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Das mutzte sich denn auch an seinem Aussehen bemerkbar machen, und in der Tat schwand von Tag zu Tag seine körperliche Frische, und sein Gang wurde schlaff wie der eines Kranken. Für nichts schien er mehr Sinn zu haben, ging wie ein Träumender umher und verbrachte auch die Nächte nur im Halbschlaf. Nur wenn die Kranke im Fieber klagte oder gar um Hilfe schrie, als fühlte sie sich noch in der Kajüte eingeschloffen, nur dann fuhr er aus seinem dumpfen Brüten auf; die Augen füllten sich dann oft mit Tränen, wenn er sich unbemerkt wußte, die Hände schlossen sich wie zu einem stummen Gebet, und seine Lippen murmelten zuckend: „Dat arme Kind, de säte Diern!" So gingen drei Wochen dahin. Dr. Trinius kam, so oft er in der Gegend zu tun Hatte, half, tröstete, sprach Mut ein, und endlich schien auch eine gewisse Besserung einzutreten. Die Kranke wurde ruhiger, schlief allmählich länger hintereinander und erwachte nur selten noch mit einem Angstgeschrei. Von wirklicher Nahrung aber nahm sie immer nur wenig zu sich, und nur kühle Flüssigkeiten trank sie gierig. Trotzdem gelang es der Erfindungsgabe Stinas, ihr so manche Nahrung einzuflößen. So war der April dahingegangen, und der Mai hatte eben seinen. Einzug gehalten, als Mutter Fersen eines Tages kurz vor der Mittagszeit allein bei der Kranken am Bett saß. Stina war seit langer Zeit zum ersten Male wegen notwendiger Einkäufe zum Strandwirt ge gangen, der neben seiner Schenke noch einen kleinen Kramladen besaß; Hinnerk war in der Küche beschäftigt und empfand schon vor dem Essen einen Hochgenuß, wenn er den Topf mit weißen Bohnen ansah, die sein Leib gericht wLren; Peter aber war wieder einmal am Strande und beschaute das gerettete Boot von allen Seiten, als suche er hier den Schlüssel zu seinem Geheimnis. In der Krankenstube herrschte Totenstille; denn auch der tätigen, in den letzten Wochen aber allzu angestrengten Mutter Fersen waren die Augen zugefallen, und die sonst immer tätigen Hände waren mit den klappernden Strick nadeln in den Schoß gesunken. So schliefen denn die beiden einen erquickenden Schlaf, die Kranke und die alte Wärterin. Da regte sich die Kranke; aber sogleich erwachte auch Mutter Fersen. Sie schaute nach dem Bett und blickte in zwei Helle, große Augen, die ihr umso größer erschienen, als das an sich schon schmale Gesichtchen der Kranken infolge des Fiebers und durch die ungenügende Ernährung in den letzten Wochen noch mehr eingefallen war. Aber die großen Augen schienen klar zu sein und blickten verwundert und fragend zu ihr hinüber. Beide schauten sich eine Zeitlang stumm und ver wundert an. Endlich unterbrach die Kranke das Schweigen, aber ihre Worte verhallten unverstanden; denn Mutter Fersen verstand nur Plattdeutsch, und die Kranke war offenbar nicht einmal eine Deutsche. „Jk verstah di nich, min lütt' Diern", sagte die Alte und schüttelte bedauernd den Kopf bei den nie gehörten Lauten. Dieses Zeichen begriff auch die Kranke, und ihre Augen blickten daher nur noch verwundert in der Stube umher. Aber eine Sprache für den Austausch der Ge fühle des mitleidigen Herzens besaß auch das alte Mütterchen im Fischerhause. Von Mitgefühl und Freude ergriffen, erhob sie sich und beugte sich über das Bett der Kranken. Mit ihrer runzligen Rechten ergriff sie die beiden schmalen und abgemagerten Hände des Mädchens und streichelte sie liebkosend mit der Linken, während Freudentränen über ihre Wangen rollten. Diese Sprache verstand auch die Kranke. Wie be seligt drückte sie die alten Finger ihrer Pflegerin und fank dann erschöpft wieder in die Kissen zurück, als wäre diese Anstrengung schon viel zu groß für sie ge wesen. „Slap', min söt Diern", sprach Mutter Fersen leise vor sich hin, „slap' geruhig, nu ward dat jo woll ward'n." Kaum konnte sie erwarten, daß Stina heimkam, und zum zweiten Male genoß sie die Freude, als sie ihr endlich er zählen konnte, was vorgefallen war. Sogar die Worte und Blicke der Kranken versuchte sie nachzuahmen und war glücklich bei dem Gedanken, daß die große Gefahr nun endlich überstanden sei. Die beiden Frauen waren über diese Wendung so glücklich, wie es nur wirklich Mitfühlende sein können; aber alles dieses war nichts im Vergleich zu der Herzens freude Peters. Als Stina ihm mitteilte, was geschehen war, schlotterten ihm die Knie vor freudiger Erregung. Kaum ein Wort konnte er herausbringen, nur einzelne Laute entschlüpften ihm, aber seine Augen sprachen um so deutlicher. Indessen Peter war mit dem Bericht der Schwester noch nicht zufrieden, sondern suchte auch noch eine Ge legenheit, die Mutter selbst zu befragen. Mit sichtlichem Entzücken hörte er auch ihren Bericht an und konnte kein Ende im Fragen finden. „Mudding", sagte er endlich lachend und weinend zugleich, „nu is't all' gaud, nu kann ik wedder ruhig slapen." Ganz verwundert schaute ihn die Mutter an. „Wat?" erwiderte sie endlich. „Du kannst wedder ruhig slapen? Du? Jk denk', de lütte Diern un Stina un ik, wi dree kän'n nu wedder ruhig slapen. Awer wat geiht di dat an, un wat hest du denn für Not dorbi hat? Din Braudder Hinnerk het jo doch veel mihr dorbi tau dauhn hat als du. Wat Heft du woll dorbi lüden?" „Jk?" erwiderte Peter, der ganz verdutzt und wie auf Irrwegen ertappt dastand, nach langem Besinnen. „As ik? Nee, eegentlich woll nich. Awer ik hew sei doch oft naug in de Nacht schriegen hürt, un dorbi kann keen Minsch slapen." „Ölen Eegennutz!" brach da aber Mutter Fersen los. „Ji Mannslüd denkt doch immer man an jug sülwst!" Und damit wandte sie ihm ärgerlich den Rücken und ging in die Krankenstube. Wie ein auf einer Dummheit ertappter Schulbube blieb Peter stehen und schaute der Mutter nach. Durfte er ihr sagen, was er in seinem Herzen fühlte, oder sollte er schweigend alle Zurechtweisungen dieser Art hin nehmen und dabei vielleicht die Achtung von Mutter und Schwester verlieren? Wo fand er Rat in dieser Not? „Lat gaud wesen, Peter, un bitt' Le Tähnen tau- samen!" sagte er endlich ergrimmt vor sich hin. „De Wohrheet seggen darwst du nich, un derentwegen müßt du allens drägen, wat kimmt." Er ging an den ge liebten Strand und fand hier wie immer seine Ruhe wieder. Am Nachmittage verfinsterte sich wieder der Himmel, und schwarze Wolken zogen über die See heran. Aber Mutter und Schwester hatten wieder neuen Mut gefaßt, und selbst Hinnerk war davon angesteckt worden. Eben saß er in der Küche und summte ein Matrosenlied vor sich hin, dessen letzte Strophe er trotz seiner heiseren und un gelenken Stimme ziemlich laut erschallen ließ: Gott grüß' dich, mein Liebchen, vom sinkenden Schiff. Hab' ich mich gerettet trotz Wellen und Riff! Haliaho! Haliaho! Nun werd' ich wieder froh! / Nur Peter schien die allgemeine Freude der Familie nicht zu teilen. Trotz Wind und Wetter war er hinaus gegangen, saß am hohen Strande auf der geretteten Jolle mit dem Namen, den er nicht verstand, und schaute be trübt in die See hinein den anstürmenden Wolken ent gegen. Allmählich ordneten sich hier in seinem Elemente seine Gedanken wieder und äußerten sich in Worten nach seiner Art: „Jk weit nich, wat de Minschen all' gegen mi hebben, fit de verdammte Brigg hier scheitert ist. Verdammte Brigg? O nee, Peter, segg' dat nich! Hest du nich veel Hartenssreud dormit trägen? Twors ok veel Hartensangst, äwer de Freud' üm de lütte Deern is doch gor tau grot. Wes' also nich undankbar, Peter, und schimp' up dat un- schüllig' Schipp nich! — Awer de Lüt', wat is mit dei word'n, orre wat mit mi? Als Strandröwer hebben sei mi behannelt, utsöcht hebben f' mi dat Hus von binnen und buten, von baben bet unnen. Is dat nich 'ne Sünn' un Schann', Peter? Wenn din ohl Vadder von baben runnerkickt un dat all' sehn het, wat in sin ehrlich' Hus scheihn is, hei makt di jo woll ne Fust. Schäm' di, Peter! Awer bin ik denn en Strandröwer? Hew' ik wat stahlen un nahmen? Nee, de Minschen sind nahr'sch word'n, un ik kenn' sei nich mihr." Er hob die Faust und drohte blind in die Luit hinein. Allmählich wurde er ruhiger und begann dann wieder: „Du hest nix nahmen, Peter? Jo woll, du hest de lütte Deern nahmen un ehr Tüg dortau. Hest du nich dacht, du künnst sei villicht behollen as din leime Fru? Hest du sei ui reine Christenleiw' halt? Peter, Peter, wohen is dat mit di kamen. Du lüggst di jo all sülwst wat vör!" Er sann erst wieder ruhig nach. „Nee", begann er nach einiger Zeit, „nee, so stimm is dat nu äwer ok nich. Jk bin henführt, ohn' dat ik wüßt', ob sei in de Wrack wir' orre nich, rein ut Erbarmen, un denn hew' ik sei tau Hus kröcht un hew' all' dahn, wat möglich wir, un dat harr' ik jo woll ok för jedwereinen? Nee, Peter, dat denn doch nich, un du bist nu all wedder um den stimmen Lägensteeg. — Äwer derentwegen bin ik doch noch keen Strandröwer un Spitzbauw'! De Harr Kommissar is ein Däskopp, dat hat Stining jo seggt, un de Dieckgraf is en Sliker, dat weiten wi all lang! Lat' sei, Peter, du Heft jo nix Slechts dahn! Blot de Minschen seihn dat nich in un verstahn di nich." Kopfschüttelnd schaute er wieder vor sich hin. Düster war sein Blick, und Tränen traten ihm in die Augen. Allmählich aber hellte sich sein Gesicht, und weicher Glanz trat in seine Augen, als sähe er eine liebe Er scheinung. (Fortsetzung folgt.) Oer Gememäearrt. Von Dr. Hans Liesal. (Schluß.) (Nachdruck verboten.) „Ich sandte dem Bürgermeister, da meine mündliche Mahnung nichts genützt hatte, eine schriftliche in aller Form. Daraufhin wurden die betreffenden Kinder ent lassen. Der Bürgermeister aber, der mich bisher so freundschaftlich behandelt Hatte, wich mir nun aus. Ich hoffte, daß sein Arger bald vorübergehen werde, aber statt dessen bemerkte ich, daß mich allmählich auch einige der Gemeinderäte kühler behandelten, Dann teilte mir eines Tages ein befreundeter Gemeinderat, dessen Kind ich in schwerer Krankheit behandelt hatte, mit, daß man in der nächsten Gemeindeversammlung über meine Bestätigung auf Lebenszeit beraten werde. Aber dies war Formsache; weshalb sollten mich die Leute nicht behalten, da sie mit mir zufrieden waren? Fast alle rechneten darauf, mich bestätigt zu sehen. Aber es kam anders. — Doch ich will mich kurz fassen. Das Ergebnis der Sitzung war meine — Entlassung, mit zwei Stimmen Mehrheit!" „Unmöglich!" rief ich überrascht. „Womit begründete man denn die Entlassung?" „Begründen? Gar nicht; man entließ mich eben. Aber eigentlich habe ich vorgegriffen. Ich hatte zwar den Beschluß sofort nach Schluß der Sitzung erfahren, aber derselbe mußte erst durch die Provinzial-Sanitätsbehörde bestätigt werden, ehe er mir zugestellt wurde." „Aha! Sie konnten sich also noch dagegen wehren?" „Ja, und das tat ich auch, stand doch mein Lebens glück auf dem Spiel. Ich erreichte es auch wirklich, daß der Beschluß für ungültig erklärt wurde, weil die beiden Gemeinderäte, deren Stimmen den Ausschlag gegeben hatten, nicht mehr stimmberechtigt waren. Man mußte nun von neuem über mich beraten; aber natürlich war auch mein Gegner nicht müßig gewesen, er hatte gedroht, das Bürgermeisteramt niederzulegen, falls man für mich stimme, und es verstanden, die Räte zu beschwatzen. Und obwohl man ein mit zahlreichen Unterschriften versehenes Gesuch um Bestätigung meiner Stellung an den Gemeinde rat gerichtet hatte, wurde ich wieder, diesmal mit einer Stimme Mehrheit entlassen. In dem Beschluß sagte man, daß man mit meinen Leistungen völlig zufrieden sei, daß man mich aber entlassen habe, um den Folgen des Gesetzes von 1888 zu entgehen, d. h. um mich nicht lebenslänglich behalten zu müssen. Das ist in der Tat fast stets der Grund, weshalb die Gemeinden nach drei Jahren ihren Arzt entlassen, nur gibt man ihnen dann in den meisten Fällen zu verstehen, daß sie sich wieder bewerben können." „Wieso wieder bewerben? Wie ist das gemeint?" „Der Arzt, der nur entlassen wurde, weil man das lästige Gesetz umgehen wollte, bewirbt sich von neuem um seine alte Stellung, die er auch meist wiederbekommt, aber er ist dann wieder nur drei Jahre angestellt und man sendet ihn nach dieser Zeit wieder fort, um ihn vielleicht sogar noch einmal zu wählen. Ich kenne Arzte, die drei- bis viermal in derselben Oonckotta neugewählt wurden." „Und Sie konnten sich nicht wieder bewerben?" „Ich wäre wohl nicht mehr gewählt worden, denn die Partei des Bürgermeisters war naturgemäß stärker als die meine. Überdies war mir nun selbst der Ort ver leidet, und Angelikas Vater hätte auch meine Wiederwahl nicht genügt, denn seine Bedingung war doch, daß ich fest angestellt sei." „Nun, ich denke, der Alte hat doch ein Einsehen gehabt", bemerkte ich. „Ja, er hatte ein Einsehen, er löste unsere Verlobung", erwiderte der Doktor mit bitterem Lächeln. „Und ich glaube, Angelika war nicht einmal sehr unglücklich darüber. Was wollen Sie? Drei Jahre sind eine etwas lange Brautzeit für ein junges, lebenslustiges Mädchen, be sonders wenn der Bräutigam ihr wenig Zeit widmen kann. Sie hätte mich gewiß sehr gern geheiratet, wenn alles gut ausgegangen wäre, aber noch länger Braut zu sein, dazu hatte sie keine Lust. Vielleicht hatte der Vater auch sein Möglichstes getan, um sie gefügig zu machen, kurz, sie gab mich auf und heiratete ein halbes Jahr später nach nur vierwöchigem Brautstand den reichen Fabrikanten, den Schwiegersohn nach dem Herzen des Vaters." „Und Sie selbst, Herr Doktor? Was taten Sie?" „Ich? Wie sagt doch Ihr Dichter? — Anfangs wollt' ich fast verzagen und so weiter. Ich verkaufte die hübsche Einrichtung, die ich Angelika zu Ehren nach und nach beschafft hatte, denn bei uns richtet in der Regel der Mann das Haus ein, und den Erlös benutzte ich zu einer Reise, um neue Eindrücke zu sammeln und die alten zu vergessen. Als ich wiederkam, war meine Braut verheiratet und ich hatte zwar noch nicht vergessen, aber kein Geld mehr, um noch weiter zu reisen. Ich suchte mir also wieder eine Oonckotta und kam auf diese Weise hierher." „Aber — aber verheiratet haben Sie sich nicht?" „Nein, ich danke. Ich hätte am Ende wieder einen Vater gefunden, der dieselbe Bedingung gestellt hätte, und die ist zu schwer zu erfüllen. Man müßte denn, was viele tun, die Tochter eines einflußreichen Gemeinde mitgliedes heiraten und sich so eine starke Partei schaffen. Im nächsten Jahr läuft meine Probezeit ab; wenn Sie dann wieder hierher kommen, finden Sie vielleicht schon einen andern Doktor vor." „Das will ich nicht hoffen. Aber sagen Sie mir doch, warum sind Sie denn nach jener — Geschichte wieder Gemeindearzt geworden?" „Was sollte ich denn anders werden? Die akademische Laufbahn, die früher mein Herzenswunsch war, konnte ich nach drei Jahren nicht wieder beginnen, und um mich als Arzt in einer großen Stadt niederzulassen, dazu fehlten mir die Mittel. Der ehemalige Bauerndoktor hätte sich wohl auch schlecht für die feinen Stadtdämcheu geeignet. Ein verpfuschtes Leben läßt sich eben schwer ins rechte Gleis bringen." Nachdenklich schwiegen wir beide, und nachdem er mich am nächsten Tage noch zur Certosa begleitet batte, wo wir zusammen die herrliche Fassade der Kirche, welche an Reichtum der Ornamente noch jene des Doms von Oroieto und Siena übertrifft, und all ihre sonstigen Kunst schätze bewundert hatten, feierten wir bei einem Gläschen Chartreuse in der Apotheke Abschied, wie ein paar alte Freunde. Wir sahen uns auch nicht mehr, denn als ich vergangenes Jahr wieder nach Certosa kam, war ein neuer Arzt da und niemand wußte, wo mein weckieo oouckotto von damals sei. — — So konnte ich ihn auch nicht um Erlaubnis fragen, als ich den Plan faßte, seine für die Verhältnisse des ganzen Standes so charakteristische Geschichte niederzuschreiben, aber ich weiß, er wird mir dies nicht als Indiskretion vorwerfen, sondern, wenn ihm diese Blätter zufällig unter die Augen kommen, darin nur ein Zeichen sehen, daß ich noch immer seiner gedenke.