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Len Laden zumachen, mich und den Jungen bringe ich ganz allein durch." Seine Augen suchten scheu den Boden. Schweigend wandte er ihr den Rücken und ging in den Laden. Frau Emma starrte ihm mit traurigen Augen nach. Dann verlieb die Kraft sie doch. Sie setzte sich auf einen Stuhl nieder und schlug die Hände vor das Gesicht, HanS stand betreten da und sah mit groben Augen üuf die Mutter. Vor diesem ungewohnten Anblick vergaß er sein Leid. Er sah jetzt, wie Tränen über die ge bräunten Handrücken rannen. Ein Zittern flog Lurch seinen Körper. Er stürzte vorwärts und umklammerte mit beiden Armen ihre Knie. „Hat der Vater dich ge scholten, Mutter? Ich mag ihn nicht leiden, Mutter. Ich habe dich viel lieber. Er soll dir's abbitten." Leiden schaftlich erregt flüsterte Hans alles durcheinander, und jetzt lief er an die kleine Glastür und wollte in den Laden. „Hansl" Frau Emma rief ihn zurück. „Laß man, der Vater meint das nicht so." „Aber er soll abbitten", murrte Hans trotzig. „Nein, laß man, Vater kann nicht abbitten." „Aber er hat doch unrecht getan." Hans strebte wieder freizukommen. Er wollte durchaus nach der Tür. Frau Emma hielt ihn aber fest, beruhigte ihn mit ernsten, guten Worten und entschuldigte seinen Vater mit dem vielen Ärger im Geschäft. Auch ermahnte sie ihn, den Vater nochmals recht zu bitten, er würde das Geld dann wohl doch bekommen. Hans versprach dies zwar, gab auch der Mutter be kräftigend die Hand, aber allerlei kindlich grollende Ge danken gegen den Vater bewegten ihn, als er jetzt in Len Garten hinausstürmte. Er streifte an dem rechtsseitigen Zaun entlang, der den elterlichen Garten von dem Les Brauereibesitzers trennte. Jetzt hatte er die Stelle er reicht, wo eine Latte fehlte, und wo der wilde Wein sine Lücke aufwies. Er kroch hindurch, blieb spähend stehen und stieß einen gellenden Hahnschrei aus. Em ebensolcher Schrei antwortete. „Lisa" rief er. „Hans!" klang es freudig zurück. Um den großen, kurzgeschorenen Rasenplatz mit den hochstämmigen Rosen und den großen silbernen und grünen Glaskugeln kam Lisa getollt. Die wirren dunklen Locken flogen ihr um den Kopf, das weiße Kleid wehte, und ein brauner Hühnerhund sprang bald rechts, bald links bellend neben ihr her. Und es lag ihre ganze ungebärdige Wildheit darin, wie sie jetzt mit ausgebreiteten Armen auf Hans zuschoß und ihn einen Augenblick an sich preßte. „Na, Lisa", brummte Hans unwillig und machte eine abschüttelnde Bewegung Dann aber teilte er seiner kleinen Freundin sogleich leinen Kummer mit. Lisa wußte Rat. „Komm mit zu meinem Papa. Der wird dir schon das Geld geben. Meine Mama ist ver reist Wer wein Papa ist sehr gut, furchtbar gut." „Za, Ler ist gut", sagte Hans und zog die Stirn in finstere Falten, weil er nicht sagen konnte: „Mein Vater ist bester." Im nächsten Moment warf er den Kopf mit einer raschen Bewegung zurück und sah mit aufflammenden Augen das Mädchen an. „Aber meine Mutter erst, die ist gut!" Er jubelte dies wie eine Siegesbotschaft, und es lag auch eine Inbrunst in den paar Worten und auch eine felsenfeste Überzeugung. Sie liefen über die kiesbestreuten Wege des Gartens dahin. Den Hund hatten sie in die Mitte genommen und hielten ihn am Halsband fest. Und „Lord" lief mit, wie die Kinderfüße es haben wollten, bald schnell, bald langsam. „Lord" war immer der dritte im Bund, und er war nicht immer bloß ein einfacher Hund, der nur mitzulaufen brauchte. Manchmal mußte er mit einer Großmutternachtmütze auf dem Kopf böser Wolf sein, oder er wurde beim Räuber- und Prinzessinnenspiel als Prinzessin mit versteckt, oder er war Pferd vor Lisas kleinem Sprossenwagen und zog eine Ladung Kaninchenfutter, oder er schlief mit Dornröschen den Zauberschlaf. Er war bald dies, bald das, er hatte alle möglichen Rollen zu spielen. Die kleine eiserne Tür, welche durch die Garten mauer hindurch in den Brauereihof führte, fiel krachend hinter in den Kindern zu. Sie blieben einen Augenblick atemjchöpfend stehen, dann gingen sie langsam über Len großen, von höheren und niedrigeren Gebäuden um gebenen Hof. Wirres Arbeitsgetöse herrschte; Wagen fuhren rasselnd über das Master, Menschenstimmen riefen laut, aus der Böttcherei dröhnten taktmäßig Hammerschläge, irgend woher kam das Geräusch eines Pumpwerks, und dort in der Kelleröffnung wurden Kohlen abgelaben. Die Eisen schippen der Männer Meßen hart auf, und von unten herauf kam ein Poltern. Die Kinder gingen zwischen dem Brauhaus und der Böttcherei hindurch und betraten einen zweiten, kleinen Hof, an dem die Pferdeställe und Wagenschuppen lagen. Dann bogen sie in eine Kirschbaumallee ein. Rechts erhob sich, nur wenig über dem Erdboden aufragend, daS große, breite Dach eines Lagerkellers, links des Weges waren ausgepichte Tonnen aufgerollt, und Lisa konnte es sich nicht versagen, den Kopf in die Öffnungen zu stecken und ein laut wiederhallendss „Uhu" hineinzurufen. Hans batte heute keine Lust dazu. Er war von seiner Sorge um das Geld für den Schulausflug ganz erfüllt, und sein Herz klopfte schneller, als sie jetzt vor dem schlichten, zweistöckigen Haus standen, in dem sich die Braumeister wohnung und die Kontore befanden. Aber sie hatten kein Glück. Sie trafen Grosse nicht an, nur der Buchhalter Lorenzen, dem an jeder Hand zwei Finger zusammengewachsen waren, befand sich in dem neben dem Privatkontor liegenden Kassenraum. Lorenzen schäkerte gern mit Lisa. Er hielt ihr ein Bildchen hin; als sie es aber nehmen wollte, zog er es zurück und griff zausend in ihre wirren Haare. „Ente!" schrie Lisa und schlug nach ihm. Er zuckte zusammen und wandte sich mit blassem Ge sicht ab. Doch schon im nächsten Moment hing Lisa an seinem Arm, sah mit feuchten Augen zu ihm auf und bettelte: „Onkel Lorenzen ... Ich sag's nicht wieder . . . Onkel Lorenzen, sei nickt böse." Er nickte. „Das Wort hat wohl deine Mama ge braucht?" Lisa sah vor sich nieder. Er nickte wieder und streichelte ihr Haar. „Schade, schade, bist ein so gutes Kind ... Na, es ist gut. Lauf man." Er schob sie von sich. Lisa stürzte zu Hans zurück, der an der Tür stehen geblieben war. Mit großer Heftigkeit packte sie „Lord" am Halsband, und als sie wieder draußen standen, fing sie sogleich ein übereifriges Schwatzen darüber an, wo der Vater wohl sein könnte. Schließlich meinte sie, er wäre wohl bei der Großmutter. Also liefen sie zur Großmutter, der alten Gerber witwe Hermine Grosse. Der Weg war nicht weit, nur ein kleines Gärtchen mit Obstbäumen und Sonnenblumen trennte das Braumeisterhaus von dem einstigen Gerber hause. Durch ein geöffnetes Fenster des altmodischen spitz- giebeligen Hauses drangen Leierkastentöne in den Garten hinaus. Lisa warf die Locken zurück, die großen, dunkeln Augen in ihrem jungen, rosigen Gesicht blitzten feuriger auf. Sie atmete schneller, kaum vermochte sie vor innerer Erregung die zwei Worte heroorzubringen: „Großmutter spielt." Hans hörte die Bemerkung gar nicht. Er dachte nur an seine Sorge. Lisa summte das altmodische Liedchen mit: „Tanz mit mir, tanz mit mir, hab eine blanke Schürze für. Mit mir auch, mit mir auch, meine Schürze blänkert auch." Und ihre Füße fingen ein Trippeln und Tanzen an. Da wurde Hans aufmerksam. „Na, Lisa", brummte er. In der guten Stube des Gerberhauses saß die „alte Gerbersch", einst hieß sie die „tolle Gerbersch", und drehte die Kurbel des Leierkastens, der vor ihr auf dem Fenster tritt stand. Die schneeweißen Gardinen blähte Ler warme, sommerliche Luftzug, und Blütenduft wehte mit herein. Die Alte bewegte den Kopf taktmäßig und sang leise vor sich bin: „Tanz mit mir, tanz mit mir . . . ." Und ihre Lippen zitterten, und in dem faltigen, runzligen Greisinnengesicht leuchteten ein paar große, dunkle Augen in vergangener Jugendlust und erzählten von einem un gestümen Naturell. Lisa stürmte zur Tür herein. „Großmutter, ist der Vater nicht da?" -msmH msvlivulKsqsl isg si^ miisMnL s;T ! - ush qnn mH Zs Lmü oZ f — ssrsssSSssZHKsLssPo qirs Mj USW Mit langverzogenem Mißton brach das Spiel ab. Die Alte wandte den starken, kantigen Kopf dem Kinde zu. „Lüftchen, nein. Der ist nicht hier. Was soll der hier bei so 'ner alten Frau." „Das ist dumm." Lisa verzog daS Gesicht und trarnpfte mit dem Fuß auf. Zwei paar gleiche Augen blickten ineinander. Ein Feuer war erloschen, das andere noch nicht entfacht. (Fortsetzung folgt.) l Oie wanäernäe Postkarte. Von Max Hirschfeld. (Nachdruck verboten.) Ein Postbeamter der deutschen Haupt- und Residenz stadt Wolkenburg sortierte die eingelaufenen Stadtpost sachen. Unter diesen befand sich eine einfache Postkarte mit der Adresse: Herm August Schneider, Wolkenburg. Keine Straßenangabe! Der Beamte schlug das Adreß buch auf: S—Sch—Schn—Schneider. Da war nun zu lesen: Schneider Aug., Assessor, Eichenskatze 5, Schneider Aug., Juwelier, FrieLrichsplatz 12. Schneider Aug., Metzger, Bärenstratze 84. Ohne langes Besinnen schrieb der Postbeamte auf die Adressenseite: Eichenstraße 5. Und der Briefträger warf die Karte in den Briefkasten des Assessors. Das Dienst mädchen nahm sie heraus, las sie schmunzelnd im Korridor und trug sie dann hinein zur Frau Assessor, einem hübschen, jungen Weibchen, das noch nicht ein volles Jahr verheiratet war. Die Frau Assessor las und errötete bis unter die Haarwurzeln. Die besagte Postkarte aber hatte folgenden Inhalt: „Lieber August! Wenn Du das große Geheimnis wissen willst, das Deine Frau Dir so ängstlich verbirgt, so komme morgen vormittag zu mir. Besten Gruß. Dein Eduard." Die Frau Assessor drehte die Karte hin und her, dann steckte sie sie langsam in ihren Nähkasten. Nach dem Essen sagte Lie junge Frau zu ihrem Gatten: „Lieber August, ich muß dir etwas mitteilen, ehe du es von andern entstellt erfährst." „Nur zu, liebe Helena." „Uns vis-a-vis, in dem Müllerschen Hause, wohnt ein Dragonerleutnant. Jedesmal, wenn du aufs Bureau gehst und ich mich mit meiner Handarbeit ans Fenster setze, tritt auch der Leutnant an sein Fenster, verbeugt sich wiederholt und — und — wirst mir Kußhändchen zu." „Und du?" „Ich tue, als bemerke ich eS nicht." „Du hättest vom Fenster fortgehen sollen." »Ich sehe so gern auf die Straße." „Nun gut, den werden wir kriegen." Der Assessor ging wieder auf sein Bureau, L. h. nicht ganz, denn er bog um die nächste Straßenecke und gelangte über den Hof wieder in seine Wohnung. In das Zimmer tretend, winkte er der am Fenster sitzenden Frau zu, sich ruhig zu verhalten, und als der Leutnant drüben mitten in den schönsten Verbeugungen und Kußhändchen war, Kat der Assessor hinter der Gardine hervor und gab dem Leutnant die Verbeugungen und Kußhändchen mit Zinsen zurück. Das wirkte. Von dieser Zeit an ließ der schneidige Offizier die Frau Assessor unbehelligt. „Und jetzt kann ich dir auch mit ruhigem Herzen diese Postkarte abgeben", sagte Frau Helena. Der Assessor las und schüttelte den Kopf. „Ich kenne keinen „Eduard", die Karte ist nicht an mich gerichtet Ich werde sie Lem Briefträger zurück geben." Der gewissenhafte Postbeamte Lirigierte darauf die Karte an den Juwelier Aug. Schneider auf dem Fried- cichsplatz. Dieser letztere hatte vor einem halben Jahr eine Witwe geheiratet, welche auf die Frage nach ihrem Alter eine Zahl zwischen dreißig und vierzig angab, während sie auf die Frage nach ihrem Vermögen mit Stolz eher vor- vierzig- als dreißigtausend Mark sprach. Wie gem häM Herr Schneider dieses Geld zur Verfügung gehabt, um damit sein Geschäft zu vergrößern. Deshalb hatte er eigentlich geheiratet. Aber die würdige Gattin hielt den Daumen auf die Talons und gab stets nur die Kupons heraus. Das Ehepaar stand im Laden, als die 'bewußte Post karte anlangte. Herr Schneider las sie, und die Gattin, über seine Schulter sehend, ebenfalls. „Wunderbar!" sagte der Herr Schneider. „Eine Abscheulichkeit!" rief Frau Schneider. „Aber dieser „Eduard" mag seine Weisheit für sich behalten, ich kann es dir ebenso gut sagen." Herr Schneider wurde aufmerksam. „Laß nur, ich werde schon hinter dein Geheimnis kommen!" Er hatte bisher natürlich keine Ahnung gehabt, aber schlau muß man sein. Kurz und gut, die Frau zog ihren Mann in das Nebenzimmer und schloß es ab. „Du hast also bemerkt", begann sie, „daß ich mich bei bei der Toilette von dir nicht gern überraschen ließ?" „Gewiß habe ich es bemerkt." Tatsächlich war ihm aber die Toilette der Frau stets sehr gleichgültig ge wesen. „Nun gut, ich gebe es zu, ich habe vier falsche Zähne und einen falschen Zopf. Willst du sehen?" „Unnötig, aber weißt du, daß diese Verheimlichung ein Scheidungsgrund ist?" Frau Schneider erschrak. Juristische Kenntnisse besaß sie offenbar nicht. Und in diesem Schrecken versprach sie ihrem Mann, ihm freie Verfügung über ihr Vermögen zu geben, worauf sich die moralische Entrüstung des biederen Mannes sofort legte. „Aber nun mußt du mir auch sagen, wer jener nieder trächtige „Eduard" ist." „Das weiß ich nicht, liebe Frau, die Karte ist offenbar an die falsche Adresse geraten." — Auf dem Wege übers Postamt gelangte die Karte nun zum Metzgermeister Schneider in die Bärenstratze. Die Verkäuferin brachte sie ihm in die Wurstküche. „Falsche Adresse!" sagte der Meister, „legen Sie dis Karte auf das Ladenpult und geben Sie sie dem Brief träger zurück, sobald er kommt." Das Ladenmädchen tat, wie ihr geheißen wurde, aber als die Karte eine halbe Stunde auf dem Pult gelegen hatte, war sie verschwunden. Als der Meister nach getaner Arbeit die Zeitung las, trat seine Frau ein, setzte sich ihm gegenüber und sagte mit unendlich melancholischer Stimme: „August!" „Nanu, Kathrine", rief der Meister und ließ die Zeitung fallen, „ist's schon wieder La? Soll ich dir Hoffmannstropfen —" „Nein, laß nur, August. Hast du Lie Karte von „Eduard" gelesen?" „Die Karte von —? Ach so, die meinst du —" „August, ich will dir alles gestehen. Das Geld, Las dir immer aus der Ladenkasse entschwand —" „Kathrine!" „Ja, das hab' ich selbst genommen, weil du doch immer so über die Putzmacherrechnungen schimpftest —" „Und du ließest zu, daß ich das Ladenmädchen ver dächtigte und beinahe entlasten hätte? Warum sprachst du nicht früher?" „Ich hatte den Mut nicht, aber als die Karte an kam —" „Ach, die Karte, die ist ja gar nicht an mich gerichtet, die bekommt der Briefträger zurück." Die Postkarte gelangte also als unbestellbar an das Postamt zurück. Aber wo blieb die gerühmte Findigkeit der Post? Die bleibt nicht aus, denn nachdem Ler expedierende Sekretär die Karte und Las Adreßbuch gründlich studiert hat, schrieb er quer über die Adressen seite: „Schneidermeister August, Wilhelmstraße 20, Ouer- gebäude." Dieser Adressat bestätigte dem Briefträger, daß die Karte an ihn gerichtet sei, und als letzterer gegangen war, murmelte der Schneidermeister: „Dieser Schafskopf, der Eduard! Gestern war mein Geburtstag, wo er selber zugegen war, wie meine Frau mir das Geschenk, das sie immer so geheim hielt, über reichte, und heute schreibt er mir, er will mir daS Ge heimnis enthüllen. So ein Dussel!" '