Volltext Seite (XML)
Gefühle oerwandtschastlicher Neigung sowie deS mensch- lichen Mitleides beim Anblick der leidenden Unschuld. Aber trotzdem glaube ich damit siegreich durchzudringen. Denn diese verstoßene und verleugnete Unschuld hat außer dem das Recht auf ihrer Seite." „Welches Recht?" warf der Greis fragend ein. „Das Recht der Geburt, der legitimen Abstammung." — „Was nützt ihr das?" — „Viel, ja alles. Freilich, Sie können sie enterben —" „Habe ich ja schon getan! rief der Alte höhnisch und wie von einem Druck befreit. „Ja, aber wenn dieses Testament von ihr angefochten wird, so ist es hinfällig." — „Hinfällig, was ich bestimmt habe?" „Gewiß! Und was dann? Reiten Sie, was gesetzlich erlaubt ist, für Ihre wohltätigen Zwecke, aber lassen Sie Ihr eigen Fleisch und Blut dabei nicht darben! Denn Ihr Vermögen gehört doch in erster Linie den Bertigs. Rufen Sie also keinen Familienskandal nach Ihrem Tode durch Ihre letztwilligen Bestimmungen über das.Erbe hervor!" „Hat jene Fremde denn so begründete Ansprüche?" „Eine Fremde nennen Sie das Mädchen immer noch? Es ist Ihre wirkliche Enkelin!" „Ich kenne sie nicht und frage nur nach ihren unum stößlichen Ansprüchen." — „Ihre Ppapiere —" „Sind Papiere, weiter nichts!" „Bitie, es sind alles Urkunden, unanfechtbar be glaubigte Urkunden, welche dem Besitzer dieselben Rechte gewähren, wie eine von der zuständigen Behörde ein getragene Hypothek, oder wie ein ebensolcher Schuld schein. Und alle ihre Papiere sind auch richtige Schuld scheine, welche Sie am heutigen Verfalltage einlösen müssen. Ja, müssen, wenigstens wenn Sie noch verwandt schaftliches Gefühl und klaren Verstand besitzen." „Erst will ich diese Papiere selber sehen und genau prüfen." „Natürlich! Aber vorher sind sie schon von Augen ge sehen und geprüft worden» welche viel schärfer sind als die Ihrigen." — „So?" „Ja! Sie kennen ja meine Korrespondenz und unsere mündlichen Verhandlungen seit etwa zwei Monaten. Ihre Enkelin hatte bald nach dem Schiffbruch bei einem alten Arzte, dem Doktor Trinius in Gardig, Aufnahme gesunden. Dieser ehrenwerte Herr hatte ein solches Ge fallen an ihr gefunden, daß er sie adoptieren wollte." „Das soll er nur noch tun! Ich gönne sie ihm von ganzem Herzen." „Das bezweifle ich sehr!" — „Was sagen Sie da?" „Daß ich bezweifle, was Sie soeben behauptet haben. Sehen Sie nur das junge Mädchen erst einmal, und Sie werden den Mann begreifen, aber zugleich auch Einspruch erheben." „Aber, lieber Freund, was glauben Sie denn eigentlich von mir?" „Daß Sie sonst ein kluger Mann sind" — der Greis nickte wie sich bei dem Kompliment verbeugend —, „daß Sie aber in diesem Falle und in diesem Augenblick nicht recht wissen, was Sie reden —" „Was erdreisten Sie sich!" rief der Alte zornig und die Hand erhebend. „Weil Sie Ihre Enkelin noch nicht gesehen haben", schloß der Rechtsanwalt den angefangenen Satz, ohne sich über den Ausruf des Greises weiter zu erregen. „Also ein hübsches Lärvchen, das sogar sonst ver nünftige Menschen fängt!" rief der Greis höhnisch. „Keine besondere Empfehlung für einen Rechtsanwalt!" „Ich sagte Ihnen ja schon", begann der andere wieder ohne jede Erregung, „diesmal hat die Unschuld auch das Recht auf ihrer Seite. Denn jener Doktor Trinius hat dem Gerichtsrat Marsen in Gardig die sämtlichen Papiere Ihrer Enkelin übergeben. Dieser hat sie als Jurist ge prüft und sich infolgedessen seinerzeit an mich gewandt, was Sie ja schon längst wissen. Nach seiner aus der Prüfung der Urkunden erwachsenen Ansicht ist jenes Mädchen Ihre Enkelin und hat jedenfalls ein unbestreit bares Recht wenigstens auf einen Pflichtteil Ihrer späteren Hinterlassenschaft. Gestern habe ich nun die Dokumente selbst geprüft, wie ich Ihnen schon gestern abend berichtet habe, und kann da? nur bestätigen. Und darüber empfinde ich sogar die aufrichtigste Freude." Der Greis schaute starr vor sich hin, als blickte er in die Vergangenheit. Kein Wort sprach er, und auch der Rechtsanwalt unterbrach die Stille in dem Zimmer nicht. „Ich will alles selber sehen", hauchte endlich halblaut der Greis. Erschöpft sank er auf das weiche Kissen zurück, daS an der Rücklehne des Rollstuhles besonders befestigt war. Er schloß die Augen und schien in einen Halbschlaf zu versinken; denn die Unterredung hatte ihn doch ge waltig angegriffen. Nur an den hin und wieder zuckenden Gesichtsmuskeln merkte man, daß sein Geist auch in diesem schlafähnlichen Zustande noch fortarbeitete. Der Rechtsanwalt rührte sich nicht und blickte nur von Zeit zu Zeit auf die Uhr an der Wand, den einzigen Gegenstand, der in dieser Totenstille noch ein gewisses Leben bekundete. Plötzlich ertönte unten die Glocke der Haustür. Erschrocken fuhr der Greis aus dem Schlaf empor und schaute den Rechtsanwalt fragend an. „Sie sind da", sagte dieser ruhig. — „Wer? Sie? Ich denke, nur das Mädchen." „Natürlich Ihre Enkelin, aber in Begleitung ihres väterlichen Freundes und Beschützers Doktor Trinius." „Was will der bei mir?" — „Sie können ihm ja den Eintritt verbieten." — „Das tue ich auch!" „Sagen Sie es ihm selbst." Da öffnete sich die Tür und die alte Haushälterin trat ein mit den Worten: „Ein alter Herr und eine junge Dame ersuchen um die Ehre." „Wir lassen bitten", erwiderte der Rechtsanwalt, während der Greis wieder auf das Stuhlkissen zurücksank. Schritte an der Tür unterbrachen die Stille. Der Rechtsanwalt erhob sich und ging den ihm schon be kannten Ankömmlingen entgegen. Er reichte beiden höflich die Hand und führte das junge Mädchen dem Fenster zu, wo der Greis noch immer mit geschloffenen Augen saß. Von dem Geräusch der Tritte erwachte dieser aus seinem traumähnlichen Zustand und schaute das junge Mädchen wie eine überirdische Erscheinung an. Lange starrte er in ihr Gesicht, als wüßte er nicht, was das alles zu bedeuten hätte. Plötzlich aber fuhr er auf wie aus einer anderen Welr, streckte ihr beide Arme entgegen und rief unter Lachen und Weinen: - „Charlotte, mein geliebtes Weib, kommst du in Jugend schönheit vom Himmel herab wieder auf diese Erde, um mich zu trösten in meinem goldenen Elend? O, komm zu mir, ich gebe alles Gold dahin für dich und deine Liebe! — Oder bist du es nicht? O, mein Verhängnis!" Ohnmächtig sank er in den Stuhl zurück. Betroffen und unschlüssig standen die beiden Männer da. Der alte Arzt wollte sich zu dem Greise wenden, Charlotte aber kam ihm zuvor. Sie stürzte sich in kind licher Regung zu seinen Füßen, umschlang seine schlaffen Hände und rief unter Tränen: „O, mein teurer Groß vater, der einzige Blutsverwandte, der mir auf Erden geblieben ist! Verstoße mich nicht, nimm meine Liebe an und laß mich sorgen für die Gebrechen deines Alters!" „Bist du es nicht?" fragte der Greis, aus seiner Be täubung erwachend, mit schwacher Stimme. „Bist du nicht Charlotte, mein liebes Weib, das der Karl mit seinem Trotz zu Tode gemartert hat?" Erschrocken horchten alle auf, und Charlotte zuckte wie betreten bei diesen Worten zusammen. Hier war also der Grund zu seiner Abneigung gegen den einzigen Sohn, dessen Weib und die unschuldige Waise. Charlotte faßte sich zuerst. „Ach Großvater", rief sie schluchzend aus, „ich bin ja Charlotte, deine Enkelin, und trage nur den Namen meiner verstorbenen Groß mutter." „Ja, ja", begann der Greis nach längerem Schweigen, indem er sich mit der Hand über das Gesicht strich, als wollte er etwas verwischen, was ihn am klaren Denken hinderte. „Jetzt begreife ich alles. Der Bube hat wenigstens in deinem Namen seine Mutter geehrt und dadurch manches gutgemacht." Wieder schwieg er. Plötz lich hob er den Kopf von der Brust und schaute der vor ihm Knienden voll ins Gesicht. Mit beiden Händen er faßte er den zierlich gebildeten Kopf Charlottens und zog ihn etwas näher heran. > „O, welche Wonne verschaffte mir einst dieses lieb« Antlitz!" rief er schluchzend. „Nun ist sie längst dahin, die einst es trug, aber wiedererstanden in ihrer Enkelin!" Er drehte Charlottens Kopf nach rechts und links, hob ihn und schaute prüfend darauf. „Binde den Hut ab", sagte er endlich. Sie tat es und schaute erwartend zu ihm empor. „Ja, sie ist es", rief er aus, „ist es wirklich! Du bist deine Großmutter wie sie leibte und lebte und meine Wonne und Lebenssonne war. — Holt ihr Bild!" wandte er sich an die Umstehenden. „Es hängt an der Wand neben meinem Bett." Der Rechtsanwalt trat in ein Nebenzimmer und kehrte bald darauf mit einem mittelgroßen Ölgemälde zurück? welches eine junge Frau im Hausgewande darstellte. „Das ist sie!" rief der Greis begeistert aus. „So habe ich sie malen lassen, wie ich sie am liebsten sah, als junge Frau im Hauskleide." Betroffen von solcher Ähnlichkeit fuhr selbst der alte Trinius zurück. „Dasselbe Gesicht in zwei Gestalten!" entfuhr es seinem Munde. Der Greis schaute bald auf das lebende, bald auf das tote Gesicht im Bilde, als wüßte er nicht, welches das rechte wäre. Wie zu neuem Leben erwachte er trotz großer Schwäche, und als der Rechtsanwalt nach langer Zeit das Gemälde sinken ließ, blieben seine Blicke aus Charlotten allein haften. „Ja, sie ist es", lispelte er endlich so innig, als handle es sich um seiner Seele Seligkeit, „sie ist es, meine Frau im Himmel und meine Enkelin auf dieser Erde." Eine kurze Pause trat ein. Der Greis sank endlich auf das Kissen zurück und schloß erschöpft die Augen. In natürlicher Regung sank Charlotte neben ihm in die Knie nieder und schaut« voll Mitleid und Liebe zu ihm empor. Längere Zeit herrschte tiefes Schweigen, und man hörte nur die röchelnden Atemzüge Les infolge der seelischen Erregung angegriffenen Greises. „Großvater, willst du^mich noch verstoßen?" klang es leise von Charlottens Lippen. Der Greis erwachte. „Dich verstoßen?" rief er lauter, als man es ihm bei seiner Erschöpfung zugetraut hätte. „Nein, du sollst immer bei mir bleiben, mich trösten für vieles Ungemach und nach meinem Tode meine einzige Erbin sein!" „Sie wollten ja erst noch einen Einblick in die Papiere tun", warf der Rechtsanwalt ein. „Was Papiere oder Urkunden!" erwiderte der Alte fast heftig. „Dies sind die wahren Urkunden, die mir alles sagen, viel mehr, als was Menschen geschrieben haben!" Und dabei zeigte er auf das Antlitz Charlottens. „Gesicht und Gestalt, zierlich und anmutig, alles wie bei der Großmutter! Das ist ein wahrer Sproß meines Geschlechts, eine wahre Bertig, die von der Natur selbst beglaubigt und als echt gestempelt worden ist!" Er zog eine neben dem Rollstuhl an der Wand herab hängende Glockenschnur. „Kommen Sie morgen um dieselbe Zeit wieder, Herr Rechtsanwalt, mein treuester Berater und wahrer Freund", wandte er sich an diesen, ihm die Hand reichend; „bringen Sie das Testament gleich mit, ich will ein neues machen." Dann Charlottens Hand ergreifend, sagte er väterlich in fast bittendem Tone: „Du bleibst bei mir und verläßt mich nicht mehr." Der Diener trat ein. „Fahre mich hinüber in die Schlafstube, Niklas", redete der Greis ihn an; „ich bin sehr angegriffen und muß eine Zeitlang Ruhe haben." Der Diener schob den Rollstuhl herum. An der Türschwelle wandte sich der Greis noch ein mal um und rief seiner Enkelin zu: „Nach Tisch wollen wir weiter reden, liebe Charlotte." Dabei streifte sein Blick auch den Dr. TriniuS, dessen Anwesenheit er ganz vergessen zu haben schien. Befremdet schaute er ihn an, als wüßte er sich nicht zu erklären, wie dieser hierhergekommen wäre und was er wollte. „Der edelmütige Pflegevater Ihrer Enkelin, Herr Dr. Trinius aus Gardig", stellte der Rechtsanwalt vor. „O, seien Sie mir Elomwen!" - rief er-^ihmdie Hand hinstreckend. Sie haben als Fremder die Pflicht des Großvaters uneigennützig übernommen." „So ganz uneigennützig habe ich allerdings nicht dabei gehandelt", erwiderte der Arzt lächelnd. „Denn ich hoffte mir in Charlotten eine liebe Tochter zu erwerben, die mir zu meinem vollen Glück bisher gefehlt hat." „Mir auch", fuhr der Greis fort. „Diese hier können Sie daher erst nach meinem Tode erhalten. Aber bleiben Sie hier, Niklas wird für Sie sorgen." Der Wille des greisen Großvaters war natürlich allen heilig. So blieb denn Charlotte bei ihm, und als nach einigen Tagen der alte Dr. Trinius denselben Weg, den er kurz zuvor im heiteren Geplauder mit seiner geliebten Pflegetochter zurückgelegt hatte, ganz allein nach Hause antreten mußte, da war ihm so weh zumute wie einem sorgenden Vater, der ein liebes Kind in das Getriebe der weiten Welt geführt hat mit der trüben Aussicht, es me oder doch nur selten wiederzusehen. Ausklänge. DaS menschliche Leben ist ein beständiger Kampf, und wer sich dabei unterkriegen läßt, der ist verloren. Stach diesem Rezept verfuhr auch der alte Dr. Trinius, als er nach seiner Rückkehr in sein stilles Heim mit seinem Linchen allein den Versuch unternahm, sich der Erinnerung an das kurze Glück von Charlottens Anwesenheit nicht allzu sehr hinzugeben. Aber die Stille in seinem Hause wurde ihm dennoch bald fast unheimlich. Denn die lustige Doris zog fort und wurde die ehrbare Frau Fersen, und schon im nächsten Frühjahr verlieb auch Dr. Werner die Stadt. Er folgte einer Einladung nach Hamburg und gefiel den: alten Bertig so ausnehmend gut, daß dieser ihn bei sich aufnahm. Er ließ sich in Hamburg als Arzt nieder, bezog die für ihn hergerichteten Zimmer in den unteren Räumen des langen Hauses, und führte noch in demselben Jahre seine geliebte Charlotte als Gattin heim. Durch letztwillige Bestimmung wurde Frau Dr. Werner nach dem Tode des Großvaters Haupterbin eines ansehn lichen Vermögens, und unter den vielen Legaten war auch eins ausgesetzt für die drei Geschwister Fersen, welche da- durch zu einer gewissen Wohlhabenheit gelangten. Alle Jahre besuchte Frau Dr. Werner einmal ihre Lieben in Gardig sowie an der Küste, und brachte jedesmal Freude mit, wohin sie kam, bis der Tod auch hier seine schwarzen Lücken riß. Zuerst starb Mutter Fersen, dann der Dr. Trinius, und bald darauf sein Linchen. Aber auch Frau Dr. Werner selbst erreichte kein hohes Alter. Sie starb, wie ihre Großmutter, deren Abbild sie war, lange vor dem Greisenalter und hinterließ ihrem geliebten Max eine große Kinderschar, durch welche in das einst so stille Haus am Fleet neues Leben ein gezogen war. Und die Geschwister an der schleswigschen Nordsee küste? Sie leben noch heutigentags: in Tasig Oldmanns und in dem Fischerhause am Dünenberg die Fersens. Die Strandung der Brigg vor der Sandbank hat der dänischen Zollbehörde bis zum Wechsel der Landesregierung im Jahre 18 . . noch nachträglich viele Mühe verursacht. Denn nach und nach war es doch herausgekommen, daß die Strandbewohner seinerzeit hinter dem Rücken des Deichgrafen einen großen Teil der Weinladung geborgen hatten; aber alle Anstrengungen, auch nur einen einzigen Schuldigen abzufassen, waren umsonst. Überall an der Küste wurde Wein getrunken, aber keiner wußte, woher er gekommen war. Der Stelle gegenüber, wo einst die Brigg gescheitert war, steht seit etwa zwanzig Jahren im Dünenfelde ein Rettungshaus mit einem seetüchtigen Rettungsboote. Wie es einst der opferwillige Peter Fersen vorausgesagt hatte, haben sich die Strandfischer dem Liebeswerk zur Rettung Schiffbrüchiger freiwillig unterzogen, und an der Spitze der kleinen Schar stebt als Führer sein wackerer Sohn, der mit allen guten Eigenschaften auch den Namen Les Vaters geerbt hat: Peter Fersen. -- . — Ende. —