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«öundervarer Weise gerade Hierher'geführt hat! Euch allen vertraue ich, aber die Menschen da draußen sind kalt und gefühllos, und jeder denkt nur an sich selbst. Mir ist es, als wäre hier meine Heimat und überall anderswo die remde." „Nun*, sagte der Alte schmunzelnd, »wir stoßen dich nicht fort, und wenn es Stina und Peter etwa doch tun sollten, so komm zu mir; meine Frau nimmt dich gern als Tochter an, da wir selbst keine haben, sondern lauter Jungen und alle erwachsen. Aber du brauchst dich vor ihren Streichen nicht zu fürchten; denn sie sind alle ausgeflogen, und jeder hat sich sein eigenes Leim gegründet.* „Das wird ja immer schöner!' rief Stina, im Scherze schmollend. „Vorläufig ist sie noch meine Schwester und meiner Mutter Pflegetochter, und weiß auch selber, wie wir über sie denken. Aber der alte Man da*, wandte sie sich an Charlotte, indem sie lachend auf den Arzt zeigte, „hat dich in deiner Erzählung ja ganz ohne Not unter brochen. Was hast du denn dem weisen Advokaten geantwortet, und wie bist du auf das Schiff gekommen? Das ist doch eine große Hauptsache für deine späteren Ansprüche und auch für deine Stellung bei deinem Groß vater.* „Recht hat sie, die kluge Fischerprinzessin", lachte der Alte, „das müssen wir erst wissen." „Ach, das ist eine lange und zugleich auch eine kurze Geschichte", begann Charlotte wieder; „lang, weil der Briefwechsel sehr langsam vor sich ging, so daß mehrere Monate darüber verflossen, und kurz, weil der Inhalt der Briefe fast immer derselbe war. Ich schrieb dem Advokaten, wenn mein Großvater gar keine verwandtschaft liche Neigung und auch kein Mitleid für seine einzige Enkelin fühle, und durch die einstige Bitte eines nun Toten für sein Kind nicht gerührt worden sei, so würde ich am liebsten jede Annäherung meiden und in der weiten Welt allein meinen Unterhalt zu verdienen suchen. Da ich mich aber in Frankreich nicht heimisch fühlte und gern zu meinen Stammverwandten übersiedeln wollte, wo mir vielleicht auch meine Kenntnis der französischen Sprache von Nutzen sein könnte, so bäte ich wenigstens um Reise geld und bei meiner Ankunft um Obdach auf kurze Zeit, bis ich irgend eine Stellung gefunden hätte. Zunächst wollte der Advokat darauf nicht eingehen und antwortete, Herrn Bertig wäre jetzt die ganze Sache leid, und er wolle nichts mehr davon wissen. Er bot mir einige Tausend Franks an, wenn ich jeden weiteren An spruch und Annäherungsversuch aufgeben und in Frank reich bleiben wollte. Erst als ich dieses Ansinnen empört zurückwies und kurz und bündig erklärte, ich würde mich jetzt, wenn nötig, bettelnd nach Deutschland durchschlagen und in irgendeiner deutschen Stadt ein Unterkommen suchen, erst da kam schnelle Antwort, ich möchte nach Hamburg kommen, wo wir alles andere mündlich ab machen könnten. Dazu erfolgte eine kleine Summe als Reisegeld." „Prachtmädel!" rief der Alte ganz vergnügt und stolz. „Hast dir nichts vergeben, sondern alle Rechte ge wahrt. Nun mag der Herr nur kommen! Aber Hand darauf, daß du keinen Schritt in dieser Sache ohne mich unternimmst!" „O gern!" rief sie gerührt und ihm die schmale Hand reichend. „Was sollte ich auch allein wohl anfangen?" „Und wie bist du auf das Schiff gekommen?" „Fast ein volles Jahr seit dem Tode meines Vaters", fuhr sie fort, „hatten die Unterhandlungen gedauert, und meine letzten Barpfennige waren längst verzehrt. Als ich aber nicht mehr zahlen konnte und doch bestimmt erklärte, ich wollte in Bordeaux nicht bleiben, sondern zu meinen Stammverwandten nach Deutschland übersiedeln, da schwand auch die Teilnahme und gute Behandlung, die man mir in der ersten Zeit entgegengebracht hatte. Man sah eine Abtrünnige und Undankbare in mir und wollte mich ohne Bezahlung nicht mehr beherbergen. Da ich aber fest entschlossen war, nötigenfalls sogar zu Fuß nach Deutschland zu wandern, wobei ich alle meine Habe doch nicht mitnehmen konnte, so versetzte ich fast alles bei einem Leihamt, in der stillen Hoffnung, von Hamburg doch noch Hilfe zu erhalten. Mit dem Erlös habe ich bis zur Ankunft der Geldsendung gelebt. Sofort löste ich l meine Koffer wieder ein, sah aber dann zu meinem ' Schrecken ein, daß der kleine Rest von dem Gelds zur Überfahrt lange nicht ausreichte.* Sie schwieg eine Zeitlang; denn das viele Reden hatte sie doch sehr angegriffen. Die beiden anderen aber schauten von Mitleid bewegt still vor sich hin. Endlich fuhr sie fort: „Aus dieser Verlegenheit half mir der srühere Prinzipal meines verstorbenen Vaters, ein sonst als geizig bekannter Mann. Wie er es aber tat, in dem Wege, den er vorschlug, darin kann ich nur eine gütige Schickung des Himmels erblicken, damit ich zu euch, ihr Lieben, gelangte. Er hatte nämlich von meiner bestimmten Absicht, nach Deutschland auszuwandern, gehört. Mag es nun sein, daß er sich selber sagte, er müßte doch für die Tochter seines langjährigen, treuen Gehilfen etwas mehr tun als gute Wünsche und Mitleid äußern, oder sei es, daß er mich, den Gegenstand des Gesprächs in vielen Familien der Stadt, endlich entfernen wollte, kurz, er ließ mich eines Tages zu sich rufen und teilte mir mit, wenn ich durchaus nach Deutschland übersiedeln wollte, so böte sich jetzt eine passende und billige Gelegenheit dazu, da er eine Ladung Wein mit der Brigg „La Fortune" nach Hamburg senden wolle und —* „Ach!" rief der alte Arzt. „Wie heißt das Schiff?" — „La Fortune*. „Also ist die durch die Zeitungen verbreitete Ver mutung richtig", sagte der Arzt. „Und Wein war seine ganze Ladung?" — „Soviel ich weiß, ja." „Dann wird mir manches klar. Aber bitte, fahre fort." „Der Kaufmann", begann Charlotte wieder, „bot mir freie Überfahrt auf dem Schiffe an. Natürlich nahm ich seinen Vorschlag an und dankte ihm noch für seine Groß mut. Wenn ich freilich damals schon gewußt hätte, was ich später erfuhr, so wäre mein Dank vielleicht weniger herzlich ausgefallen, aber vielleicht ist es besser so gewesen. Bei meinen etwas überschwenglichen Dankesworten über seine väterliche Sorge und Uneigennützigkeit wurde er etwas verlegen. Endlich, nach einigem Drehen und Wenden, meinte er, zwar hätte er ursprünglich noch eine Bitte an mich zu richten beabsichtigt, doch wolle er sie nun doch lieber nicht äußern, damit ich ihn nicht miß verstände. Natürlich drang ich nun erst recht in ihn, und endlich kam er damit heraus. Ich sollte nämlich unter wegs dem noch etwas ungeschickten Koch an die Hand gehen und ihm mit meiner Kenntnis helfen, indessen möchte er mir das bei näherer Überlegung nun doch nicht zumutsn. Freilich, schloß er achselzuckend, würde mir dann das Essen wohl oft nicht behagen; doch schließlich liebe sich daran nichts ändern, da er einen guten Koch nicht habe austreiben können. Natürlich erklärte ich mich mit Freuden sofort bereit, alles zu tun, was in meinen Kräften stände, ja die Kocherei sogar ganz zu über nehmen, soweit es meine Kräfte erlaubten. Da wurde er noch einmal so freundlich und entließ mich mit warmem Händedruck. Auch ich war in jeder Beziehung froh und zufrieden. Denn ich bekam dadurch unter der Besatzung des Schiffes einen gewissen Halt und vertrieb mir selbst die Lange weile damit. Daß ich mit meiner Kochkunst aber kläglichen Schiffbruch leiden würde, brauchte ich kaum zu befürchten, da ich sechs Jahre lang unsern Hausstand ohne Hilfe ge führt hatte. Auf dem Schiff erst erfuhr ich durch den Kapitän, daß der Geizhals durch mich einen ganzen Matrosen, das heißt den Koch, erspart hatte; denn er hatte überhaupt für keinen gesorgt. Ich verdiente mir also meine überfahrt selbst, und hatte den Dank obendrein abgestattet. Mag sein, aber er hat mir dennoch geholfen, und ich bin ihm dankbar dafür. Nachdem ich zum letztenmal die Gräber meiner Eltern besucht, sie mit Blumen geschmückt und daselbst lange weinend zugebracht hatte, kehrte ich in die Stadt zurück, doch nur, um mich sogleich auf das Schiff zu begeben, welches segelfertig im Hafen lag. Ich bekam die Kabine n eben der Kajüte, und eine halbe Stunde darauf verließen wir Bordeaux. Aber als der freundliche Kapitän hörte, was ich leisten sollte, schimpfte er gewaltig auf den geizigen Reeder und bestimmte sogleich einen Matrosen zu meiner Unterstützung. Zwar habe ich trotzdem viel zu tun gehabt, aber die Leute waren gut und freundlich, und so ertrug ich alles gern bis an das unglückselige Ende der Fahrt. (Fortsetzung folgt.) Vie Artischocke. Humoreske von Dr. Max Hirschfeld. - . . (Nachdruck verboten.) „Das muß man gestehen", sagten die Leute auf der Promenade zueinander, „so stolz, wie der Leutnant von Wetter, kann nicht jeder einherschreiten. So etwas liegt nun einmal im Menschen, und das kann man sich nicht nehmen und nicht geben." „Und wie er den Säbel rasseln läßt", flüsterten die Backfische, „beinahe ebenso wie Graf Straht, aber nicht ganz so, man merkt den Unterschied in der Tonart." Dabei machten sie Mienen von Sachverständigen, denn sie hatten ja Musikmappen am Arm. — Auch die erwachsenen jungen Damen beschäftigten sich mit dem Leutnant, obwohl ganz und gar keine Aussicht vorhanden war, daß er eine von ihnen heirate, denn sie hatten ja selbst geholfen, ihn mit der jungen Baronesse Helene von Bieberfeld ins Gerede zu bringen. „Heute hat er einen ganz besonders schneidigen Gang", sagten sie, „gerade, als ob er das große Los gewonnen hätte." Aber in dieser Annahme täuschten sie sich. Der Leutnant schritt nur deshalb so stolz einher, weil er, da es nur zwei Tage vor dem Ersten waren, nicht mehr als eine Mark in der Tasche hatte und er sich diesen eines schön gekleideten jungen Menschen unwürdigen Zustand nicht anmerken lassen wollte. Eine elegante Equipage rollte über den Asphalt. Darin saßen die Baronin von Bieberfeld und ihre Tochter Helene. Der Leutnant grüßte verbindlich. Der Wagen hielt plötzlich an. „Wohin, Herr Leutnant, wenn man fragen darf?" — „Wollte eben ins Sekthaus dinieren geh'n, gnädigste Frau Baronin." Dabei schlug er unwillkürlich mit der Hand, die stramm an der Hosennaht lag, auf die Börse, in der sich die eine Mark befand. — „Dann bitte, steigen Sie ein, wir haben denselben Weg. Wir haben uns nämlich ent schlossen, Ihre wiederholte Einladung zum Diner an zunehmen. Heute ist nämlich mein Mann aufs Land ge fahren, um seinen Hafer zu besehen, und da wollen wir uns ein wenig herumtreiben." Der Leutnant hatte sonst keinen Grund, dem Baron von Bieberfeld zu grollen, denn dieser gab ibm stets von seinen Privatzigarren und nicht von denen, die im Besuchszimmer standen, aber in diesem Augenblick wünschte er ihn zu allen Teufeln. Auch das bestrickende Lächeln der schönen Helene prallte diesmal wirkungslos an ihm ab. Und wie verwünschte er seine eigene Ünklugheit und Renommisterei. Fast jedesmal, wenn er bei den Bieber felds Mittag aß (und das geschah so oft, als es anständigerweise geschehen konnte, einerseits der schönen Helene wegen, andrerseits des schönen Essens wegen, denn der alte Bieberfeld hielt auf einen guten Happen), pflegte er die Speisen ausnehmend zu loben und hin zuzufügen: „Schmeckt famos! Zehnmal so schön wie im Sekt haus! Obgleich das doch bei den Kameraden wegen seiner guten Tafel berühmt ist. Wenn's nicht unbescheiden wäre, würde ich die Herrschaften einladen, dort einmal meine Gäste zu sein." Nun also mußte er die größte Freude heucheln, in den Wagen springen, den Rücksitz einnehmen und bis zum Sekthaus den Schwerenöter spielen, obgleich ihm ganz anders zumute war. Bald darauf saßen sie im Saal des Sekthauses und aßen und tranken mit bestem Appetit, die Damen mit viel besserem als der Leutnant, und während er gerade einen Witz machte, den er vor kurzem gelesen hatte, dachte er bei sich: „Ich weiß nicht, was das ist. In mich muß die Seele eines alten Wucherers hinein gefahren sein." Er verfärbte sich, weil seine Gäste versicherten, sie hätten heute ungewöhnlichen Appetit, und er zuckte zu sammen, als die Baronin zum zweiten Male Artischocken bestellte. Hauptsächlich ärgerte er sich, daß ihm jeder Bissen vergällt und jeder Schluck des herrlichen Champagners durch die Notwendigkeit, ihn nachher zu bezahlen, ver- bitiert wurde. Dazu hatte er stoch entschiedenes Pech. Baronesse Helene, von der eS sonst allgemein hieß, sie lebe nur von Luft und Liebe, bewies heute in über zeugendster Weise das Gegenteil, und obgleich er der Frau Baronin versicherte, die Erdbeeren seien in dieser Jahreszeit (in Ler sie gerade besonders teuer waren) außerordentlich ungesund, erwiderte sie, der Arzt hätte ihr ausdrücklich Erdbeeren verordnet. „Und der Vorschrift des Arztes folge ich unbedingt", sagte sie, ihre Erdbeeren energisch bezuckernd. Endlich kam der verhängnisvolle Augenblick, in welchem der Leutnant die Rechnung fordern mußte, und während ihm in Erwartung derselben grün und gelb vor den Augen wurde, versicherte die Baronin, das moderne Restaurant wäre das achte Wunder der Welt, das wahre „Tischlein deck' dich", man äße, wozu man nur irgend Appetit habe und sei zu keiner anderen Gegenleistung verpflichtet, als ein paar blanke Metallstücke auf den Tisch zu werfen. „Jawohl! ganz meine Meinung, gnädigste Frau Baronin", versicherte der Leutnant, während er mit zitternder Hand vom Kellner, der sich darauf diskret zurückzog, die Rechnung in Empfang nahm. — Ein undvierzig Mark und fünf Pfennige! Diese Summe stellte er fest, nachdem die Zahlen aufgehört hatten, ihm vor den Augen zu tanzen, und während er bald zu der einen, bald zu der anderen der beiden Damen hinüber lächelte, überlegte er angstvoll, wie er es anfangen solle, mit einer Mark die gewünschte Summe zu bezahlen. Er hätte den Wirt ins Vertrauen ziehen können, aber er kannte diesen nicht, und bei der Größe des Etablisse ments war der Wirt überhaupt ein geheimnisvoller Faktor, mit dem er nicht so beliebig rechnen konnte, wie mit dem Wirt der Stammkneipe. Und dann — gegen eine feind liche Batterie vorzugehen, hätte er sich erforderlichenfalls nicht gesträubt, denn das wurde von ihm ja verlangt, das erwartete man ja von ihm. Aber daß er vornehme Damen bewirten würde und nachher nicht bezahlen könne, das er wartete niemand von dem Träger einer blauen Uniform, die noch obendrein rote Aufschläge hatte. Kurz, die Sache war ihm peinlich, und er hatte nicht den Mut, dem Kellner zu sagen: „Ich möchte mit dem Direktor des Etablissements sprechen." Dagegen erhob er sich plötzlich und sagte: „Die Damen verzeihen einen Augenblick." „Wahrscheinlich", flüsterte die Baronin ihrer Tochter zu, während sie ihrem hastig dahinschreitenden Gast geber nachsah, „hat er von der Ananas Leibschmerzen be kommen." Aber sie täuschte sich. Der Leutnant eilte auf die Straße und händigte einem an der Ecke stehenden Dienst- manne seine goldene Uhr nebst Kette ein. Dieser ver schwand und kehrte nach einigen Minuten mit der Summe von 42 Mark und einem Pfandscheine zurück. Den letzteren steckte er schnell in die Tasche, und von dem Gelde gab er, ohne nachzurechnen, dem Dienstmann zwei Mark. Doch bevor er noch auf seinen Platz zurückgekehrt war, stieg es ihm schon siedendheiß in den Kopf. Er besaß jetzt 41 Mark, und die Rechnung betrug 41 Mark und fünf Pfennige. Er eilte sofort auf die Straße zurück, — der Dienstmann war nirgend mehr zu sehen. Also zurück auf den Platz. Die Damen blickten ihn verwundert an. Der Kellner trat näher wie ein drohendes Gespenst. „Der Herr Leutnant entschuldigen, — die Rech nung " „Jawohl, jawohl", erwiderte dieser, vor Angst schwitzend, und zog langsam die Börse aus der Tasche. „Der Herr Leutnant entschuldigen", wiederholte der Kellner, „in die Rechnung hat sich ein Fehler ein geschlichen, — der Preis für die Artischocken ist um eine Mark zu hoch angesetzt. Ich werde das sogleich ändern." Eine Zentnerlast fiel von dem Herzen des Mars sohnes. Heiteren Antlitzes legte er seine 41 Mark auf den Tisch. „Das übrige für Sie als Trinkgeld", sagte er nach lässig zum Kellner. — Er war wieder einmal sehr nobel gewesent . . i. ————