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um det ihr während der Kirchzell Kaffee zu trinken. Peter fühlte sich in diesem vornehmen Hause zwar nicht recht heimisch und war immer fast froh, wenn er den schuldigen Besuch hinter sich hatte, und jedesmal wurde seine Hoffnung getäuscht; denn Charlotte fehlte; war immer noch Kranken pflegerin bei Anna Bürsen. Aber auf der anderen Seite war die Frau Doktorin doch eine zu prächtige Frau, und Stina plauderte so gern mit ihr, daß er diese immer wieder begleiten mußte. Und war es denn ganz aus geschlossen, daß er die geliebte Charlotte eines Tages un vermutet vorfand? Dabei nahm er denn auch alles andere mit in den Kauf, blieb Stinas treuer Begleiter und wurde ock, der klugen Hausfrau immer wieder aufs neue ein geladen, wenn er Abschied nahm. Endlich wurde Peters Ausdauer belohnt. Als die Geschwister eines Sonntags wiederkamen, trat ihnen Charlotte im Hausflur entgegen, die schon seit einer Woche heimgekehrt war. Die jungen Mädchen umarmten und küßten sich, als hätten sie sich eine kleine Ewigkeit nicht gesehen und wollten sich dafür nun auch nie mehr trennen. Ganz verlegen stand Peter dabei und kam sich so überflüssig vor, wie noch niemals im Leben. Endlich endete auch die zärtliche und stürmische Begrüßung der beiden Freundinnen, und Charlotte reichte auch Petern die Hand, konnte ihm aber kaum in seine ehrlichen Augen sehen. Charlotte führte die Geschwister in die Wohnstube, wo die kleine Familie um den Kaffeetisch versammelt war, sogar Dr. Werner, von dem sie schon früher gehört hatten. „Das ist Peter Fersen*, stellte Dr. Trinius vor, „der brave Netter Charlottens, und dies seine Schwester Christine, Charlottens aufopfernde Pflegerin und meine gute Freundin.* „Ich ahnte es schon*, erwiderte der junge Arzt, den Geschwistern höflich die Hand reichend. „Empfangen Sie auch meine Anerkennung sowie die Versicherung meiner Hochachtung vor so viel Heldenmut und* — zu Stina gewendet — „aufopfernde Liebe und Freundschaft.* Peter wurde ganz verlegen dabei und fand kein Wort dec Erwiderung, Stina aber meinte, das wäre ja einfach ihre Christenpflicht gewesen, und wenn Peter mehr so gute und hübsche Mädchen retten wollte, so hätte sie gar nichts dagegen und wollte sie gern wieder pflegen. „Aber*, schloß sie, „ob ich mit jeder anderen eben solche Freundschaft schließen würde, wie mit Charlotten, das ist doch sehr zweifelhaft.* „Das glaube ich auch*, erwiderte der junge Arzt lachend und ganz erstaunt über das gewandte und schlag fertige und dazu wirklich hübsche Kind aus dem Volke. Charlotte aber umarmte sie aufs neue. „Schmeichlerin*, rief sie, „ich muß dir nun den Mund mit Kaffee und Kuchen schließen, aber im Grunde genommen geht es mir ja ebenso.* Man setzte sich wieder, und Charlotte übte die Pflichten der Tochter vom Hause. Sie reichte Kaffee und Gebäck herum; Peter aber konnte sich an der Zierlichkeit ihrer Bewegungen nicht satt sehen. Natürlich kam man im Gespräch sogleich auf Stinas Hochzeit, und dies Thema bildete längere Zeit den Mittel punkt. Man scherzte und lachte durcheinander, und Stina zeigte sich bei jeder Gelegenheit in Frage und Antwort so gewandt, klug, unbefangen und schlagfertig, als wäre sie in diesem Kreise von Menschen von Geburt an heimisch. Jeder hatte seine Freude an dem frischen Kinde und ver hehlte es nicht. Nur Peter saß steif und unbeholfen da und beteiligte sich mit keinem Wort an dem Geplauder. Ehrbar und bedächtig trank er seinen Kaffee; wenn aber Charlotte bisweilen zu ihm hinübersah und bemerkte, wie un beholfen und bäurisch er dabei verfuhr, so ergriff sie ein gewisses Schamgefühl, als hätte sie selbst seine unfeine Erziehung zu verantworten, wie auch seine groben Manieren. Schließlich bemerkte der alte Trinius Peters unglück selige Zurückgezogenheit, ja Verlassenheit mitten in dieser lustigen Gesellschaft, die so recht nach seinem Herzen war. In seiner Gutmütigkeit beschloß er daher sogleich, ihm zu helfen und ihn ins Gespräch zu ziehen. „Da fällt mir eben ein*, warf er ohne Zusammen hang in das allgemeine Gespräch, „daß du, liebe Cbar« lotte, nicht die erste bist, der Herr Fersen daS Lebest gereitet hat, sondern die zweite. Und auch das erste Mal war es die weibliche Jugend, welcher er seinen Schutz an gedeihen ließ." „Ist das wahr, Peter?* fragte Charlotte auf springend. Und über den Tisch hinweg reichte sie ihm die Hand. „Ei, eil* rief Dr. Werner gut gelaunt. „Darüber weiß ja kein Mensch etwas außer den beiden Beteiligten und meinem verschwiegenen Kollegen Trinius! Also bitte zu erzählen!* „Na, Peter*, rief Stina, „davon weiß ich ja auch noch nichts! Was machst du denn für Streiche hinter meinem Rücken?" — „Aber Stinal* wehrte Peter be leidigt ab. „Ja, Herr Fersen*, sagte der alte Trinius heiter, „Ihre Schwester hat in gewisser Beziehung ja ganz reckt-, denn Ihr Leben haben Sie doch auch das erste Mal aufs Spiel gesetzt, als Sie das kleine Mädchen hier in der Stadt vor den Hufen der mit dem Wagen anstürmenden Pferde retteten.* „Was? Hier in Gardig?* rief Stina. „Ein kleines Mädchen? Was ist das? Das ist ja die größte Neuigkeit!" erscholl es in der Runde. „Ja", antwortete der Alte, „Herr Fersen ist eben ein Mann, der uns in der Aufopferungssähigkeit alle über ragt. Der schlichte Mann vom Deiche ist ein Held gegen uns studierte Männer, und dabei der bescheidenste von uns allen." Darauf erzählte der Alte, wie Peter im vorigen Jahre während des Markttrubels das Leben der kleinen Anna Rikleff gerettet habe. Alle hatten gespannt zugehört, Charlotte mit nassen Augen, während Peters Verlegenheit noch gewachsen war, als müßte er wie ein Schulbube den Bericht eines seiner dummen Streiche mit anhören. Da schwieg der Arzt, aber auch die anderen ver harrten in Schweigen. Nur ihre erstaunten Blicke waren auf den jungen Mann gerichtet, der so viel Aufopferung für seine Mitmenschen bewiesen hatte und dabei mehr als Bescheidenheit zeigte. Charlotte reichte ihm stumm die Hand, aber Peter wagte kaum ihre Fingerspitzen zu berühren. Endlich brach Dr. Werner den Bann, indem er sich über diese Tat sowie Peters ganze Denkweise laut und voll offener Anerkennung äußerte. Der gutmütige Trinius aber wollte gar zu viel Lor beeren für seinen Helden pflücken und rief: „Aber denkt euch bloß, was für ein bescheidener Mensch Herr Fersen ist!" Und nun erzählte er, daß dieser sich noch obendrein Vorwürfe über die paar Schrammen gemacht hätte, welche der kleinen Rikleff bei dem Rettungswerk zugefügt worden waren, und behauptet hätte, ihm, dem Arzt, ver danke sie ihr Leben, da er die unbedeutenden Wunden wieder geheilt hätte. Mit dieser Erzählung aber hatte der Alte seinem lieben Peter keinen Ruhmeskranz geflochten. Dr. Werner brach in ein nicht mißzuverstehendes Gelächter aus, und das brachte den armen Peter ganz außer Fassung, so daß er zerknirscht dasaß, wie ein ertappter Verbrecher. Kein Wort brachte er zu seiner Verteidigung heraus. Stina merkte natürlich auch das Lächerliche seiner Lage und wollte ihm zu Hilfe kommen. „So ist er nun einmal", warf sie hin. „Wenn irgend ein Unglück ge schieht, das er trotz seiner Bemühungen nicht hat ver hindern können, so fühlt er sich mitschuldig und erwartet Tadel, wo er Lob verdient." Damit aber muckte sie es nicht besser: denn nun wurde auch der alte Lrinius von der Heiterkeit seines jungen Kollegen angesteckt. Charlottens Wangen aber färbten sich rot, als empfände sie das Lächerliche seiner Haltung doppelt schwer. Zugleich wurde ihr klar, wie verschieden ihr eigener Charakter, ihre gesellschaftlichen Formen und ihre An sichten von denen ihres Lebensretters waren. Sie dachte an das Gespräch mit Frau Dr. Trinius, sowie an deren Ansichten über eine glückliche Ehe und schaute nachdenklich vor sich hin. Bald bemerkte der alte Trinius, was er in seiner Gutmütigkeit angerichtet hatte. Er hatte seinen lieben Peter in den Mittelpunkt der Unterhaltung ziehen und ihn als einen tüchtigen, unerschrockenen Mann hinstellen wollen, hatte ihn aber gerade dadurch lächerlich gemacht, das Schlimmste, was einem jungen Manne in Gegenwart eines von ihm verehrten Mädchens begegnen kann. Das mußte er denn doch wieder gutmachen. Ohne weiteren Übergang sagte er daher: „Da habe ich heute ein Gerücht vernommen, welches euch alle interessieren wird. Es hängt nämlich mit dem Wrack zusammen, aus welchem Herr Fersen unsere liebe Charlotte noch rechtzeitig ge borgen hat. Man behauptet nun aber, daß außer dieser menschlichen Blume auch noch etwas anderes von den Strandfischern geborgen sein soll, das man wegen seines Duftes ebenfalls den Blumen zuweist. Man sagt nämlich, die Fischer hätten trotz der gegenteiligen Behauptung des Deichgrafen doch Wein von der Ladung geborgen.* — „Wein?" — „Ja, und nach dem Gerücht sogar sehr viel.* „Wie kommt man zu dieser Behauptung?" „Weil die sämtlichen Strandbewohner, die doch sonst nur unser Nationalgetränk verzehren, nämlich verbessertes heißes Wasser —* „Was?" lachte Charlotte. „Verbessertes heißes Wasser?" — „Ja, nämlich Grog." „So! Das wußte ich noch nicht. Aber entschuldigen Sie die Unterbrechung." — „Du, bitte, nicht Siel" „Verzeihe, aber es ist mir noch so neu." „Also gelobst du Besserung in der Behandlung deines alten Pflegevaters?" fragte der Alte scherzend. „Von ganzem Herzen!' rief Charlotte dagegen, sprang auf und gab ihm vor aller Augen einen herzhaften Kuß. „Bravo!" rief Dr. Werner, in die Hände klatschend. „Das ist recht, und mein lieber Herr Kollege läßt sich das auch ruhig gefallen. Was sagen Sie dazu, Frau Doktorin?" „Was kann ich dagegen tun?" erwiderte diese, herzlich lachend. „Ich bin ja seit langer Zeit schon ab gesetzt. * „Bigamie!" rief lachend Dr. Werner. „Meinetwegen, nennt es, wie ihr wollt!" wehrte sich der Alte. „Aber Charlotte gefällt mir und ich ihr auch. Was, Charlotte?" — „Immer", erwiderte sie, „und wenn ich hundert Jahre alt werde l* „Darin liegt ja aber eine böse Ausficht für jüngere Leute, die dich vielleicht begehrten." „Mich will ja keiner", meinte sie neckisch, ihm die grauen Haare streichelnd. — „So?" rief Dr. Werner. Peter hob den Kopf und schaute nach dem jungen Arzt hinüber, als hörte er nicht recht. „Seht den Heuchler!" mischte sich da die Frau Doktorin in das Gespräch. „Vor einigen Wochen erst hat er sich hier auf derselben Stelle nach einer Tochter ge sehnt, damit sie ihm die Stille und Einsamkeit der langen Abende vertreiben helfen sollte; alles bloß aus Eigennutz, denn heiraten dürfte sie nicht —" „Na", wehrte der Alte ab, „nicht ganz so, nur nicht so weit weg." „Ist ja auch nicht nötig!" rief der junge Arzt scherzend dazwischen. Purpurrot färbte sich Charlottens Antlitz, und zitternd schlang sie den Arm um den Hals ihres alten Freundes. „Du liebes Kind!" sagte Trinius halblaut. Peter aber wurde ganz betrübt und schaute verwundert im Kreise herum. „Was wolltest du denn aber von den Strandfischern erzählen, Fritz?" fragte die Hausfrau mit lauter Stimme ihren Eheherrn. „Richtig!" fuhr der Alte auf. „Es wird erzählt, die Leute am Deich sollen jetzt mächtig viel Wein trinken, und nicht nur das, sondern sie sollen auch damit handeln —" — „Strandwein also!" warf Doktor Werner ein. „Strandhafer gibt es da wohl", fuhr der Alte fort, „aber Strandwein? Das kann doch nur geborgener Wein sein, den sie daherum geerntet haben. Was meinen Sie, Herr Fersen", wandte er sich plötzlich an Peter. „Kann an dem Gerücht wohl etwas Wahres sein? Sie können offen reden, denn wir sind keine Verräter." Durch die feierliche Anrede mit „Herr* und „Sie* war Peter völlig verwirrt worden. Es schien ja heute, als ob sein größter Gönner, dc-.- alte Triw"», es geradezu darauf abgesehen hätt^ ihn völlig außer Kurs zu setzen und in diesem lieben Kreise ganz unmöglich zu mackem Er brauchte eine geraum« Zeit, um sich zu fassen, uud das mußte doch allen auffallen und lächerlich er scheinen. Endlich faßte er sich und erwiderte noch langsamer, als es sonst seine Gewohnheit war: „Gehört habe ich wohl davon, und möglich ist eS auch, aber gemerkt habe ich nichts von einer Bergung. Denn in der Zeit, wo dies hätte geschehen müssen, waren wir am Dünenberge nur Tag und Nacht um Fräulein Bertig besorgt und dachten daher an nichts anderes; wenn ich aber wirklich einmal auf den Deich stieg, so nahmen mir Sturnl und Regen die Aussicht. Außerdem war das Wrack ja schon am dritten Tage verschwunden. In der darauf folgenden Nacht holte ich dann den Herrn Doktor Trinius zu uns heraus." Das innige Empfinden, welches auS dieser Darstellung sprach, verfehlte seinen Eindruck auf die Anwesenden nicht, und in dieser Stimmung vergaß jeder alles, was ihm noch kurz zuvor als lächerlich erschienen war. Charlotte aber empfand noch einmal ungetrübt den Widerklang der Neigung, welche dieser Mann ihr von Anfang an so sicht lich entgegengebracht hatte. „Guter Peter", sagte sie herzlich, trat dabei zu ihm hin und legte die Hand auf seine Schulter, „was habe ich euch allen für Angst und Mühe gemacht!" „Hat nichts zu sagen", erwiderte er ruhig. Aber als hätte ihn ihre Berührung elektrisiert, schaute er plötzlich mit Hellem Blick zu ihr empor und sagte sichtlich erregt: „Ich würde alles gleich noch einmal tun und auch mein Leben wieder wagen, wenn es nötig wäre." „Das ist ja der reine Menschenretter von Profession!" rief erstaunt Doktor Werner aus, welchem Peter mit all seinem Denken und Tun wie ein unlösbares Rätsel vorkam. Das brachte den armen Peter wieder einmal ganz außer Fassung: denn Lob, Bewunderung und was er dafür hielt, konnte er ebensowenig ruhig vertragen wie Spott und Hohn und Verdächtigung seines ehrlichen Strebens. Dazu drückte ihn noch Charlottens Dankbar keit, und deshalb glaubte er wieder das Übermaß des Guten abwehren zu müssen, natürlich in seiner komischen Weise, die er jedesmal im ungewohnten Kreise gebildeter Menschen anwendete. „Ohne die Hilfe des Herrn Doktor Trinius", begann er, langsam redend, „hätte mir auch damals alle Mühe nichts genützt, denn Sie lagen ja wohl schon im Sterben, als ich Sie heimtrug. Wenn der Herr Doktor nicht schnell und bereitwillig gekommen wäre, dann waren Sie doch noch verloren. Also verdanken Sie nur ihm das Leben." Auf Peters Erwiderung aber lachte selbst der Alte. „Natürlich*, rief er, „wieder soll es ein anderer ge wesen sein!* Das ist doch die reine Ableugnungsmanie!" Alle lachten darüber, selbst die beiden jungen Mädchen, und der gute Eindruck, den seine ersten Worte gemacht hatten, war wieder vernichtet. Er galt als Sonderling, wenn nicht als närrischer Kauz. „Wenn wir einmal beim Abschieben und Dank- abstatten sind", rief Doktor Werner in die allgemeine Heiterkeit hinein, „dann müssen wir doch auch des vor züglichen Weines gedenken, den Fräulein Bertig durch die Güte deS Strandwirtes während ihrer Krankheit mit so grobem Erfolge genossen hat, wie ich von meinem verehrte» Kollegen gehört zu haben glaube." „Ja", bestätigte Charlotte, ,der hat mir wirklich oft grobe Dienste geleistet. Em kleiner Schluck be seitigte oft die größte Schwäche und gab mir neue Lebens kraft." „Mso", rief der junge Arzt, „hören Sie alle die Be stätigung! Was folgt daraus? Weder Herr Fersen noch Herr Doktor Trinius, sondern jener gute Wein ganz allein hat Fräulein Bertig das Leben gerettet. Mag er nun gesetzmäßig verzollt oder unrechtmäßig erworben und ein geschmuggelt worden sein, ich segne ihn für diese Tat, zu gleich den, der ihn gekeltert hat.' (Fortsetzung folgt.)