aufsehens erinnern, das die Entlobung machte, die neulich in den Zeitungen stand ... Ich glaube, es war eine Amerikanerin, mit der er damals verlobt war, und die er sitzen ließ, weil sich herausstellte, daß sie sechs Zehen am linken Fuß hatte .. ." Das Fräulein nahm ihr Spitzentaschentuch und kicherte hinein. „Ja, sehen Sie", sagte der junge Mann, indem er sich seinen „Es ist erreicht" - Schnurrbart strich. „Diese Leute sind doch nun mal so: Heute verlobt, morgen entlobt, das ist ihnen alles egal. Darum hat ja auch der Adel so recht, wenn er nicht will, daß seine An gehörigen unter die sogenannten Künstler gehen . . . Der Baron von Gandersheim soll ja auch deshalb mit seiner ganzen Familie zerfallen sein ..." „Pst, pst!" machte ein alter Herr mit einer Riesen glatze hinter den beiden, und er wiederholte seine Mahnung, als das Pärchen nicht sofort schwieg, so energisch, daß der junge Mann sich sehr ungeniert nach ihm umblickte. Der goldfarbene Vorhang war eben wieder empor geflogen, und ein Diener hatte einen Tisch, der törichter weise mit einer sehr unschönen knallroten Decke behangen war, nebst einem Stuhl auf die Vorbühne getragen. Dann war Willibald Most, von dem man erzählte, daß er sich fünffache Sohlen machen ließ, um seiner kleinen Figur etwas in die Höhe zu helfen, hervor getreten und hatte eben begonnen, Satiren eines sich „Gaudeamus" nennenden pseudonymen Dichters vorzu- lejen. Das war die erste Nummer, die vollen Beifall fand. Nach ihm kam eine Sängerin, ein auffallend schönes Mädchen von schlanker, edler Figur, die einen wunder vollen Alt besaß. (Fortsetzung folgt.) ^wang-lu. Ein Märtyrer auf Chinas Kaiserthron. (Nachdruck verboten.) Unter der Spitzmarke: „Das Martyrium eines kaiser lichen Reformators" veröffentlichte vor kurzem der in Peking lebende italienische Schriftsteller und Diplomat Salvatore Besso einen bemerkenswerten Artikel, in welchem Kwang-sü, der verstorbene Kaiser von China, den man in Europa für einen Trottel gehalten hatte, als ein wahres Genie gepriesen wird. „Jetzt", wo so viel von chinesischen Reformen und von einer chinesischen Verfassung die Rede ist", schreibt er. „dünkt es mich interessant, an die merkwürdige Persönlich keit des verstorbenen Kaisers Kwang-sü zu erinnern, eines Herrschers, der infolge seines fieberhaften Interesses für alles Neue ein wahres Martyrium zu erdulden hatte, bis er von seiner Tante, der Kaiserin-Regentin Tsu-Hsian, so gezüchtigt wurde, daß er nicht mehr zu mucksen wagte. Als Mensch betrachtet, war Kwang-sü einer der fesselndsten Charaktere der chinesischen Geschichte. Er hatte alle Launen des Genies samt der Schwäche und der Kraft, die es zu begleiten pflegen. Er konnte mit der Energie eines Cäsar die Feder führen, konnte seine einflußreichsten Vizekönige einschüchtern und Reformen einführen, die so großartig waren, daß das chinesische Volk nicht einmal im Traume an derlei zu denken gewagt hatte: und dieser selbe Mann duckte sich vor einem Unterrock, wie wenn er sich von dem Teufel in eigener Person bedroht gefühlt hätte. Während ihn die einen als Genie feierten, bezeichneten ihn die andern geradezu als einen Schwachkopf und einen Tölpel. Nehmen wir an, daß er kein Aar gewesen ist. Betrachten wir ihn als einen Narren und suchen wir dann zu er klären, wie es möglich war, daß ein Narr alle wunder baren und nützlichen Entdeckungen und Erfindungen der letzten zwanzig und dreißig Jahre auch in China ein zuführen versuchte, daß ein Schwachkopf sich alle wertvollen Bücher anschaffte, die während seiner Regierungszeit in chinesischer Sprache — zumeist als Übersetzungen aus europäischen Sprachen — veröffentlicht wurden, daß ein Tropf alle diese Bücher auch studierte, und zwar ohne jede fremde Hilfe. Ich zweifle sehr, ob irgendein chinesischer Monarch auf die Geister der Jugend des Reiches einen größeren Einfluß gehabt hat, als ihn Kwang-sü in der Zeit von 1895 bis 1898 ausübte. Eines Tages kam zu mir ein junger chinesischer „Reformist", um sich eine Liste der besten englischen und amerikanischen Zeitungen geben zu lassen. Ich fragte ihn verwundert, zu welchem Zwecke er diese Liste brauchte, wgrauf er sagte: „Die jungen chinesischen Reformisten haben hier in der Hauptstadt einen Klub gegründet. Einige von ihnen lesen und sprechen englisch, andere französisch, noch andere deutsch; einige verstehen sogar russisch; deshalb müssen wir uns die wichtigsten Blätter der verschiedenen Länder zu verschaffen suchen; schließlich werden wir das, was wir beabsichtigen, doch erreichen." — „Und was beabsichtigen Sie?" fragte ich. — „Die Ein führung eines neuen Regimes in China. Unsere schwere Niederlage im Kriege mit Japan hat uns gezeigt, daß wir, wenn wir nicht schleunigst radikale Reformen ein führen, unter den Völkern des Orients nur noch eine untergeordnete Rolle spielen können." „Reformen" hieb damals in China das Losungswort, und man lechzte nach Reformen; die Jugend des Reiches schaute auf Kwang-sü wie auf einen Befreier aus tiefer Not. Als aber der schöne Traum Wirklichkeit werden sollte, trat die alte Kaiserin Tsu-Hsian aus der Stille des Sommerpalastes an die Öffentlichkeit, sperrte den gefähr lichen Kwang-sü im Winterpalast ein und nahm persönlich wieder die Zügel der Regierung in die Hand, um sie bis zu ihrem Tode nicht wieder fortzugeben. Und nun be ginnt das Martyrium des Kaisers. Er ist nur noch ein Symbol, eine Larve, eine Legende, eine wachsbleiche kaiserliche Puppe, die bei offiziellen Zeremonien und Empfängen wie ein Page hinter der stolzen Kaiserin einhertrottet. Manchmal schien der unglückliche Mensch sich gegen sein Schicksal auflehnen zu wollen; kurz vor seinem Tode sagte er zu einem Freunde: „Sie können sich nicht vor stellen, was ich hier leide. Ich darf mit keinem Menschen, der von draußen kommt, reden, ich habe keine Macht, keine Freunde; nicht einmal die Eunuchen behandeln mich mit dem Respekt, auf den ich Anspruch habe. Der niedrigste Diener im Palaste hat es besser als ich." Dunn fügte er mit gedämpfter Stinime hinzu: „Aber der Tag der Vergeltung muß kommen. Die Kaiserin kann nicht ewig leben; und wenn ich je wieder die Macht in die Hand bekomme, sollen die Männer, die mich zum Ge fangenen im eigenen Hause gemacht haben, so leiden, wie ich gelitten habe." Jetzt weilt Kwang-sü, auch im Tode noch von seiner despotischen Tante gefesselt, schon seit zwei Jahren im Himmel, und China schM sich an, das zu ver wirklichen, was der arme Kaiser sein ganzes Leben lang ersehltt hatte: die Konstitution!"