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Wochenblatt für Wilsdruff und Umgegend : 25.05.1912
- Erscheinungsdatum
- 1912-05-25
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782024719-191205257
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782024719-19120525
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782024719-19120525
- Sammlungen
- Zeitungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wochenblatt für Wilsdruff und Umgegend
-
Jahr
1912
-
Monat
1912-05
- Tag 1912-05-25
-
Monat
1912-05
-
Jahr
1912
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hundert Jahre hat Marokko geschlafen. Das Zeitalter des Dampfes ist spurlos am Maurenlande vorübergegangen, man hat es hier nicht vermocht, wie in der Türkei, sich zu modernisieren und sich die Kampfmittel des Abendlandes tuzulegen. Die Franzosen stoßen jetzt auf bitteren Hab, aber auf schlechte Bewaffnung. Ihr größter Feind ist die Größe des Landes, das nur wenige Kulturzentren mit schlecht geschützter Verbindung hat. Man denke sich ein Land, so groß wie das Deutsche Reich, ohne Eisenbahnen, ohne Chausseen, ohne Flüsse, und nur ein paar tausend Mann fremder Besatzung in Stettin, Rostock, Lübeck, Hamburg, Berlin und Breslau. Diesen Fremden könnte wahrhaftig daS Blut in den Adern erstarr» Politische Kunäkkau. Deutsches Kelch. 4- In der Zweiten Kammer des elsaß-lothringischen Landtages wurde von einigen Abgeordneten beantragt, daß da- Berfaffungsgesetz vom vorigen Jahre geändert werden soll. Der Satz: »Das Verfassungsgesetz kann nur durch Reichsgesetz aufgehoben oder geändert werden* soll in seinem letzten Teile lauten: „kann nur durch Landes- aesetz geändert werden.* Der Staatssekretär Freiherr Lom v. Bulach ließ in seiner dazu abgegebenen Erklärung keinen Zweifel, daß die Regierung diesem Antrag nicht bettreten könne. Er betonte: Wenn das am 1. September ttt Kraft getretene Verfassungsgesetz auch nicht den end gültigen Abschluß der staatsrechtlichen Gestaltung Elsaß- Lothringens bedeutet, so erscheint es doch ausgeschlossen, daß die Reichsgesetzgebung in der nächsten Zeit Schritte unternimmt, oder daß die elsaß-lothringische Regierung in der nächsten Zeit dafür eintritt, an den Grundlagen der Verfassung im Sinne der vorliegenden Anträge Änderungen oorzunehmen. — Der Anttag wurde trotzdem einstimmig angenommen. * über die Verhaftung des Münchener Rechts- ««Walts Weinberger in Algier, der seinen Bruder aus der französischen Fremdenlegion retten wollte, sind bisher nur Pariser Meldungen bekannt geworden. Nach Mit teilungen aus München stellt sich die Angelegenheit ganz anders dar. Es handelt sich nicht um eine gewalttätige Befreiung oder heimliche Flucht, sondem Rechtsanwalt Weinberger hat auf legalem Wege mit den Behörden über die Befreiung seines Bruders verhandelt, der notorisch herzleidend ist und Leiden erdulden mußte, die jeder Be schreibung spotten. Nachdem man ihm in Paris bedeutet hatte, daß er an Ort und Stelle bei mündlicher Verhand lung ein günstiges Resultat erzielen würde, fuhr ex nach Algier, wo er seinen Bruder infolge der Torturen in der Fremdenlegion als ein Bild des Jammers, körperlich und seelisch herabgekommen, antraf. Trotz der Versprechungen der Militärbehörde in Parts gab man den Bruder jedoch nicht frei und der Rechtsanwalt wollte wieder nach Paris zurückreisen. Der Bruder konnte dies Scheitern seiner Hoffnung nicht ertragen und stieg zu dem Rechtsanwalt in den Wagen, trotzdem ihm dieser davon abriet, worauf beide verhaftet wurden. — Der deutsche Konsul in Algier ist von dem Falle benachrichtigt worden. 4- Zu der vom Reichstag bekanntlich beschlossenen gesetzlichen Gültigkeit der Mischehen (Ehen zwischen Weißen und Farbigen) kommt jetzt aus Deutsch-Südwest- afrtka eine interessante Kundgebung. Es wird nämlich soeben aus Windhuk gemeldet, daß der dortige Landesrat zwar im Fall gesitteter Lebensführung die Anerkennung der bis 1905 geschlossenen Mischehen befürwortet, aber wünscht, daß für die Zukunft jede Ehe zwischen Weißen und Eingeborenen strengstens zu verbieten sei. Der Landesrat sieht in einer Heiratserlaubnis eine schwere Gefahr für das Deutschtum und befürchtet die Abwanderung der besten Kolonisten aus Deutsch-Südwestafrika. Rumänien. X Gelegentlich der beabsichtigten Donaureise des Königs Karol von Rumänien hat die Polizei in Braila den Plan eines Attentates gegen den König aufgedeckt. Das Attentat wurde von drei russischen Anarchisten gegen den Herrscher vorbereitet, der eine fünf- bis sechstägige Donau reise zu unternehmen sich anschickt. Die Anarchisten haben in Braila die Handelsangestellten Angyel, Okreanu und Zajnik gedungen, um den König Karol durch einen Bombenwurf zu töten. Während es den russischen Anarchisten gelang, rechtzeitig zu flüchten, wurden die Handelsangestellten verhaftet. Eine Haussuchung in den Wohnungen der Verhafteten führte höchst koinpromittierende Korrespondenzen zutage. Hus In- uncl Auslanck. Breslau, 22. Mai. Fürstbischof Dr. v. Kovp hat sich einer Operation unterzogen, die der Patient gut über standen hat. Peking, 22. Mai. Auf den Sjäbrigen ehemaligen Kaiser von China soll ein Mordanschlag verübt worden sein. Als er auf der Palastterrasse spielte, wurde plötzlich auf das Kind geschossen, ohne es zu treffen. Trotz sofortiger Nachforschungen ist es bisher noch nicht gelungen, des Täters habhaft zu werden. Berlin, 23. Mai. Die Mitglieder des preußischen Ab geordnetenhauses Peltasohn (fortschr. Vp-, gewählt in Mogtlno-Wongrowitz) und Firzlaff (k„ gewählt sin Köslin- Kolberg) sind gestorben. Dresden, 23. Mai. König Friedrich August von Sachsen vollendet am 2ö. Mai sein 47. Lebensjahr. München, 23. Mai. Der Prinzregent ernannte den geistlichen Rat, Dekan und Stadtpfarrer von St. Elisabeth m Nürnberg, Jakob Hauck, zum Erzbischof von Bamberg. Wien, W. Mai. Ministerpräsident Graf Stürgkh hat dem Kaiser sein Rücktrittsgesuch überreicht. Graf Stürgkh leidet an einem Augenübel. Parts, 23. Mai. Der Leiter des Blattes „Anarchie* Gillet ist wegen Aufreizung zum Morde verhaftet worden. Stockholm, 23. Rai. Der Staatsrat hat die vom Schwedischen Panzerschiffverein rum Bau eines Panzer- fchtffes gespendete Summe von 12 Millionen Kronen angenommen. Der König hat dieser Summe 100 OVO Kronen aus seiner Schatulle hinzugefügt. Mas gibt es Oeries? (Telegraphische und Korrespondenz-Meldungen.) kalkerUeke bkrungen. Berlin, 22. Mai. Für die glückliche Durchdringung der Wehrvorlage und deren Deckung hat der Kaiser den beteiligten Staatsmännern heute hohe Auszeichnungen verliehen. Zwar ist der Reichskanzler nicht, wie vorher gemutmaßt wurde, in den Grafenstand erhoben worden, dafür hat er jedoch das Kreuz der Grobkomture des König liche«..Hausordens von Hobenzollern erhalten. Dem Staatssekretär des Reichsmarineamts, Staatsminister v. Tirpitz, wurden die Brillanten zum Schwarzen Adler orden verliehen, dem Kriegsminister v. Heeringen der Schwarze Adlerorden und dem Staatssekretär des Reichs schatzamts, Kühn, der Königliche Kronenorden erster Klasse. I)«rr v. Payer KeletzstagspraNckent? Stuttgart, 22. Mai. Viel besprochen wird hier die an und für sich nicht bedeutsame Tatsache, daß der Präsident der württembergischen Kammer Herr v. Payer einen längeren Urlaub angetteten hat und heute in Berlin eingettoffen ist. Bekanntlich erklärte Herr v. Payer schon vor längerer Zeit, er beabsichtige, sein Mandat in der württembergischen Kammer niederzulegen, um sich ganz der parlamentarischen Tätigkeit im Reichstage zu widmen. Daher will man bei dem jetzigen Urlaub wissen, daß Herr o. Payer als Nachfolger des gegenwärtigen Prä sidenten des Reichstags, Dr. Kaempf, der bekanntlich sein Mandat niederzulegen beabsichtigt, in Bettacht komme. Er war schon bei der letzten Präsidentenwahl als ernster Kandidat genannt worden. Kulttancks ckeutlcker Lolkckasler gestorben. Berlin, 22. Mai. Der russische Botschafter in Berlin, Graf o. d. Osten-Sacken, ist in Monte Carlo heute gestorben. Mit ihm ist ein treubewährter, tüchtiger Diplomat dahingegangen, der Rußland seit 17 Jahren in Berlin vertrat und sich als guter Freund Deutschlands bekannte. Da der Graf am 26. März 1831 geboren wurde, also 81 Jahre alt war, stellte er den Senior aller europäischen Diplomaten dar. Bis in sein hohes Alter hatte er sich jedoch eine außerordentliche Frische und Lebendigkeit be wahrt. Ihm gebührt das Hauptverdienst daran, daß die Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland auch durch die Ara des intriganten Iswolski nichts von ihrer alten Freundschaftlichkeit verloren. Graf v. d. Osten- Sacken war ein Diplomat der alten Schule im besten Sinne des Wortes. Sein Tod wird aufrichtig bedauert. Mas vill kialckane? Berlin, 22. Mai. Der englische Kriegsminister ist zu einem Besuche in Berlin heute abend eingettoffen. Es wird zwar englischerseits erklärt, der Besuch sei absolut privater und informaler Natur, aber es dürste immerhin auffällig erscheinen, daß der englische Kriegsminister binnen kurzer Zeit zweimal angeblich aus rein privaten Gründen in Berlin weilt. Es wird daher verschiedentlich behauptet, Lord Haldane bezwecke eine Aussprache über den Tripoliskrieg und Italiens Austreten im Ägäischen Meere. Ein cteutkcker Kecbtsanvpalt in Algier verkästet. München, 22. Mai. In Sidi-Bel-Abbas in Algier ist soeben der 34jährige Rechtsanwalt Adolf Weinberger von hier auf der Durchreise verhaftet worden. Er soll sich der Beihilfe zur Desertion und des unerlaubten Waffenttagens schuldig gemacht haben, indem er, wie französischerseits behauptet wird, seinem Bruder, der vor einiger Zeit in das 1. Regiment der Fremdenlegion eingetteten war, zur Flucht verhalfen habe. Beide saßen bereits im Zuge nach Oran, als sie erkannt und von den französischen Behörden verhaftet wurden. Dernburg nicbt unter Anklage. Berlin, 23. Mai. Wie allgemein behauptet wurde, sollte die Staatsanwaltschaft gegen die Vorsitzenden des Propaganda-Ausschusses von Groß-Berlin, die Herren Staatssekretär a. D. Dernburg und Dr. Hegemann, An klage wegen Aufreizung zum Klassenhaß erhoben haben, weil sie ein Bild in den Ausschußschristen verwendeten, welches ein verhungertes Proletarierkind im Gegensatz zu einem wohlgenährten Bürgerkind darstellte. Das bestätigt sich jedoch nicht. Zwar ist eine Anzeige bei der Staats anwaltschaft eingereicht worden und der Oberstaatsanwalt hat auch die von dem Propaganda-Ausschuß heraus gegebenen Säulenanschläge und Postkarten geprüft, hat jedoch, wie er heute mitteilt, zu einem Einschreiten keine Veranlassung gefunden. Es ist daher weder Anklage erhoben worden, noch ist sie für die Zukunft beabsichtigt. Sckutr gegen sAaul- uncl klauenkeucBe. Rostock, 23. Mai. Nach längerem Studium gelang es dem Präparator am Hygienischen Institut der hiesigen Universität, Wilhelm Grugel, den Erreger derMaul- und Klauenseuche in Kulturen zu züchten und aus abgetöteten Kulturen eine Lymphe herzustellen, deren Einimpfung Tiere gegen die Seuche immun macht. Es wird nun heut aus landwirtschaftlichen Kreisen heraus die Hoffnung ausgesprochen, daß die zuständigen Behörden den Entdecker, der allein das Geheimnis der Herstellung der Lymphe kennt, bald in die Lage versetzen werden, seine Entdeckung der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Qnck nochmals Dr. Kolb. Dresden, 23. Mai. Die Affäre des als Oberbürger meister von Zittau nicht bestätigten Bürgermeisters von Burgstädt, Abg. Dr. Roth, beschäftigte heute abermals die Zweite Kammer. Im Auftrage der Fortschrittlichen Volks partei, der Dr. Roth angehört, haben zwei Abgeordnete dieser Landtagsfraktion Einsicht genommen in die Men über den „Fall Roth*, die die Regierung der Kammer zur Verfügung gestellt. Einer der Abgeordneten hat nun heute vor Eintritt in die Tagesordnung eine Erklärung ab gegeben, wonach die von der Regierung vorgelegten Akten keine Stütze für die Dr. Roth gemachten Vorwürfe ab geben, mit Ausnahme der Tatsache, daß er sich am Glücks spiel beteiligte. Bis zum Herbst wird man in unserem Parlament nichts mehr über den „Fall Roth* hören, denn bis dahin hat sich soeben die Kammer vertagt. StraÜenkämpke in Kuciapelt. Budapest, 23. Mai. Bei dem heute hier plötzlich ein setzenden Massenstreik der Budapester Arbeiter wegen der Wahlrechtsfrage kam es zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei. In der Waitzenersttaße bewarfen Arbeiter die Polizei mit Steinen und gaben etwa 70 Schüsse ab. Die Polizei erwiderte das Feuer, wobei ein Arbeiter ge tötet und neun verwundet wurden. Am Freiheitsplatze hielt die Menge vorüberfahrende Lastwagen an und wollte Barrikaden bauen. Bei den mehrfachen Attacken zur Säuberung des Platzes kamen zahlreiche Verletzungen vor. Die Menge floh, zertrümmerte dabei Schaufenster und Laternen, hielt Straßenbahnwagen an, demolierte sie und warf einige um- Als mittags dreitausend Demonstranten aus Neupest amnarschiert karnen, entwickelten sich regel rechte Sttatzenkämpse, die schweren Charakter annahmen: Die gesamte Budapester Garnison mußte zur Aufrecht erhaltung der Ordnung mobilisiert werden. Die Husaren wurden mit Steinen und Hämmern beworfen und ein Husar durch einen Schuß getötet. Als die Polizei einem Trupp Arbeiter, der ins Parlament eindringen wollte, entgegenttat, wurde ein Polizist niedergeschossen. Im ganzen find vier Personen getötet und 150 ver wundet. — Im Parlament setzte man die Verhandlung trotz der Straßenkämpfe fort. „Das Parlament ist keine hysterische alte Jungfer*, sagte Graf Tisza. Wahrscheinlich wird Ministerpräsident Lukacs eine Erklärung in der Wahlrechtsfrage abgeben, die die Arbeiter befriedigen wird. Sonderbarer Parteikeiliger. Newyark, 23. Mai. Täglich wird es zweifelhafter, wie der neue Präsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika heißen wird, denn die täglich einlaufenden Berichte über das Ergebnis der Vorwahlen in den einzelnen Staaten ändern das Bild. Bald ist Taft oben, bald steht Roosevelt an der Spitze. Hier verlautet, Taft fange an, an seiner Wiederwahl zu zweifeln. Aus Ärger über seine Niederlage werde er aber dafür sorgen, daß der demokratische Gegenkandidat siege. Tast gehört bekanntlich, wie auch Roosevelt, der republikanischen, das ist soviel wie konservativen Partei an. Er würde^somit Lem Grundsatz huldigen: „Erst meine Person, dann die Partei!* Das wäre allerdings ein sonderbarer Parteiheiliger. Rach Preußens Jall. Es ist uns nachgeborenen Geschlechtern kaum möglich, uns in den dumpfen Druck der furchtbar schweren Zeit hineinzuversetzen, der über Deutschland nach Preußens Fall 1806 und 1807 und nach Ler endgültigen Niederwerfung Österreichs 1809 lastete. Ungeheures war geschehen. Der Staat Friedrichs des Großen, gefügt, schien es, einer Ewig keit zu trotzen, war über Nacht zusammengebrochen. Alte Sünden hatten sich schwer gerächt. Man war, nach einem geistvollen Worte der Königin Luise, etngeschlafen auf Len Lorbeeren Friedrichs des Großen. D^n Weisheits« satz der alten Römer, daß Staaten nur durch die Mittel er halten werden können, durch die sie errichtet wurden, hatte man, wie nicht selten in Preußens Geschichte, vergeßen. Leichtsinn, Verschwendung, Sittenlosigkeit hatten in den oberen Ständen um sich gegriffen. Das schlimmste aber war, daß dieses tolle Leben den alten Preußengeist zerfressen hatte. Preußen war groß geworden durch rege Anspannung aller seiner Kräfte im Frieden und zum Kriege, durch eiserne Disziplin, durch kluge Anpassung an die Erfordernisse neuer Zeiten. Was davon übrig geblieben, war fast allein die Karrikatur, die der außerordentlich strenge Knopf- und Gamaschendienst des Heeres auf die Zeit-des Großen Friedrich bildete. Man ist sich darüber einig, daß die automatische Schulung der preußischen Armee niemals vollendeter war als 1800. Wir wissen, was sie genützt hat. Vergebens hatten geniale, meist allerdings auch undisziplinierte Köpfe eine Reform des Heeres gefordert. Dazu kam, daß Preußen seit dem Feldzug in der Champagne keinen Krieg, seit idem Siebenjährigen keinen ernsthaften Krieg mehr geführt hatte. So war der Schwung, der zu des Alten Fritzen Tagen Armee und Land zu einem Ganzen geschmiedet, längst entschwunden. Der Bürger sah gleichgültig, wo nicht feindselig auf die aus allerhand Gesindel und zahllosen Landfremden mit dem Stock zu einem einheitlichen, willenlosen Körver erzogene Armee. Gewiß war in der nicht alle Tapferkeit ent schwunden. Taten persönlicher Bravour sind auch 1806 ebenso zu rühmen, wie das musterhafte Verhalten der schlecht ge führten Truppen im Feuer. Aber Ler alte Geist fehlte. Und so kam es, als eine unfähige, ränkesüchtige und falsche Diplomatie auch den Frieden m Unehren nicht mehr aufrecht zu erhalten vermochte, zu dem entsetzlichen Zusammenbruch. Man vergegenwärtige sich: das uneinnehmbare Küstrin kapitulierte — unter Ingersleben — mit 4000 Mann vor zweihundert bis dreihundert Husaren, denen man Kähne schicken mußte, damit sie in die Festung hineinkämen. Magdeburg, die stärkste Feste der Monarchie, die seit Tilli keinen Feind mehr in seinen Mauern gesehen hatte, ging — unter Kleist mit 18 anderen Generalen — ohne Kanonenschuß an Ney über; der war mit 10 000 Mann und einigen leichten Feldgeschützen vor die Stadt gerückt, hinter deren uneinnehmbaren Wällen mehr als doppelt soviel Truppen, 22 000 Mann, mit 800 Geschützen standen. Ohne Kanonenschuß oder nach kurzer Scheinoerteidigung fielen Spandau, die Zitadelle von Berlin; Glogau, die zweit- stärkste Festung der Monarchie; Breslau, Schweidnitz, Stettin, ebenso später Danzig. Was war von Preußen nach dem Tilsiter Frieden übriggeblieben! Ein verstümmelter, in zwei schmale Zipfel auslaufender Leid, dessen wichtige Festungen alle in der Hand des Landesfeindes blieben. Gewiß, in diesem Lande batte sich, trotz alledem und alledem, mächtig ein neuer Geist zu regen begonnen. Aber würde er rum Heile führen? Seine Vertreter waren fast alle Ausländer — der gewaltige, übrigens längst von Napoleon geächtete und nach Rußland geflohene Stein ein Nassauer, Hardenberg ein Hannoveraner, Scharnhorst desgleichen, ein Bauernsohn, Gneisenau Ler Sohn eines österreichischen Hauptmannes. Die Preußen vom echten alten Schrot und Korn — wie Tork, wie Marwitz, Finken- stein, Arnim-Boitzenburg — standen grollend beiseite." Gewerbefreiheit, Aufhebung der Leibeigenschaft, Selbst verwaltung der Städte, Konstitutionsversprechen: lauter „jakobinische* Neuerungen, die Preußen nur noch tiefer in den Abgrund reiben müßten. Es ist durchaus unsinnig, zu denken, daß die damalige Opposition des AltpreußentumS aus niederen Beweggründen hervorging. Nein, es war in der Tat eine Operation auf Leben und Tod; und man mußte schon die geniale Heldenseele eines Stein sein eigen nennen, um ohne Wanken in der Revolution von oben her, in der Umkehrung aller Staatsgrundlagen das Heil zu er blicken. Und wie sollte die Rettung kommen? Der Völker- frühling in Österreich 1809 war ausgestampft worden, Schill, Dörnberg, der Braunschweiger: soviel Versuche, soviel Fehl schläge, die Rheinbundstaaten zum Teil, die Rheinbund truppen, die auf glorreichen Schlachtfeldern mit den Franzosen Ruhm und Ehre geteilt hatten, durchweg hingen begeistert an dem Heros Napoleon. Österreich, dessen Erz herzogin Marie Luise mit ihm vermählt war, mußte willenlos seiner Politik folgen. Der moralische Wider stand gegen den Korsen war in Deutschland allein auf Preußen beschränkt. Und dieser verstümmelte Zwerg sollte dem Riesen widerstehen? Es wagte den Widerstand nicht. Preußen verbündete sich mit Napoleon, als dieser zum Zuge gegen Rußland rüstete. Damit war der Abgrund nationaler Schmach erreicht. Ein volles Viertel der preußischen Offiziere, über 800, darunter Leute wie Gneisenau, Scharnhorst, Boyen, Clausewitz, nahmen ihren Abschied — di« meisten, um gegen Napoleon in Rußland u«d Spanien zu fechten. Der Aufschwung, den Fichte- Reden an die deutsche Ratton, die Bestrebungen der Tugend« bund^», die Tätigkeit der Arndt, Schleiermacher, Jahn, Steffens, ««eftindigt batte, schient« der Mitte abgebrochen.' Di« besten Patrioten trugen da- alte Preußen in ihrem H««en zuMrao«.
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