Volltext Seite (XML)
WMatt für WW Freitag, den 24. Dezember 1915. 2. Beilage zu Nr. 148. Tum Okristfell 1915. Von Hofprediger Lic. Doehring-Berlin. Jes. 60 Vers 2: „Siehe, Finsternis ve« deckt das Erdreich, und Dunkel die Völker; aber über dir gehet auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheinet über dir." In der Tat: Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker. Schon vor'm Jahr schnitt dieses Propheten- rvort tief in unsere Seele. Wer es war uns, als müsse die Weihnacht 19'14 einzig in ihrer Art in der Geschichte unseres Volkes dastehen. Über's Jahr, so sagten wir damals, haben wir sie wieder zu Hause unsere kämpfenden Brüder und — so fügten wir cheiß wünschend hinzu — daß dann doch ihrer nicht allzuviele fehlen möchten! Es ist anders gekommen. Wir stehen mitten im zweiten Kriegswinter, wir begehen die zweite Kriegsweib nacht. Und wieder ist's nicht nur Prophetenwort aus ferner, vergangener Zeit, sondern es ist Tatsache, er schütternde Tatsache und Gegenwart: Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker. Es geht uns wie den Frommen in Israel, die den Tag der Erlösung herbei sehnten und immer dringlicher und dringlicher fragten: Hüter, ist die Nacht schier hin? — — Und sie mußten lange, lange warten. Endlich kam der Tag, nein, es kam eine Nacht —, eine Nacht mit seltsamem Sternenschimmer und aus Engelsmund klang die Bot schaft: Friede auf Erden! Dann brach der große Morgen an und die Welt mußte es staunend und bewundernd er leben; aus dem Kindlein, das im armseligen Stall zu Bethlehem geboren wurde „wohl zu der halben Nacht" ward der Größte, den je diese Erde getragen, ward der Heiland aller derer, die aus der Finsternis heraus nach dem Licht, aus dem Dunkel ihres Lebens nach dem Sonnen tag des lebendigen Gottes sich sehnten! Daß wir doch eins nur nicht vergeßen möchten in dieser Zeit des Bangens und Wartens: nicht nur wir warten, sondern unser Gott wartet auch. Das ist's ja überhaupt, worin unsere Frömmigkeit, wenn sie wirklich wurzelecht ist, bestehen soll und muß: wir dürfen unsere Augen nicht bloß immer auf das gerichtet haben, was wir tun und was uns geschieht, sondern das müssen wir klar zu erkennen uns bemühen, was Gott tut und — was er von uns fordert. Die Krippe zu Bethlehem, das Kreuz aus Golgatha, das zerbrochene Grab im Garten des Joseph von Arimathia — alle sind Taten Gottes und alle schließen Forderungen Gottes in sich. Was auch in der Welt ge schehen mag, nicht das Geschehen ist Gegenstand unseres Glaubens, sondern der, dessen gewaltige Hand in diesem Geschehen erkennbar wird. Es ist doch so, wenn ein Vater mit seinem Kind durchs Dunkel geht, dann faßt das Kind ganz von selbst nach der Hand des Vaters und faßt sie fest. Lasset uns von unsern Kindern lernen! Nicht dadurch kommen wir .in diesem nächtigen Dunkel des Weltkrieges auch nur einen Schritt weiter, daß wir klagen und fragen: warum und wie lange? sondern einzig und allein dadurch, daß wir mutig in die Finsternis um uns her Hineinlaufen und die Hand unseres Vaters herzhaft fassen. Dann und nur dann wird nicht nur der erste Teil jenes Propheten- »ortes an uns zur Wahrheit werden, der von Finsternis und Dunkel redet, sondern auch der andere: aber über dir gehet auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheinet über dir. Vor hundert Jahren durste Ernst Moritz Arndt nach der Niederringung der Zwingherrschaft Napoleons auS jauchzender Seele singen: Wem soll der erste Dank erschallen? Dem Gott, der groß und wunderbar Aus langer Schande Nacht uns allen In Flammen aufgegangen war, Der unserer Feinde Trotz zerblitzet, Der unsere Kraft uns schön erneut, Und auf den Sternen wallend sitzet Von Ewigkeit zu Ewigkeit! Was er damit ausspricht, ist genau dasselbe, weis wir auch werden jubelnd und dankend sagen dürfen, wenn GotteS Stunde gekommen ist, wenn wir lange genug auf ich« g»- wartet haben. Wirklich, aufs Warten kommts an! Warten können ist eine der vornehmsten Eigenschaften unseres Christen glaubens. Denn aus dem Warten heraus ist er einmal geboren worden und aufs Warten ist er angelegt. „Seid den Menschen gleich, die auf ihren Herrn warten", hören wir unsern Heiland sagen. Und damit deutet er uns das ge heimnisvolle Dunkel, das über uns in diesen Kriegslagen lagert: es ist die Adventszeit eines kommenden Weih- nachtstages, an dem aus der Finsternis Licht, auS den» Warten Erfüllung wird: aber über dir gehet auf der Her«, und seine Herrlichkeit erscheinet über dir. Freilich —, dies Wort ist nicht ohne weiteres zu uns Deutschen gesagt. Ich gehe kaum fehl, wenn ich annehme, daß es auch in den Reihen unserer Feinde manchen gibt, der daran seine Hoffnung klammert. Auf wen wird es nun zutreffen? Uber wem wird die Herrlichkeit des Herrn erscheinen? — Wir fühlen wohl alle den ungeheuren Ernst dieser Frage und unser Herz schlägt, indem wir zur Ant- wort uns anschicken. Wir wollen sie auS der Geschichte geben, nicht von anS selbst. Die Verheißung unseres Prophetenwortes galt dem Volk Israel. Auch die Erfüllung ward ihm zu teil. Aber — — das Volk erkannte seine Schicksals stunde nicht und der Segen der Erfüllung blieb aus: es stieß ihn von sich. Der Herr ist im Aufgehen über unserem deutschen Volk und seine Herrlichkeit ist im Erscheinen. Gott wartet, ob wir seiner wert und ihrer würdig sind. Erkennst du deine Schicksalsstunde, deutsches Volk? Du wartest auf Siege! Wartest du auch auf Segen? Willst du das Volk der Wege Gastes werden? — Wohlan, dann geh' seine Wege auch durch Finsternis und Dunkel, dann heilige dich für den großen Weihnachts morgen, damit es an dir wahr werde: „aber über dir gehet auf der Herr, und seine Herrlich keit erscheinet über dir." Meiknacdten im feläe 1914. (Aus Feldpostbriefen.) Zum > zweiten Male feiern unsere Feldgrauen das Weihnachtsfest in Feindesland, fern von der Heimat in Flandern, Nordfrankreich, in Kurland, Polen, Serbien. Aber nicht wie im vorigen Jahre umkleidet unsere Phantasie diesmal ihre Feiern; denn aus den mannig fachsten Berichten wissen wir, daß hart am Feind, wie in der Etappe, auf einsamem Vorposten, wie auf hoher See unseren wackeren Streitern die frohe Weihnachtsbotschaft erklingt, daß sie — mit wenigen Ausnahmen — ihr Bäumchen haben, das ihnen für kurze, weihevolle Augen blicke das Bild der fernen Heimat vorzaubert. Hier folgen einige Berichte von Weihnachtsfeiern vor dem Feinde im Jahre 1914. I. Ein Berichterstatter erzählt vom westlichen Kriegsschau platz: „Es war am 28., wo ich bei einer Kompagnie die Feier mitansehen durfte. Ein kleines katholisches Kirchlein, unzerschossen, über der EingangStür wie immer die Kopie einer Anbetung des Christkindes durch die heiligen drei Könige. Rechts und links vom Altar zwei hohe Weihnachtsbäume. Eine Freskomalerei, die sich im Bogen vor den Altarstufen über die ganze Breite des Schiffes hinzog, war nüchtern und ungeschickt. Ich mußte an die hübschen bunten Kirchen in Bayern und Tirol denken, wo sich das kirchliche Fresko einer nicht aussterbenden Übung erfreut. Dann kamen die Feld grauen, eine Kompagnie, waffenlos. Da saßen sie in dem schlichten Grau ihres Feldkleides mit dem kurzgeschorencn Haupthaar und den feuchten Gesichtern, einer Schar von Schulbuben eher gleich als gefürchteten Kriegern. Bank an Bank war dicht gefüllt. 'Vorn saßen die Vorgesetzten. Die Regimentskapelle, die zum Teil »och in der Kirchentür stehen mußte, ersetzte die Orgel. Zum Eingang des Gottesdienstes spielte die Kapelle ein sehr ernstes feierliches Stück, Chor und Kriegsgruß von Seiffert, das der Musikmeister hier im Felde für seine Kapelle instrumentiert hatte. Danach wurde das Feldgesangbuch aufgefchlagen und drei Verse deS Liedes: „Stille Nacht, heilige Nacht", gesungen. Alle sangen mit, Mannschaften, Arzte und Offiziere. Und mit diesen durch unser aller Er innern geweihten Klängen stiegen die Bilder der Heimat, der Lieben, der Kindheit vor uns auf, und mitten in Feindes land erstand hier friedlich schlicht, aber in lebendigster Wirk lichkeit das schönste Fest unseres Lebens. Waren die jungen Menschen, die da sangen, wirklich dieselben, die von morgen an tagelang das Gewehr im Arm mit guten, jungen Augen nach dem Feinde schauen sollten, bereit, in jedem Augenblick ein todbringendes Geschoß hinüberzusenden? Manche Brust schmückte das schwarzweiße Band, das waren die Tapferen, deren Heldentat gesehen wurde, und unzählige ungesehene hatten sie alle schon vollbracht, keine Knaben also, Krieger! Und sind die nicht eine greifbare Darstellung des Heldenbegriffes, wie der unserem Volk am liebsten ist, so eine Mischung aus Kindlichem, Welffremdem und tief religiöser und schwärmerisch, zärtlich empfindender und drohender Kraft?" II. Ein anderer Bericht von der westlichen Front lautet: „In der Unteroffiziersmesse einer Kaserne, wo eine Land wehreskadron feierte, hatten die Offiziere ihren Mannschaften beschert, und die Stadt Mülhausen sowie zahlreiche wohl habende und wohlmeinende Leute im Reichslande und in der Heimat hatten dafür gesorgt, daß alle Wünsche der ein zelnen erfüllt werden konnten. Mit einem Hoch auf den höchsten Kriegsherrn und auf den Landesherrn wurde das Fest eröffnet. Die „Wacht am Rhein", hier von den eigent lichen Wächtern am Rhein gesungen, war das erste Weih nachtslied. Der Rittmeister begrüßte seine Leute und die zahlreich als Gäste erschienenen Offiziere anderer Truppen teile mit ein paar kernigen Worten. Schon fühlte man auch hier wieder, daß sich das ganze Volk zu einer großen Familie zusammengefunden hat, zu einer einzigen Weihnachts gemeinde, wie wir sie niemals gekannt haben, ehe der Krieg lo viel unnütze Mißhelligkeit und Zwistigkeit, die wie Unkraut zwischen den Volksgenossen gewuchert hatte, mit seinem Sturmmehen ausjätete. Ein Landsturmmann steht auf, der die Worte nur niühsam findet und doch zu Herzen zu sprechen weiß: „Wie sind wir Deutschen unserem Vaterlande so dankbar für dieses Weih nachten!" Er gedenkt der Liebestätigkeit in der Heimat, der Sammlungen der Vereine, der Aufrufe der Zeitungen, der unzählbaren Züge rührender Fürsorge Unbekannter für die kämpfenden Krieger. Besonders dankbar aber sind heute die Väter, die fern von ihren Lieben im Felde stehen. Denn sie wissen und fühlen, wenn sie ihre Kinder nicht wiedersehen sollen, dann werden die Kriegerwaisen nicht verlassen sein. Des ganzen Volkes Liebe und Fürsorge wird ihnen gewiß sein. Als dann im Lichterglanze die Pakete aus der Heimat ausgepackt wurden, gab es einen kleinen Zwischenfall, bei dem es schwer fiel, die Augen trocken zu behalten. Eine Frau Professor aus Berlin, die ihren Mann und ihren Jungen im Kriege verloren hat, hatte eine Gabenkiste ge sandt: „Dem Allerärmsten!" Jeder wußte, wer das war, und stumm führten ihn die Kameraden zum Gabentisch. Ein Handwerksmeister, der am heiligen Wend die Nachricht er halten hatte, daß seine Frau, die Mutter seiner fünf kleinen Kinder, plötzlich gestorben war. Das war heute der Aller ärmste. Ehe das Fest schloß, klang ehern der Krieg in seinen geweihten Bannkreis. Zu dem Rittmeister war un bemerkt eine Ordonnanz getreten. Kein Muskel im Antlitz des Offiziers, der den Krieg aus unseren Kdlonien ge wohnt ist, zuckte. Ein paar leise Mitteilungen an einige Offiziere. Dann wurden, fast heimlich, um die anderen nicht zu stören, Abschiedsworte gewechselt. Wenige Augenblicke spater zogen die, die eben noch „Oh du fröhliche Weihnachts zeit" gesungen hatten, auf nächtlicher gefrorener Straße den Wasgaubergen, der Kampfesftont zu." Aber nicht nur in den Etappenstationen, fern vom Feuer Les Feindes haben unsere Truppen das schlichte deutsche Fest mit schlichter und ergreifender Feier begangen, auch im Schützengraben strahlte hier und da Lichterglanz und der wonnevolle Zauber seliger Kinderzeit feierte mitten im harten Völkerringen auf feindlicher Erde eine seltsam-heilige Auferstehung. Eine solche Feier, unmittelbar vor den feindlichen Gräben, schildern die folgenden Zeilen: „Nachmittag um 4 Uhr traten wir unsern Gang zum Schützengraben an. Auf den Feldern lag Schnee. Über Sturzacker und hartgefrorene Wege wanderten wir dem Ziele zu. Der Himmel war leicht bewölkt; ab und zu blitzte ein Stern vor, minutenweise entschleiert« sich auch der Mond