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gesucht, da die See noch zu hoch ginge und ihre großen Boote alle leck geworden wären. Trotzdem befahl der Deichgraf, ein Boot fertig zu machen, da er das Wrack besichtigen wollte. „Äwer bi dei Seel" riefen alle und stellten sich ent setzt. „Harr Gräfe, seihn S' de Flut bi den Wind und denn uns' legen Böt'!" Aber er blieb dabei, und so mußte man ihm denn wohl den Willen tun. Indessen sollte er seine Strafe er halten. Das Schusterboot mit dem Leberfleck wurde nun auf einmal als das beste angesehen. Man machte den Deichgrafen auf die schadhafte Stelle erst nicht lange auf merksam, sondern schob es ins Wasser, die vier längsten Männer setzten sich nach einer geheimen Besprechung mit dem Strandwirt auf die Ruderbänke, der Beamte nahm den Mittelsitz ein, und fort ging es jetzt. „Wenn wi nu äwer versupen?" fragte der lange Jakob, der hinter dem Deichgrafen faß. „Dann sterben wir den Heldentod, und der Staat sorgt für unsere Weiber und Kinder", erwiderte stolz der Deich graf. „So?" machte Jakob. „Dat segg'n Sei woll, äwer Sei sind jo gornich verfliegt!" — „Das ist meine Sache!" rief wütend der Deichgraf. „Min' ok!" entgegnete Jakob, matz mit dem Ruder die Tiefe des Wassers und trat sodann mit dem Fuß gegen den angenagelten Lederfleck. Das Wasser drang ein und begann das Boot zu füllen. „Dat verdammtige Leck'" schrie einer. „Un de negen- klouken Beamten!" fuhr ein anderer fort. Alle aber blieben ruhig sitzen und versuchten das Boot zu wenden, was indessen auffallend langsam vor sich ging, so daß es schon fast ganz mit Wasser gefüllt war, als die Wendung vollzogen war. Da sprang entsetzt der „Gräfe" auf, und diese Bewegung genügte, um das Boot zum Kentern zu bringen. Es sank schnell auf den Grund, und die In sassen mit. Ein furchtbares Geschrei erhoben die am Strande zurückgebliebenen Männer und schoben dabei ein Boot ins Wasser, als wollten sie den Verunglückten zu Hilfe kommen. „Hilfe! Rettet mich! Alle meine Habe als Belohnung!" schrie der geängstigte Teichgraf, indem er sich an den laugen Jakob auklammerte. „Will ik jo ok!" erwiderte dieser ruhig, obgleich er bis ans Kinn im Wasser stand. Ein anderer griff noch zu, und dann wateten sie dem Strande zu, den Beamten wie ein hilfloses Kind mit sich schleppend. Endlich traten sie auf festen Grund und setzten die Jammergestalt nieder. So, gerettet war er allerdings, aber hatte seine Ehre nicht gelitten? Was wäre wohl ohne die Hilfe dieser rohen Menschen aus ihm geworden! Hätten sie ihn nicht ertrinken lassen können? Und zu alle dem sagte jetzt gerade der lange Jakob noch: „So, Herr Gräfe, nu de versprakene Belohnung!" „Holl bin Mul!" rief darauf zwar ein anderer, aber einen Riß in seiner Beanitenehre fühlte er dennoch. Unter diesen Umständen sah er es als eine doppelte Wohltat an, als der Strandwirt ihn aufforderte, mit ihm in sein Haus zu kommen und sich seiner nassen Kleider zu entledigen. Er folgte ihm dankbaren Herzens, ging aber unbewußt in eme neue Falle; denn der schlaue Thiesen wollte ihn nur für möglichst lange Zeit unschädlich machen; um den anderen eine Gelegenheit zur Bergung der Ladung zu verschaffen. Der Wirt führte ihn in eine dem Strande abgewendete Giebelstube, half ihm, die nassen Kleider abzulegen und heizte selbst den Ofen, als der Deichgraf ins Bett ge krochen war. Kleider und Stiefel trug er zum Trocknen hinaus und kam bald mit heißem Wasser, Rum und Zucker wieder. Davon braute er dem am ganzen Leibe vor Frost zitternden Deichgrafen scheinbar besorgt einen steifen Grog und nötigte ihm, der als Landeskind an solche Genüsse freilich gewöhnt war, doch eine folche Menge ein, daß er bald in festen Schlaf verfiel und alles um sich her vergaß. Währenddessen setzten die Strandbewohner ihrBergungs- gefchäft fort, diesmal sogar die ganze Nacht hindurch, und als der Deichgraf am nächsten Vormittag erschien, hatten sie kaum noch etwas vor ihm zu verbergen oder seine An wesenheit zu bedauern. Denn soweit es das Wasser im Wrack überhaupt gestattete, hatten sie alles Erreichbare geborgen und versteckt. Eine ganze Wagenladung Wein war sogar noch in der Nacht an einen bekannten Gast- Wirt in der nächsten Stadt abgegangen, was aber noch in den Häusern am Strande geblieben war, und zwar der allergrößte Teil, konnte nur durch Zufall entdeckt werden. Denn fast alle diese Häuser hatten geheime Verstecke. Am andern Morgen erwachte der Deichgraf ziemlich spät und dazu noch mit einem Gefühle, als hätte er junge Mäuse im Kopfe und Draht in allen Gliedern. Endlich erinnerte er sich an die Ereignisse des vorhergehenden Tages und an den Zweck seiner Reise. Sogleich richtete er sich auf, um sich anzukleiden. Aber es blieb zunächst beim guten Willen; denn alle seine Kleidungsstücke waren verschwunden. Er fing an zu rufen und zu klopfen; und endlich er schien der Wirt. Dieser äußerte zwar wiederholt seine Freude darüber, daß dem Herrn „Gräfe", wie der Deich graf allgemein genannt wurde, das kalte Bad so gut be kommen wäre, bedauerte aber, daß die Kleider nicht ganz getrocknet wären. Das Unterzeug und die Stiefel, meinte er, wären zwar trocken, die Uniform aber nicht, und dazu wäre die Dienstmütze ganz verloren. Da half kein Fluchen und Bedauern, und er mußte sogar dankbar sein, als ihm der Wirt einstweilen den Anzug seines Sohnes anbot. Denn unbedingt mußte er noch einmal an den Strand und auf das Wrack, da er genauen Bericht abstatten und seinen Diensteifer in das rechte Licht stellen wollte. Aber Niß Thiesens Anzug wollte ganz und gar nicht passen; denn dieser war ein besonders langer Enakssohn, während der Deichgraf kaum Mittelgröße hatte. Ärmel und Hose waren um einen Fuß zu lang. Es dauerte daher lange, bis der sonst eitle Mann sich entschloß, seinen kurzen Leib in diese weite Welt zu stecken. Die schwarzen Hosen wurden bis ans Knie umgekrempelt, die Weste reichte ihm bis weit über den Leib, und die graue, mit dlanken Knöpfen besetzte Jacke, deren Ärmel bis zum Ellenbogen umgeschlagen waren, schlotterten lose um den Leib, und als er noch die viel zu weite Pelzmütze aufgesetzt hatte, sah er aus wie eine Vogelscheuche. Aber ein Spiegel war nicht vorhanden, und da der Schalk von Strandwirt gut zuredete, obgleich er sich kaum das Lachen verbeißen konnte, so gab sich der Deichgraf darein, verzehrte schnell ein Frühstück und eilte an den Strand. (Fortsetzung folgt.) Zus äem lieben eines kleinen Märtyrers. Von Thomas Köbar. (Nachdruck verboten.) Es ist morgens um 7 Uhr, und da es Winter ist, herrscht fast noch finstere Nacht. Die Magd beginnt ihre Tagesarbeit im Wohnzimmer, und inan hört deutlich das Geräusch der Bürste, mit der sie den Fußboden wichst. Im Schlafzimmer schlafen zwei glückliche Menschen den Schlaf der Gerechten. Plötzlich rührt sich etwas neben dem Bett. Zwischen den leichten Spitzenvorhängen wird ein kleines Händchen sichtbar, das zaghaft die Decke eines der großen Betten berührt. Nur das gleichmäßige Atemholen der Tief schlafenden reagiert darauf. Nun guckt ein kleines, rundes Köpfchen zwischen den Vorhängen hervor. Es blickt mit weitgeöffneten Augen auf die Schläfer, und Freude erglänzt in denselben. Sie haben im Halbdunkel die schlafende Mama erkannt. Wie das kleine, blonde Geschöpfchen dort sitzt, schätze ich es höchstens drei Jahre alt. Aber trotzdem vermag es mit seinen kleinen, fleischigen Händchen an der Decke ziemlich kräftig zu ziehen. Und um seine Lippen spielt ein schalkhaftes Lächeln, als es die Schläferin halblaut anruft: „Mama, Mamachen!" Wie es dies ausspricht und wie es das Erwachen seiner Mama erwartet, sieht man deutlich den großen Ge danken seiner kleinen Seele: wie wird sich Mamachen freuen, daß ihr kleines Kindchen dort sei! Aber es ereignete sich etwas ganz anderes: die Mama, die sich erst nach Mitternacht zu Bett gelegt, stöhnt unwillig, und in- dem sie sich auf die andere Seite wendet, tut sie, als ob sie nichts gemerkt hätte. Das Kleine glaubt ihr das auch, und deshalb zieht es nun noch kräftiger an der Decke und ruft lauter: „Mama, Mama!" Und um der Mama die erfreuliche Situation noch deutlicher zu machen, setzt sie beglückt hinzu: „Klärchen ist schon aufgewacht." „Ruhig", antwortet ihr seufzend die Mama, „du siehst doch, daß ich noch schläfrig bin." Auf Klärchen ist diese Argumentation ohne jede Wirkung. Denn wenn sie schlafen gehen muß, wenn Mama no-ckb nicht schläfrig ist, so kann sie doch auch aufwachen, wenn Mama noch schlafen möchte. Darum kniet sie auch bereits in ihrem Bettchen, und Liebe durchzieht ihr kleines Herz, als sie ihr Mütterchen nun bereits ganz deutlich erkennt. Sie beugt sich zu ihr hinüber, daß sie sacht hinausfällt. „Marsch zurück", schreit die Mama sie mit der Nervosität eines aus dem Schlaf gestörten Menschen an. „Du bist ein böses Kind, wenn du deine Mama nicht schlafen läßt." Klärchen fährt zurück, ja im ersten Schrecken verkriecht es sich sogar wieder in den Falten seines Bettchens. Mit weit geöffneten Augen denkt es nach, die Lippen zucken ein wenig, als ob sie weinen wolltrn. Und es denkt un gefähr folgendes: „Ich wäre ein böses Kind? Ich wollte mein Mütterchen küssen, ist denn das etwas Böses? Mütterchen sagt immer: küsse mich! Und jetzt, da ich erwacht bin, will ich sie küssen. Mama wird sich darüber gewiß freuen, sie scherzt gewiß nur." Und in dieser festen Überzeugung setzt sie sich wieder auf, zieht wieder recht kräftig an der Decke, und wie eine, die ihrer Sache sicher ist, ruft sie aus voller Kehle: „Mamachen, Klärchen will dich küssen." „Mein Gott, mein Gott", stöhnt die arme Mama, „man kann sich nie ausschlafen. So komm denn, du böses Kind, aber liege still, sonst lege ich dich wieder in dein Bettchen zurück." Klärchen kümmert sich wenig um die drohende Klausel und läßt sich in das große Bett heben, ohne sich zu irgendetwas verpflichtet zu haben. Sie umfaßt das Mütterchen, die durch die süße, weiche Umarmung bereits ausgesöhnt ist, aber da ereignet sich plötzlich eine neue Sensation. Im anderen Bett entdeckt Klärchen einen «Schnurrbart, den sie unbedingt ein wenig zupfen muß. Darüber pflegt sich Papa zu freuen — erfreuen wir ihn also! Aber es fiel schlecht aus. Papa schlägt ihr sehr energisch auf die Hand. Zugleich schreit er die Mama an: „Wenn du nicht Sorge trägst, daß ich mich ausschlafen rann, werde ich mein Bett im Speisezimmer aufschlagen. Was denkst du denn? Wie soll ich einen klaren Kopf be halten, wenn ich nicht ausschlafen kann?" „Aber Lieber, was soll ich denn tun? Auch ich möchte noch gern schlafen, kann ich denn dafür, daß dieser Nichts nutz mit den Hühnern erwacht?" „So lege das Kind später zu Bett oder lasse es zeitiger hinaustragen, aber etwas müßt ihr mit ihm tun." Klärchen entnimmt aus diesen Worten nur soviel, daß Papa nicht aus Scherz auf ihre Hand geschlagen. Infolge dessen empfindet es bitteres Weh im Herzen, und es beginnt laut zu weinen. Und dies hatte dreierlei zur Folge. Erstlich wurde Papa noch wütender und erklärte, daß, falls es nicht sofort still sei, er es gründlich durchprügle. Andernteils erbarmt sich nun Mütterchen ihrer, und um es vor der Strafe zu schützen, drückt sie Klärchen ans Herz und überhäuft sie mit Küssen und Liebkosungen, was Klärchen ungemein wohltut; aber drittens eilte auf das laute Weinen hin auch das Kindermädchen mit wirrem Haar herbei, worauf Papa den Befehl erteilt: „Nehmen Sie den Schreihals sofort hinaus." Das Kindermädchen langt sofort nach Klärchen, die sich verkriecht und sich an Mama schmiegt. Was wieder aus doppelter Ursache geschieht. Ihre durch die rauhe Behandlung erschreckte Seele hatte sich in den Armen ihrer Mutter beruhigt, und das Kindermädchen will nun diesen wohltätigen Ge. esungsprozeß stören. Andernteils herrscht im Schlafzimmer sibirische Kälte, während es unter der Decke schön warm ist. Und Klärchen nimmt man immer in dieser grimmigen Kälte aus dem Bett, weil dies sehr gesund sein soll. „Nun, wird es endlich?" brummt Papa aufs neue. „So geh' doch schon, mein Goldpüppchen, sei gut und folg' dem Papa." , Nach Verlauf eine- Halben Stunde rührt sich der Herr Papa und stöhnt: „Ist denn noch immer nicht eingeheizt? Wie soll ich denn aufstehen?" Auch Mama streckt sich und prüft mit der Hand die Luft. „Es ist eine sibirische Kälte. Man predigt den Mägden vergeblich." — Sie läutet. „Marie, Sie haben ja wieder nicht eingeheizt." „Aber gnädige Frau, ich mußte doch das Kind schleunigst ankleiden." „Das Kind, immer das Kind", brummt der Herr Gemahl, „nun muß ich also, weil dieser Balg unartig ist, Schnupfen bekommen." Der „Balg" steckt nun sein Näschen zur Tür hinein. Es hat längst alle Unbill vergessen und betrachtet neu gierig die faulenzenden Eltern. — „Sag' schön „guten Morgen", ermahnt sie Mama. Klärchen schleicht zu ihr, ergreift ihre Hand, drückt einen innigen Kuß darauf und bietet lächelnd den Mund zum Kusse dar. „Zuvor wünsche „guten Morgen", spricht der Papa. „Jedes gute Kind wünscht des Morgens „guten Morgen". Klärchen weiß nicht, was morgens ist und was das Gutenmorgenwünschen bedeutet. Sie weiß nur, daß sie ihre Eltern liebt und daß der Ausdruck aller Liebe der Kuß sei. Es will ihr nicht in den Kopf, was sie mit ihrem Verlangen eigentlich bezwecken wollen, und dies drückt sie damit aus: „Ich kann nicht „guten Morgen" sagen." „Du hast es doch eben gesagt, du Dummkopf", schreit sie der Vater an. „Wirst du gleich sagen: „Guten Morgen!" Auch Mama ist derselben Meinung, daß das Kind außerordentlich trotzig sei. Sie kann es sagen und sagt es dennoch nicht. Dann fürchtet sie aber auch die Strenge des Papas und bittet Klärchen flüsternd: „So sag' schön „guten Morgen", damit Papa nicht zürnt." Klärchen blickt wie versteinert auf ihren ernst blickenden Papa. Sie weiß, daß es schlimm ausfällt, wenn sie nicht tut, was man von ihr verlangt, und sie folgt doch nickt. Die Allmacht der Kindermoral hält sie davor zurück, daß sie etwas tue, was sie Nicht verstehen, nicht begreifen kann. Papa und Mama jedoch verstehen dies nicht, und beide bemühen sich mit vereinten Kräften, den Trotz des Kindes zn brechen. Klärchen steht heulend in der E. e und darf sich nicht rühren, bis sie nicht „guten Morgen" wünscht. Ihre aufrichtige Seele ist dies nicht imstande, aber das hat sie bereits erfahren, daß alle Moral der großen Leute hinfällig wird, wenn sie eine Weile lang weint. Dann wollen sie nicht mehr einen „gulen Morgen", sondern nur Stille, denn Papa will seine Zeitung lesen. Infolgedessen beginnen die Friedensunterhandlungen. Vom „guten Morgen" ist keine Rede mehr. Jetzt heißt es nur: „Bitte um Verzeihung." Aber Klärchen begreift auch dies nicht. Bei anderer Gelegenheit müßte sie deshalb in der Ecke stehen, aber jetzt wollen sie sich damit ihren Rückzug sichern, und sie sinnen nach Verschiedenem, was Klärchen willig wäre, zu erfüllen, damit sie ihr verzeihen können. Schließlich be gnügen sie sich damit, womit sie Klärchen gleich anfangs befriedigen wollte, nämlich mit einer Umarmung und einem Kusse. Papa und Mama haben sich unterdessen bereits er hoben und bemühen sich so schnell als möglich, ihre Waschungen oorzunehmen. Im Winter ist dies sehr un- angeuehm. Das kleine Klärchen aber waschen sie unbarm herzig mit dem kalten Schwamm, weil dies „sehr gesund ist und man das Kind abhärten muß". Das kleine, junge Klärchen brüllt wohl so fehr es kann, und bis es seinen Frühstückskaffee bekommt, hat das Glück und der Aug apfel der jungen Eheleute schon soviel Qualen durck- gemacht, daß, falls der Gemahl seiner Frau soviel Schmerzen verursacht hätte, diese längst weinend zu ihren Eltern gelaufen wäre, da sie eine solche Behandlung nickt ertragen und nicht verzeihen könne. Klärchen aber erträgt es und verzeiht es. Vielleicht muß sie deshalb soviel leiden.