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Als der folgende Tag anbrach, bedurften die An« gehörigen des Kaufmanns Grünes und Blumen, die von ihrem groben Landhaus in Aalsgaarde bei Hellebaek her eingeholt werden mußten. Nach langem Hin- und Herreden erbot sich Iris, selber hinauszugehen und Blumen abzuschneiden, statt ! dies dem nicht immer feinen Geschmack des Gärtners zu überlassen. Iris ging zeitig am Vormittag hinaus. Frau Hilmar Halle sich darauf vorbereitet, Iris zu empfangen, die sie in den entschwundenen Jahren lieb gewonnen halte. In ihrem tiefsten Herzen lebte eine kleine, flackernde Hoffnung, die gleich einem unsteten Irrlicht kam und schwand, aber nicht sterben konnte — die Hoffnung, daß Iris einmal so viel Herz haben möchte, Hermanns Treue zu belohnen. Ihres Sophus war sie flcher; aber Vorsicht schadete nicht. Es nützte nichts, daß Iris schon gleich bei ilrer Ankunft über seinen Anblick sich ! betroffen fühlen konnte. O, diese mütterlichen Sorgen und naiven Vor- j bereitungen! Die ersteren oft so unnütz, die letzteren fast immer total mißlungen, mögen sie nun kalter Berechnung , oder wie hier der Angst und einer nie ruhenden, wach samen Liebe entspringen. Die Liebe einer Mutter kann verzichten oder sich ver rechnen, aber nicht sterben. Iris hatte die Blumen ausgesucht, deren sie bedurfte und einen Gang durch das grobe, prachtvolle Haus gemacht. Wie lange, wie lange hatte sie nicht mehr hier geweilt, und wie lauge war es her, seit sie noch Kind gewesen ivar, ja besonders das letztere. War sie je ein glückliches Kind gewesen, wie tausend andere? Einsam und sorgenschwer wanderte sie von Zimmer j zu Zimmer. Welch grellen Kontrast sie zu dem engen Haus bildeten, in dem ihr Vater nun wohnen sollte! Ihr Vater! Zum ersten Male, seit Vernehmung der Todesnachricht, verfiel sie in ein wohltätiges Weinen, ein Beweinen dessen, was vorüber war, und was anders hätte sem sollen. Es waren schmerzliche Tranen, aber sie taten gut. Sie erwärmten sie und waren gleichsam ein Opfer aus dem Fonds kindlicher Liebe, die in ihrer Seele wohnte, aber infolge der vielfachen Pflichten, Zerstreuungen und Genüsse des bunten Lebens nie zur Reife gekommen war. Nach einer letzten Runde zog sie ihre Überkleider an und beschloß, durch den Wald nach der Station zu gehen. Es war so schön, so feierlich still in dem erst knospenden Wald. Mit tränengeblendeten Augen genoß Iris jede Einzel heit, als wenn ihr alles neu wäre — aber es war nicht das Neue, Wunderbare, auf dem ihr Blick ruhte, es war in ihr selber. Ein plötzliches Geräusch lieb sich dicht neben ihr hören. Sie ivar an einer Krümmung des Weges. Sie schlüpfte um die Ecke. Unwillkürlich blieb sie stehen und lehnte sich an den jungen Buchenstamm, der an der Ecke stand. j Ein Mann kam ihr entgegen: er trug einen breit- : räudigen Hut. Er ging in Gedanken vertieft oder be- irachiete vielleicht die Tausenden kleinen Blumen, bei denen ; Hunderte von Käfern und summenden Bienen zu Besuch i waren. — Er sah auf. Sein- Verwunderung war gewiß nicht geringer als . die ihrige. „Iris, Fräulein Iris! — nein — ja, entschuldigen § Sie! — Ich irre mich wohl ?" ! „Sophus Hilmar!" Sie ergriff seine Hand. „Iris" sagte sie und wurde im gleichen Augenblick purpurrot, so daß sie die Augen niederschlug. „Ja, ich bin es!" Die raffinierteste Überraschung hätte, besonders ihm, j nicht wirkungsvoller, verblüffender kommen können, als diese io ungeahnte, zufällige Begegnung. O, menschliche Berechnungen! Ein Gedanke durchfuhr ihn: Kann Mutter dies herbei geführt haben! „Willkommen daheim! — Mag der Anlaß auch traurig sein —" — Es klang etwas besonnen und kühl und sie zog die Hand zurück. Aber in dem hastigen Blick, den sie scheu auf ihn warf, lag ein Freudenblitz. Daß sie ibn so wiedersah und ihm begegnete! Alles andere verschwand gleich wie bei einem Kranken, der seine Schmerzen augenblicklich durch eine Dosis Morphium gestillt fühlt. „Wie geht es zu, daß ich Ihnen hier begegne? Ent schuldigen Sie, daß ich Sie nicht gleich erkannt habe — es kam mir so unerwartet", sagte er mit einem leichten An strich jenes Mißtrauens, dessen er sich noch nicht ganz hatte erwehren können. „Ja, davon habe ich keine Ahnung!" antwortete sie in der ihr eigenen überzeugenden Weise. „Ich bin hinaus gegangen, um Blumen für Vaters Sarg zu pflücken, was einen Augenblick vor der Ausführung beschlossen worden war" Ihre Blicke begegneten sich — und die Begegnung war tief. Sein Zweifel war niedergeschlagen. Für sie war es eine jube.nde Tatsache, Jubel darüber, ihm nahe zu sein nach mehrjähriger tiefer, aualvoller Sehnsucht und ewigem Verweilen zwischen Hoffnung und Zweifel. (Fortsetzung folgt.) Oie litten, Plauderei von Dr. Olaf. (Nachdruck verbak-n 1 Tiere, die einen so mächtigen Einfluß auf em ganzes Land ausüben konnten — man sagt, daß sie in China und in der Mandschurei die Pest verbreitet hätten, — und die sogar einen unserer modernen Dichter zu einem Drama inspirierten, verdienen schon ein wenig Beachtung. — Ein französischer Arzt hat sich auch die kleinen Nager zum Studium gewählt und gefunden, daß ihre Geschichte nickt allzu weit zurückreicht. Die alte Hausratte, auf welche Hunde und Katzen erfolgreich Jagd machen, war schon im grauen Altertum bekannt. Die Wander- und Kanalratte wird zum ersten Male im Jahre 1620 erwähnt; damals traf man sie nur in Indien und in Persien. Nach Europa kam sie im Jahre 1727; sie wanderte aus Indien aus, weil das Land zu jener Zeit unter schweren Hungers nöten litt und ganz Zentralasien bis zum Kaspischen Meer von Erderschütterungen heimgesuckt wurde. In unabseh baren Scharen zogen die Raiten bei Astrachan über die Wolga; sie überfluteten das südliche Rußland und tauchten im Jahre 1750 in Ostpreußen auf. Drei Jahre späier hielten sie ihren Einzug in Paris; innerhalb weniger Tage vernichtete man dort 16 000 Ratten, aber es blieben noch genug übrig. Als die französische Regierung An stalten traf, die Abdeckerei von Monifancon zu verlegen, kam es in Paris zu lebhaften Protestkundgebungen: man fürchtete, daß die um ihre gewöhnliche Nahrung gebrachten ausgehungerten Ratten die Häuser überfallen und dort große Verheerungen anrichten würden. In die Abdeckerei warf man alle Tage eine ganze Anzahl Pferdekadaver, oft bis zu 35 an einem Tage; am andern Morgen waren alle Kadaver bis auf die Knocken aufgefreffen. Kurze Zeit darauf eroberte die Kanalratle auch Schweden und Norwegen und man kann annehmen, daß sie sich selbst durch bittere Kälte nicht verdrängen läßt; findet man sie doch selbst an den nördlichsten Gestaden der Skandinavischen Halbinsel. Jütland war lange durch einen Meeresarm, den Limfjord, gegen die Invasion der Ratten geschützt. Als aber in einer Herbstnacht des Jahres 1847 einige Fischer auf dem Fjord waren, sahen sie plötzlich ihre Barken von zahllosen Ratten umgeben; die Tiere schwammen nach Norden hin, landeten auf der Halbinsel Thy, verdrängten von dort die alte schwarze Ratte und ließen sich häuslich nieder. Im Jatre 1865 gründete dis Kanalratte Kolonien in Amerika; sie war wahrscheinlich zu Schiff herübergekommen. Im Jahre 1900 war sie be reits bis zu den Grenzen des ewigen Eises vorgedrungen. Heute verwüstet die Wanderratte auf den Antillen und auf den Azoren die Kaffee-, die Bananen-, die Zuckerrohr und die Orangenpflanzungen. Im Nordosten von Eng land gibt es eine Insel von 250 Hektar, auf der noch vor 15 Jahren 3000 Rinder prächtige Weideplätze fanden. Die Insel ist von der englischen Küste durch eine 450 Meter »reite Wasserstraße getrennt. Diese Wasserstraße haben die Ratten überschwommen, um von der Insel Besitz zu ergreifen. Man kann kaum den Fuß auf den Boden setzen, ohne in einen Rattenbau zu fallen. Die gefähr lichen Nager fressen die Wurzeln der Pflanzen, so daß kaum noch eine Spur von grüner Weide zu finden ist. Die Wanderratte fürchtet sich also auch vor weiten Seereisen nicht; sie steht sich aber das Schiff, das sie zu benutzen gedenkt, genau an, um es aus seine Sicherheit bin zu prüfen, ehe sie sich ihm anvertraut: daher der Seemannsglaube, daß die Raiten ein dem Untergange ge weihtes Schiff verlassen. Daß die Ratten jedes Jahr in den Schiffsladungen, auf den Docks, in den Getreidespeichern und in Plantagen ungeheure Verwüstungen anrichten, ist bekannt. Sie fressen einfach alles: Getreide, Wurzeln, junge Triebe, Baum rinden, Aas, Tauben, Hühner, junge Enten und Eier. Man weiß auch, daß die Ratten schlafende Kinder und hckflose alte Leute angreifen. Statistisch ist festgestellt, daß eine Ratte in den Schiffsräumen täglich für 7 Pfennig Lebensmittel verzehrt. Auf dem Lande kommen uns die Ratten billiger zu stehen, da sie sich hier größtenteils von Abfällen nähren. Trotzdem behaupten die Dänen, daß sie i jede ihrer Ratten einen Pfennig pro Tag kostet. In einer Großstadt fressen 100 000 Ratten täglich etwa 1200 Marl auf. Am gefährlichsten aber sind die Ratten als Verbreiter ansteckender Krankheiten. Im Jahre 1898 entdeckte ein Arzt, der vom Pasteur-Institut nach Bombay geschickt i wurde, daß d e Ratten von einer chronischen Form der j Pest befallen werden können, die sie, ohne selbst daran zu ! sterben, auf den Menschen übertragen. Die Verbreitung der Krankheit geschieht durch Flöhe. Man hat das erst i bestreiten wollen, indem man hebauptete, daß die Ratten- > flöhe niemals auf einen Menschen sprängen. Diese Be- j Häuptling hat sich jedoch als ein Irrtum erwiesen, und es steht jetzt fest, daß es der Floh ist, der das Pestgift von der Ratte auf den Menschen überträgt. Durch die Ratten können ferner die Trichinose, die „Influenza der Pferde" und die Tollwut verbreitet werden. Man sieht affo aus all diesen Bei'pislen, daß das kleine Tier nicht gerade sehr harmlos ist, und daß der Kampf mit den Ratten ein be rechtigter ist, da von ihnen nichts Gutes kommt. Vas Kleeblatt. Skizze von Wilhelm Bube. (Nachdruck verboten.) „Juch!" „Was schreist du so, Hannes?" — „Warum ich schreie? Deinetwegen tu ick den Jauchzer, Mädchen. Juch!" „Kannst dir die Mühe sparen, Hannes. Aut dem Tanzboden magst einen Jauchzer tun, nicht hier auf dem Wiesensteig. Die Leute dringen uns ins Gerede, wenn sie unS beide miteinander zum Tanz geben sehen." „Macht nichts, Stine, macht nichts! Ich habe eben roten Klee mit vier Blättern gefunden und ein Vierblatt bringt vierfaches Glück." „Mißt'nickt, woher das Glück kommen sollt', Hannes." „Braucht nicht erst zu kommen, Stinchen, ist schon da. Du bist das erste Blatt, das erste Glück. Inch!" Er wollte den Arm um die schlanke Hüfte des sonn täglich geputzten Mädchens legen; aber es wich ihm aus. „Laß ehrbare Mädchen in Ruh'", schmollte Stme, „vier Blätter am Klee bedeuten vier Bräute, und ich will keine davon sein." „Hu, wie garstig", sagte er, „dann darf ick mit Kätner-Stincken wohl gar nicht mal tanzen heut'Abend?" „Tanzen magst schon mit mir", lenkte sie ein. „Bist eifersüchtig, he?" — „Auf wen?" „Auf die anderen drei Bräute —" Sie schwieg. Nach einer Weile schaute sie auf, die Augen trafen sich. Dann lachte sie auf, hell und lustig, und er lachte mit. — „Ja, gelt, Stine, du bist doch mein j Kleeblättchen?" Sie antwortete nicht, sie nickte nur. — An dem Abend waren Hannes und Stine die glück- lichsten Menschen von der Welt auf dem Tanzboden. , Hannes und Stine waren ein Paar geworden. In sonnigem Glück begann ihr Ehestand. Die Arbeit deuchte ihnen Spiel, so leicht wurde sie ihnen. Es mochte Aber glaube sein, daß Hannes das Kleeblatt wie ein Heiligtum hütete: aber es war ein durch die Volkstradition ge heiligter Glaube. In dem Gesangbuch, das ihm Stine zum Hochzeitstag geschenkt hatte bewahrte er es auf, genau an der Stelle, wo sein Hochzeitsgesang stand. Übers Jahr batte sich das Glück de" jungen Ehepaares vermehrt: ein Söhnlein schrie mit kräftiger Lunge in der Wiege^ „so, das wäre die erste Hälfte!" sagte Hannes eines Abends zu seiner Frau, die den Kleinen wiegte. Sie verstand ihn nicht und schaute ihn fragend an. Hannes entnahm dem Gesangbuch das Vierblatt, knipste ein Blättchen ah und sprach: „Das war das erste Glück, und das erste Glück bist du." Jetzt verstand sie ihn und lächelte selig. „Das zwe te Blättchen ist das Kind", fuhr Hannes fort und trennte es gleichfalls vom Stiel. „Und nun haben wir noch zwei Glücksblätter", flüsterte Stine, „ivas mögen sie bringen?" „Zwei Treffer in der Lotterie", antwortete er, „wir könnten sie gerad' gebrauchen." Vorsichtig, als wären sie wertvolle Lose, legte Hannes die beiden noch vorhandenen Kleeblättchen ins Gesangbuch, das er jaust zuklappte. * s- * Die Treffer stellten sich nicht ein, wohl aber ein halbes Dutzend Esser. Hannes und Stine rackerten sich ab, um die hungrigen Mäuler zu stopfen, und sie wurden darüber alt. Die Kinder wuchsen heran wie die Tannen im Hochwalde drüben, schlank, gesund an Leib und Seele, während die Alten zusammenschrumpften. Nach und nach wurde es still um die Eltern Hec, die Kinder verlieben sie, ems nach dem andern, und nur ab und zu kam der Postbote mit Briefen, die in der Monotonie des Lebens Ereignisse waren. Der eine Brief aber mackte die biedern Alten um ein Jahrzehnt jünger: es hatte sich ein Treffer eingestellt, ein Enkel, der den Namen seines Großvaters tragen sollte . . . Als die Großeltern die beschwerliche Reise zur Taufe hinter sich hatten, knipste Hannes das dritte Blättchen ab. „Nun steht uns noch ein Glück bevor", sagte er zu feiner Frau, „ich glaub', auf die Treffer in der Lotterie verzichten wir. Was meinst, was das letzte Kleeblatt bringen wird?" „Viel sicher nickt, Hannes, aber wenn ick nur noch ein Glück wünschen soll, so wäre es dieses: alle unsere Kinder einmal um uns versammelt zu sehen, alle auf einmal." „Wir müssen sie einladen, Stine, sonst kommen sie nicht; weißt, nächstes Jahr feiern wir unsere goldene Hochzeit." „Ja, ja, Hannes, das wollen wir." » * » Die Einladungen ergingen frühzeitig, ein halbes Jahr vor dem seltenen Festtage. Und sie kamen alle, die Kinder, Schwiegersöhne, Schwiegertöchter und Enkel. Aber die, denen das Fest galt, hatte inzwischen der Tod mit rauher Hand getrennt. Frau Stina lag an ihrem Hochzeitstage im Sarge ... Hannes saß, den schneeweißen Kopf an das «sargende gelehnt, Wache haltend bei der Entschlafenen und redete mit ihr, als ob sie noch lebe. „Ja du, das letzte Blättchen kann ich jetzt abpflücken, das Glück hat ein End', wenn's abfällt. Dein Wunsch ist erfüllt; du siehst's nicht mehr, darum muß ick's dir er zählen. Sie sind alle hier, nach denen dein Herz Ver langen trug . . . Weißt noch, mein Stinchen, wie ich vor fünfzig Jahren das Vierblatt fand, auf der Wiese drunten..." Seine Worte verloren sich in ein unverständliches Gemurmel. Das Gesangbuch rutschte von seinen Knien, und das dürre Kleeblättchen zerbrach . . . Im Turm hob die Glocke das Sterbegeläut an.