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Denn angegriffen war sie doch nach allem, was sie soeben erfahren hatte, und mutzte sich erst im Schlaf wieder neue Kräfte holen. Am andern Tage gegen Mittag satz Charlotte wieder im Lehnstuhl und Stina neben ihr. Diese war jetzt viel mit Weißnäherei beschäftigt. Denn da sie zum Herbst heiraten wollte, so suchte sie jetzt die durch die Pflege der Kranken verlorene Zeit möglichst wieder einzubringen. Charlotte schaute ihr andächtig zu, obne sie durch Fragen in ihren Gedanken zu stören. Sie hatte das, was sie am Tage vorher über ihre Rettung erfahren hatte, still und sinnend verarbeitet, und zu Stinas Freude hatten sich keine üblen Folgen bei ihr gezeigt. Im Gegenteil schien sie ruhiger und kräftiger als sonst. Nach einiger Zeit fing Charlotte an: „Du hast gestern gesagt, das Schiff ist auf eine Bank von Sand geschlagen, und die Wellen sind darüber hinweggegangen. Wie sind deine Brüder dahingelangt?" — „Mit einem Boot." „Mit einem Boot? Aber dann haben sie gewartet, bis daß die Wellen ruhig geworden sind? über so große Wellen kann man doch mit einem kleinen Boot nicht gehen?" „Doch! Sie sind gleich hingefahren über diechohen Wellen. Mutter und ich haben nichts davon gewußt." „Aber da konnten sie ja auch ertinken!" „Ja freilich! Dem Hinnerk ist auch angst und bange dabei geworden, aber Peter hat es durchgesetzt, weil er meinte, es könnten noch kranke oder verwundete Menschen in dem Wrack sein. Na, siehst du, er hat recht gehabt; denn du warst noch in der Kajüte." „Aber die andern? Der Kapitän und die Matrosen, wohin sind sie gegangen?" „Wohl alle ertrunken, im Wasser umgekommen." — „Alle ertrunken, weißt du das gewiß?" fragte Charlotte erschrocken. „Ja, drei Leichen sind sogleich ans Land gespült, drei andere sind später gefunden worden. Sie sind schon lange begraben." Mit starrem Blick schaute Charlotte die Freundin an, ohne auch nur ein einziges Wort über ihre Lippen zu bringen. „Was rede ich da alles!" sagte Stina endlich, er- schroaen über ihr Aussehen, indem sie ihr die Backen streichelte. „Wenn der alte Trinius das erführe, dann gäbe es keinen guten Empfang. Aber nun laß gut sein und frage nicht mehr!" „Doch!" erwiderte Charlotte bestimmt. „Ich will alles wissen, oder ich kann keine Ruhe mehr finden und muß immer denken, schreckliche Dinge denken. Du sagst, drei und noch einmal drei sind ertrunken und begraben. Das sind sechs. Warte!" Und nun zählte sie an den Fingern ab. „Der Kapitän und der Steuermann sind zwei; der gute Jacques, der mir immer geholfen hat, sind drei; der Junge sind vier, und zwei andere Matrosen sind sechs. Ist richtig, sind alle tot. O, ich verstehe jetzt, daß niemand gekommen ist, als ich um Hilfe schrie!" „Arnies Kind!" sagte Stina gerührt, den Arm um sie legend. „Es ist ja aber noch alles gut geworden." „O, ich weiß noch", fuhr sie nach einigem Besinnen wieder fort, „ich weiß noch, wie alles damals war. Die Tür der Kajüte war plötzlich gesperrt, und ich konnte sie nicht öffnen. Da gab es einen großen Krach und einen Stoß, und alles fiel um, und ich stürzte auf die Bank, und dann weiß ich nichts mehr. Hier in dem Bett lag ich, als ich nach einem langen Traume wieder erwachte." „Ja", bestätigte Stina, „zuerst warst du wie tot, und wir waren in Angst um dein Leben. Gott sei Dank, daß Peter noch zeitig genug aufs Wrack kam und dich gleich fand! Neben der Bank in der Kajüte hast du gekniet, und das Wasser ist dir schon bis an den Leib gegangen. Aber immer mehr Wasser ist hineingekommen, und wenn Peter nicht zur rechten Zeit gekommen wäre, dann —" „Dann?" wiederholte sie gespannt. „Nun, das kannst du dir wohl selbst vorstellen, was dann geschehen wäre. Eine halbe Stunde darauf wärst du in dem Wrack selbst ertrunken." „O", rief sie zitternd, „der gute Pierre, daß er mich da fand! Und daß er mich gerade zu dir brachte, daß mich nicht andere Leute fanden! O, ich will ihm durch mein ganzes Leben dankbar sein!" „Andere Leute sind ja gar nicht auf dem Wrack ge I! K Ä«- iö. ! K L 8 89 V 8 Lj « N? 8 6 8 8 >8 'L W 8 L wesen", suchte Stina sie zu beruhigen. „Alle haben sich vor dem Wasser gefürchtet, bloß Peter nicht. Jetzt ist es aber genug. Höre auf zu fragen, du weißt ja nun alles." „O Pierre, du lieber Peter!" flüsterte sie vor sich hin. „Ich wäre tot, wenn du nicht kamst." Dann verfiel sie in tiefes Sinnen. Nach einiger Zeit hob sie wieder den Kopf. „Stina?" „Willst du denn immer noch nicht schweigen?" ant wortete diese ermahnend. „Morgen will ich deine Fragen alle beantworten, heute aber muß es genug sein." „Nur noch eins", sagte sie schmeichelnd, „und das ist so wenig, ist auch nur von Dingen, nicht von Menschen." „Was ist es denn?" — „Wenn die Wellen klein sind, und der Wind nicht mehr stark, kann man dann von hier an das gebrochene Schiff fahren und etwas holen? Meine Bagage, ich meine die Dinge, die ich in meiner Kabine hatte, kann man sie noch holen?" „Ach, du meinst dein Gepäck? Sieh, der Peter ist ein gar umsichtiger und bedächtiger Mensch und hat aus der Kajüte oder aus der Koje daneben etwas mitgebracht, was du vielleicht meinst. Später sollst du es haben; aber auf das Wrack kann kein Mensch mehr gelangen." „Warum nicht?" „Nachdem dich meine Brüder aus dem Wrack gerettet hatten, ist es am andern Margen plötzlich mit allem, was noch darauf war, in die Tiefe gesunken und im Meere verschwunden." (Fortsetzung folgt.) Alas mein einst war... Eine Erinnerung von Paul Hartwig. (Nachdruck verboten.) Die Scheiben meines Fensters sind noch leicht über froren, trotzdem die Sonne schon lange am Himmel steht und im Kamin seit zwei Stunden ein Feuer prasselt. Mir tut die Kälte nichts, ich sitze behaglich in meinem Sessel am Schreibtisch und warte auf glückliche Gedanken für ein Poem zum Namenstag meines jungen Weibchens. Ich weiß selbst nicht, wie es kommt, aber mir fehlt heute die Schaffensfreude, trotzdem meine Umgebung so viel Anheimelndes hat, daß ein weißes Blatt geradezu zum Schreiben verführen müßte. So hatte ich mir mein Heim früher immer geträumt: Mit. rehfarbenem Leder, meiner Lieblingsfarbe, die Möbel bezogen, die möglichst wenig Holz zeigen durften. Die Wände mit Rupfen von ab getönter Farbe bekleidet — ein leuchtend schöner Perser, der den ganzen Boden des Zimmers bedeckt. Maßvoll verteilt hängen in hellbraunen Rahmen gute Kupferstiche meiner Lieblingsmeister und in einer Ecke steht gut be leuchtet eine Kopie der Venus von Tralles in Marmor ausgeführt. An dem einzigen Fenster, welches das Licht in breiten Strömen eindringen läßt, steht ein ganzer Flor von Frühlingsblumen, die mein Weib für mich auf gezogen hat. Aber trotz der Stimmung in diesem heiteren, fried lichen Raum kommt das Gefühl des richtigen Behagens nicht über mich. Es liegt etwas Undefinierbares, Be klemmendes auf mir, das sich nicht abschütteln läßt, so sehr ich mir auch Mühe gebe. Von draußen, aus dem Nebenzimmer oder dem Korridor klingt die Helle, muntere Stimme meiner Lucy, die ihrer Köchin Anweisungen gibt oder sich mit unserm Kleinen amüsiert, der sich in die Rockfalten seiner Mutter gehängt hat und unter keinen Umständen abschütteln läßt. Alle Viertelstunden stürmt sie jedesmal mit einer äußerst wichtigen Angelegenheit zu mir herein. „Walter, störe ich dich? Nein? . Doch? aber ich muß dir unbedingt dies zeigen, glaubst du, daß sich der Kleine darüber freuen wird?" Eben schlüpft sie wieder herein, mein schwarzbrauner Irrwisch, mit einer Rechenmaschine in der Hand. Trotzdem ich nicht mutmaße, daß unser zweijähriger Bube schon für die edle Rechenkunst großes Interesse an den Tag legen wird, stimme ich meiner kleinen Frau doch bei, weil sie einmal in dem Jungen einen Ausbund von Schönheit und Klugheit sieht und sich durch einen Zweifel an seiner eminenten Begabung würde tief gekränkt gefühlt haben. „Gelt, Schatzi, nun läßt du mich ein wenig allein?" „Ich störe di-b doch nicht", meint sie naiv und rafft die Falten ihres hellblauen Kaschmirschlafrockes zusammen; „so, jetzt komme ich aber auch fürs erste nicht wieder", ruft sie mir noch in der Tür zu, um eine Weile darauf doch wieder Hereinzuhuschen. Sie macht ein unendlich schlaues Gesicht und hält in den Händen, die sie auf den Rücken gelegt hat, irgend einen Gegenstand verborgen. — „Rate mal, was ich hier habe? Du weißt es nicht, ja, ja, so kommt man durch Zufall hinter die Vergangenheit seines Maunes. Warte, jetzt mußt du mir beichten." Sie hält mir triumphierend einen Gegenstand vor die Augen, der mir das Blut ins Gesicht treibt. Ich habe mir, einer etwas krankhaften Sentimentalität folgend, Andenken an trübe und frohe Stunden gesammelt und diese in einem Kasten ausbewahrt, den mein Weibchen durch Zufall entdeckte. Sie setzt den einfachen, braunen Behälter auf meinen Schreibtisch, öffnet ihn und wühlt mit ihren kleinen, weißen Händen unter den Karten, verdorrten Blüten und kleinen Erinnerungsgaben. „Gott, wie sinnig, das habe ich dir eigentlich gar nicht zugetraut, und hier — was ist das? also blond war deine frühere Liebe?" Sie hält in der Hand eine Locke langen, aschblonden Haares, deren Anblick mir die Erinnerung erweckt und mit dieser zugleich den Grund meiner trüben Stimmung erklärt . . . Ich nehme sie meinem Weibe sanft aus der Hand, ein leiser, ganz leiser Duft welkender Veilchen schlägt mir entgegen. „Laß das, Lucy, die Erinnerung an die Trägerin dieser Haare ist eine traurige — und gerade heute —." „Also du liebst sie noch immer." — „Ja, ich liebe sie noch immer, aber nicht wie einst, wie eine verstorbene Schwester etwa, deren man in Wehmut gedenkt. Wie sollte ich auch anders, hab' ich doch dich jetzt." Sie schaut mich zweifelnd und schmollend an. „Du sollst jetzt alles wissen, meine Kleine, alles, damit du dir nicht schwarze Gedanken machst und Grund zur Eifersucht zu haben glaubst. Ich will dir die Ge schichte meiner ersten Liebe aufschreiben und dir heute abend, wenn Kleinchen schläft und alles ruhig im Hause ist, vorlesen." Lucy ist ganz ernst geworden, dann nickt sie und sagt: „So, dann will ich dich auch gar nicht mehr stören, aber du mußt auch alles schreiben, wie es war." Sie geht und überläßt mich der Erinnerung an die Vergangenheit, die nie so lebendig ist, wie eben jetzt. * * * Als kleinen Buben mit tief eingefallenen Augen sehe ich mich am Fenster unseres Salons, von dem ich direkt in eine Parterrewohnung gegenüber schauen konnte. Es herrschte trübe Stimmung in unserem Hause, denn während meiner Krankheit, die ihre Schatten über viele Jahre meines Lebens warf, war der Vater jäh und un erwartet einem Schlagfluß erlegen. Mama, die sich schon bei meiner Pflege überanstrengt hatte, war gänzlich ge brochen, und die Schwestern schienen mir in ihren schwarzen Trauergewändern einen Vorwurf zu machen, daß nicht ich lieber gestorben war. Ich hatte nach Kinderart am leichtesten das Weh ver wunden und suchte mir die Langeweile auf alle Weise zu verkürzen und Zerstreuung zu verschaffen. Drüben im gegenüberliegenden Hause hatte ich solche gefunden. Es war allerdings nur ein kleines Mädchen, das meine Aufnierksamkeit fesselte, aber ich hatte von jeher ebenso gern mit Puppen, wie mit Bleisoldaten gespielt, so daß ich es freudig begrüßte, als mein Gegenüber, mich bemerkend, sein Puppenkleid dicht ans Fenster hielt. Es war ein reizendes Wickelkind; ob es wohl die Augen schließen und sich an- und ausziehen lassen konnte? Das be- fchäftigte mich lebhaft. Dann begann das kleine Mädchen zu winken und gab mir durch allerhand kabbalistische Zeichen zu verstehen, daß ihr meine scheinbar verständnis volle Gegenwart nicht unerwünscht sei. Ich verspürte sofort Lust, der Aufforderung zu folgen. Es war auch niemand da, der sich um mich kümmerte, unsere alte Tante hatte in der Küche zu tun und war auch, selbst unbeschäftigt, kein passender Spielkamerad für einen achtjährigen Knaben. Ich besann mich daher nicht lange; vorsichtig stahl ich mich zum Hause hinaus und war eins, zwei, drei über die Straße hinweg vor der Vorplatz tür des Visavis angelangt. Meine neue, noch unbekannte Freundin hatte mich bereits erwartet. Eilfertig zog sie mich ins behagliche Zimmer. „Ich bin Felicitas und sechs Jahre und du sollst mit Mir spielen, hier, halte mal die Wiege." „Ich heiße Walter", erwiderte ich schüchtern die Vor stellung, durch das resolute Auftreten des kleinen Mädchens verblüfft. „Walter, das ist nett, wir hatten einmal einen Bern hardiner Hund, der hieß „Waldo", den hatte ich sehr lieb, ich werde dich auch „Waldo" nennen." — Im Umsehen waren wir die besten Freunde, verheirateten uns, nannten drei Puppenkinder unsere eigenen und kochten kalt mit Schokolade und Biskuits. So spielten wir eine Zeitlang, bis eine große, schöne Frau, die Mutter von Felicitas, ins Zimmer trat. „Ei, wen haben wir denn da?" — Fee vermittelte kurz unsere Bekanntschaft. Ich stand schüchtern zur Seite. „Gelt, du armer Bub', du warst auch gewiß allein drüben, Gott, was das Kind für große, traurige Augen hat." Mit diesen Worten zog sie mich auf ihren Schob und gab mir einen herzhaften Kuß. — Und diese Liebkosung rührte mich zu Tränen, ich verbarg meinen Kopf an ihrer Brust und schluchzte vor Weh. Felicitas begriff mich nicht. „Ein Bub' darf doch nicht flennen", sagte sie und schruppte mir mit ihrem Taschentuch im Gesicht herum. Endlich weinte sie zur Gesellschaft mit, als ihre Mama sie über meinen Verlust aufklärte. Dann wurde ich, durch eine große Tasse Schokolade getröstet, nach Hause geschickt, wo schon alle über mein Ver schwinden in Unruhe waren und Dörte sich bereits zu den abenteuerlichsten Vermutungen verstiegen hatte. Aus diesem ersten Besuch entwickelte sich bald eine warme Freundschaft zwischen hüben und drüben. Fees Mutter, eine geborene Rheinländerin mit ge sundem, lebhaftem Naturell, wurde den Meinen in der schweren Zeit eine wirkliche Stütze, und Fee selbst war in unseren Räumen bald ebenso heimisch, wie in den ihren. An meine Schwestern, die jüngere zählte neun Jahre, schloß sie sich nicht an, die Mädchen waren auch so grundverschieden; ich, Walter, wurde ihr lieber wie „zehn Freundinnen'', denn sie konnte mich ein bißchen protegieren, was sie in ihrer glücklichen Sicherheit gern tat. Wir ließen auch, als wir älter wurden, nicht von einander und ertrugen geduldig die Neckereien der Klassen- genossen. — — Im Spätsommer, wenn die Heide blutrot glühte, gingen wir weit zur Stadt hinaus und lagen unter den kurzen, gnomenhaften Wacholderbüschen, denen die Sonne harzigen Duft entströmen ließ, und lasen zusammen Andersens Märchen und später die Fritjofsage und das Nibelungenlied. Fee hatte nebenbei noch glühendes Interesse für Jndianergeschichten, das ich nicht teilte. Sie schwärmte für Helden der Vorzeit, ihr Ideal war „Dietrich von Bern" und „Hagen von Tronje", aus „Siegfried" und „Lohengrin" machte sie sich nicht viel, „sie sind so schrecklich brav, und ich kann die Tugendesel nicht aus stehen." Überhaupt gehörte Felicitas durchaus nicht zu den artigen Mädchen, wir machten übermütige Streiche nach Noten, und bei ihren Lehrern war sie nicht beliebt wegen ihrer unbequemen Wahrheitsliebe. Sie litt nie, wenn wir irgendetwas verübt hatten, daß ich, sobald es rauskam, die Schuld auf mich wälzte, und sie fuhr mir mehr wie einmal wie eine Wilde in die Haare, als ich eine Tat sache zu ihren Gunsten entstellt hatte. Einer Lehrerin, die einer ihrer Mitschülerinnen unrecht getan, sagte sie kühn den Gehorsam auf und erklärte, nicht früher deren Stunde zu besuchen, bis sie der ungerecht Behandelten Genugtuung hätte zukommen lassen. (Fortsetzung solgt.) , ' 2.. -