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Plüschdeckel. Die Mütze nahm er stets grüßend ab, sobald ein Käufer den Laden seines Vaters aufsuchte. Drin im Laden stand Christian Klemens und hörte mit geschmeichelter Miene die Äußerungen der Kunden über seinen hübschen Jungen an. Dennoch konnte er es nicht lassen, über die Kosten zu stöhnen, die der Junge verursacht hatte, und jedesmal schloß er mit den Worten: „Ja, der teure Samtanzug ist viel zu schade für den wilden Beugel. Er nimmt sich doch nicht in acht." Und Christian Klemens reckte den kurzen dicken Hals mit dem starken Kopf, um durch das bescheidene Schaufenster einen Blick auf die Straße werfen zu können. Sah er Hans ruhig auf und ab gehen, so setzte er seine Erzählung fort, sah er ihn aber nicht, so wurde er unruhig, bediente hastig, stürzte hinter dem Hinausgehenden her in die Ladentür und drohte zu Hans hinüber: „Daß du dich nicht unterstehst und auf die Bäume kletterst. Du!" „ Mit rotem Kopf ging er dann wieder in den Laden zurück, tütete Zucker ein oder bediente von neuem. So hetzte er sich zwischen der Besorgung des Geschäfts und der Bewachung der teuren Samthöschen förmlich ab und tat, was viele Menschen seiner Beanlagung tun: er regte sich auf, wo es nichts aufzuregen gab. Hans dachte gar nicht daran, auf die Bäume zu klettern. In seinem Kopf schwirrten unklare Vor stellungen von dem kommenden Schülleben. Bald glänzten seine Augen hell auf, bald sahen sie nachdenklich nieder, und seine kleine Hand griff nach dem aus der Mappe herausbaumelnden Schwamm. Ach, dieser Schwamm! Hänschens erste Sorge. Der Schwamm sollte naß sein, hatte der Herr Lehrer be fohlen. Naß! Die Mutter hatte dies besorgt. Aber — Hans preßte den Schwamm wieder — was die Mutter naß nannte. Kein Tröpfchen kam aus dem Ding heraus, nur die Hand wurde etwas feucht ... Ob das dem Herrn naß genug sein würde. Hans blieb nachdenklich vor der Pumpe stehen. Im selben Augenblick trat Christian Klemens in die Ladentür . . . Die Pumpe . . . Der teure Samtanzug ... Das fehlte gerade . . . Klemens wurde kirschrot im Gesicht. „Willst du! . . . Willst du weg!" Drohend schüttelte er die Faust. „Vater", Hans lief auf ihn zu, „der Schwamm ist doch nicht naß genug?" Christian Klemens fühlte den Schwamm an. „Naß genug", entschied er. Hans machte ein enttäuschtes Gesicht und setzte sein Auf- und Abwandern wieder fort. Das Warten gefiel ihm aber bald nicht mehr. „Kommt denn die Mutter noch nicht?!" rief er in den Laden hinein. Christian Klemens fand, daß der Junge Ursache hatte, die Geduld zu verlieren. Er ging hinter den Ladentisch und rief: „Emma! . . . Frau! . . . Mutter!" . . . Hinter jedem Rufe machte er eine Pause und lauschte, ob nicht hinter der kleinen Glastür mit der roten Schiebegardiene eine Antwort laut werden wollte. Es blieb still. „Die Frauen", brummte er vor sich hin und wollte die kleine Tür aufreißen. Schwere Tritte stapften in den Laden. „Für'n Groschen Zichorien und 'n halb Pfund Kaffee", verlangte ein Knecht des gegenüberliegenden Ackerbürgergutes. Klemens blieb und bediente den Mann. Frau Emma war wohl bereit, mit ihrem Jungen den Gang zur Schule anzutreten, sie hörte auch ihres Mannes Rufen, allein eine hohe innere Erregung hielt sie noch in dem kleinen, niedrigen Hinterzimmer zurück. Da saß sie, tief in den alten Großvaterstuhl zurück gelehnt, hatte ihre arbeitsharten Hände krampfhaft gefaltet und blickte still vor sich nieder. In ihren großen, grauen Augen lag ein weicher Glanz, ein Seelenschimmer, der zu ihren harten Händen, ihrer starkknochigen Gestalt, ihrem ernsten, gleichmäßigen Wesen gar nicht paßte, der auch nur selten dort erschien, nur, wenn wie jetzt der ewig gleiche Gang ihres arbeitsreichen Alltagslebens durch irgend etwas unterbrochen wurde. Dann merkte Frau Emma, daß etwas in ihr lebte, was unter dem nimmermüden, gewissenhaften Beugen des Rückens nach jedem Reislein Ler Pflichtenbürde litt. Dann kam ein Verlangen nach ruhigeren Tagen über sie. Dann fühlte sie das Mitsorgen um die Existenz als Last, und das ewige Denken an geschäftlichen Vorteil oder Nachteil fühlte sie wie einen würgenden Strick um ihr warmes Herz. Ihr Weibtum wurde durch die Werkeltagshetze in seiner Wesensentfaltung bedrängt, das empfand sie wohl. Und sie, die große, starkknochige Frau mit den hart gearbeiteten Händen, mit der von Existenzsorgen gefurchten Stirn, schuf sich im stillsten Innern ein Ideal von Frauen glück: nur Gattin, nur Mutter, nur Hausfrau zu sein wähnte sie ihrer Sehnsucht wert, und sie neidete den Frauen der bessern Stände die schönern Sorgen, das sonnigere Wesen und die weichern Hände, die zu schmeicheln und streicheln verstanden. Dieses Sehnen, in ungestörtem Gemütsfrieden still und sanft Weib sein zu dürfen, hatte aber auch Frau Emma auf mancherlei krausen Gedankenwegen dahingeführt, den bessern Stand mit seiner höheren Bildung als er strebenswertes irdisches Glück zu betrachten. Und dieses Glück wollte sie nun ihrem Jungen zuwenden. Es stand schon lange bei ihr fest, daß Hans nicht die Volksschule, sondern das Gymnasium besuchen sollte. Gelegentlich hatte sie mit ihrem Manne darüber gesprochen, aber der war dagegen gewesen. Doch sie hatte ihren Plan nicht aufgeben können und hatte Hans nun heimlich auf dem Gymnasium angemeldet. „Emma!" rief Christian Klemens eben wieder und öffnete heftig die kleine Tür mit den roten Scheiben gardinen. „Der Junge wird zu spät kommen, Mutter." „So spät ist's noch nicht, Vater." Frau Emma erhob sich. Etwas umständlich hing sie den Umhang über. Ein Zaudern vor der notwendigen Mitteilung war in ihr, und sie stieß ein wenig an, als sie sagte: „Ich habe Hans doch auf das Gymnasium gebracht, Christian." „Was! Was hast du!" schrie er und sah sie mit funkelnden Augen an. „Rege dich nicht auf, Christian. Ich werde an allen Ecken und Enden sparen. Werde noch mehr Federvieh halten, noch mehr aus dem Garten herausschlagen. Du sollst von Len Kosten nichts merken", versuchte sie ihn zu begütigen. Er hörte nicht, er war kirschrot im Gesicht und fuchtelte mit der Hand durch die Luft. „Der Hochmuts teufel ist's, weiter nichts. Aber ich gebe keinen Pfennig Geld. Wenn du so viel hast, kannst du es tun. Kannst mir übrigens vorrechnen, wo du mit deinem Gelds bleibst. Hast gewiß noch zu viel. Von heute rechnest du mir jede Woche vor. Jede Woche!" Er hatte sich immer mehr in Wut geredet, knirschte mit den Zähnen und schlug mit der Hand auf den Tisch. „Christian, red doch nicht, Christian." Frau Emma sah ihn vorwurfsvoll an. Er beruhigte sich aber nicht. Er erboste sich immer mehr und schrie immer lauter, und da er nichts fand, was er dieser fleißigen und sparsamen Frau vorwerfen konnte, beschuldigte er sie immer wieder des Hochmutsteufels. Sie hörte still zu. Das Weiche, das noch eben ihr Wesen belebt hatte, blieb mit hartem Tränendruck in der Kehle sitzen. „Sei jetzt still, Christian, es ist jemand im Laden", sagte sie ruhig. Er warf einen Blick durch die Türscheibe, knurrte noch etwas von Bankerottwerden und ging in den Laden. Frau Emma zitterten die Knie, sie mußte sich auf den nächsten Stuhl setzen. Einen Augenblick nur, dann hatte sie alles das, was an bittern Gedanken und wehen Empfindungen in ihr aufquellen wollte, unterdrückt. Mit bebenden Händen knüpfte sie die Hutbänder unter dem Kinn fest und ging durch den Laden hinaus. 2. Kapitel. Hans sah feine Mutter nicht kommen. Er hatte dem väterlichen Laden gerade den Rücken gekehrt und lief, so schnell er konnte, auf ein kleines Mädchen zu, das aus dem Gittertor des großen Nachbargartens herausgetreten war. „Lisa, Lisa, gehst du auch zur Schule?!" Atemlos blieb Hans vor der Kleinen stehen. „Ja. Aber wir fahren natürlich. Papa und Mama bringen mich zur Schule hin. Ich komme in die Höhere Töchterschule." „Mußt du nicht auch einen nassen Schwamm mit bringen?" „Nein. Das Fräulein will heute erst sagen, was wir brauchen." „Ein Fräulein?" Hans blickte seine kleine Nachbarin mit einem Gemisch von Unglauben und Geringschätzung an. Lisa nickte zustimmend. Die wirren, krausen Haare flogen ihr bei dieser Bewegung ins Gesicht, und in den dunkeln Augen glomm eine Kampfbereitschaft auf. „Zu einem Fräulein möchte ich nicht in die Schule gehen", sagte Hans wegwerfend. Lisas Augen sprühten und funkelten. „Du", stieß sie heftig heraus, „unser Fräulein weiß mehr als dein Lehrer. Unser Fräulein erzählt heute eine wunderschöne Geschichte." „Und wir werden marschieren. Der Herr Lehrer hat's zu einem Jungen gesagt. Ich hab's gehört." „Marschieren bloß, hihihi.... marschieren bloß, hihihi . . ." Lisa höhnte, lachte, hüpfte von einem Fuß auf den andern, die wilden Locken flogen ihr um den Kopf, und Tränen des Zorns liefen ihr über die heißroten Wangen. „Na, vielleicht erzählt er auch eine Geschichte", meinte Hans. Lisas Zorn verrauchte plötzlich. „Ach du", sie blieb dicht vor ihm stehen, „dein Lehrer weiß nicht viel. Mama hat gesagt, du kommst bloß in die Gemeindeschule." „Nein, Lieschen, Hans kommt auf Las Gymnasium", bemerkte Frau Emma, die von der erregten Kleinen bisher gar nicht gesehen worden war. Lisa knixte. Helle Freude leuchtete in ihren Augen auf, und mit weithin schallender Stimme, so daß es auch der übrigen Nachbarschaft sogleich bekannt wurde, rief sie ihren aus dem Gartentor heraustretenden Eltern zu: „Mama, Papa, Hans kommt aufs Gymnasium!" Frau Brauereibesitzer Grosse neigte steif grüßend den Kopf mit dem überladenen Hut. Sie war äußerst wohl beleibt, schnürte sich aber sehr stark und pustete kurzatmig heran. „Aufs Gymnasium? So?" preßte sie. mit Atem ringend hervor, als sie jetzt vor Frau Klemens stand. „Ja", sagte Frau Emma nur. „Wird Ihr Geschäft das denn auch abwerfen?" fragte Frau Grosse mit mißgünstiger Neugier weiter. „Na, aber Mamachen", lenkte der Brauereibesitzer ein, „warum soll es Las denn nicht?" Grosse war groß und breitschultrig, ein wahrer Hüne an Gestalt, auch die un gelenken Bewegungen eines solchen besaß er und auch die sprichwörtliche Gutmütigkeit eines Riesen. Er nickte Frau Emma beifällig zu und tätschelte Hans Lie Wangen. „Ganz recht haben Sie gehandelt, Frau Nachbarin. Daß Ihr Mann es zugegeben hat, wundert mich nur. Famoser Bengel, der Hans. Freue mich immer, wenn ich ihn sehe." „Weil er unser einziger ist, kann man schon ein bißchen mehr an ihn anwenden", meinte Frau Emma. Grosse nickte wieder und wollte zu weitern Aus lassungen den Mund öffnen, doch seine Gattin verhinderte dies, indem sie auf den Wagen aufmerksam machte, der eben oorfuhr. „Wir müssen auch gehen", sagte Frau Emma, und nahm Hans bei der Hand. Grosse tätschelte Hans wieder die Wange, als dieser sich vor ihm verneigte. „Adieu, mein Junge. Viel Glück, denke immer daran, daß aus dir noch viel werden kann." Und leise, nur für Hans und Frau Emma verständlich, da seine Frau und Lisa sich schon in den Wagen begeben hatten, setzte er hinzu: „Mit jeder guten Zensur kommst du zum Onkel Grosse ins Kontor. Dann gibt es jedesmal einen Taler." Hastig grüßte er nun und begab sich eben falls in den Wagen. Der Wagen ratterte davon. Frau Emma hastete mit ihrem Jungen über den Fahrdamm und bog in eine Nebenstraße ein. Hans plapperte und wollte wissen, was er denn werden könnte. Da die Mutter aber keine Antwort gab, schwieg er bald und fing an, über allerlei nachzudenken. Es fiel ihm ein, daß Lisa in einem schönen Wagen zur Schule fuhr, daß ihre Eltern ein viel schöneres Haus hatten als die seinen, daß Lisa immer Kleider trug, als wäre es alle Tage Sonntag. Eine Weile sann er hin und her, dann drängte sich ihm die Frage über die Lippen: .Mutter, warum ' haben wir keinen Wagen? Wir könnten doch auch zur Schule fahren." Frau Emma schreckte aus ihrer Nachdenklichkeit auf. „Wir sind nicht reich", entgegnete sie kurz. Hans schwieg und sann wieder. Aber das Wort reich barg noch einen zu nebelhaften Begriff für ihn, als daß es irgendwelche Gedanken in ihm erweckt hätte, und es war nur ein ganz instinktartiges Empfinden, das ihn nach einer Weile fragen ließ: „Warum hat Lisas Mutter gemeint, ich käme nur in die Gemeindeschule?" „Weil dein Vater eben nur ein kleiner Krämer ist, da gehörst du in die einfache Schule und nicht auf das Gymnasium. Auf dem Gymnasium kostet es sehr viel Geld. Das ist eine Schule für reiche und feine Kinder." „Ist das Gymnasium ebenso fein wie die Höhere Töchterschule?" fragte Hans wieder. Frau Emma bejahte lächelnd. Nun war Hans zufrieden. Er freute sich, daß Lisa mit ihrer Schule nichts vor ihm voraus hatte. Frau Emma hätte ihrem Jungen noch gern allerlei gesagt, von den Beweggründen, die sie veranlaßt hatten, ihm die bessere Schulbildung zuzuwenden. Aber sie war zu ungeschickt, ihre Gefühle in Worte zu kleiden, und so begnügte sie sich damit, ihn zu ermahnen, artig, folgsam und fleißig zu sein. „Und nachher, wenn ich aus der Schule bin, kann ich ein feiner Mann werden?" Hans sah seine Mutter forschend an. „Du kannst Lehrer oder Pastor oder Doktor oder so- was werden." „Ich dachte, Brauereibesitzer", meinte Hans enttäuscht. Frau Emma lächelte wieder, und während Hans nun weiter davon plapperte, einmal Brauereibesitzer zu werden, baute sie mit Hellen, glücklichen Gedanken an seiner Zu kunft. Hans hatte sein Plappern eingestellt. Frau Emma hatte es gar nicht gemerkt. „Da ist die Schule, Mutter", flüsterte er jetzt klein laut. Das stattliche Gebäude kam ihm so groß und düster vor. Von den grauen Wänden, aus den hohen Bogen- singängen, über die breite Steintreppe wehte eine dumpfe Ahnung kommenden Lebensernstes in sein sonniges Kinder gemüt hinein. Seine sonst so lachenden Augen blickten ängstlich hinüber, sein Herz klopfte schneller. „Muß ich jetzt immerzu lernen, darf ich gar nicht mehr spielen, Mutter?" fragte er. „Spielen darfst du auch noch, aber immer erst, wenn Lu gelernt hast, und wenn die Schularbeiten fertig sind", entgegnete Frau Emma. Sie stiegen die breite Steintreppe hinan und traten in die große Vorhalle. Angesichts des lebhaften Treibens, das hier herrschte, verlor Hans seine Bangigkeit etwas. Gruppen größerer Schüler, die bereits eine Stunde hinter sich hatten, gingen, ihr Frühstück verzehrend, auf und ab, andere kamen die Treppe aus dem Oberstocke herunter. Einer von den letztem, ein stolzer Quartaner, blieb überlegen lächelnd vor Hans stehen: „Na warte man, Bürschchen." Er pfiff zweimal ganz eigentümlich und ahmte zweimal mit sehr bezeichnender Armbewegung dem strafenden Rohrstocke des Lehrers nach, plärrte dann und rieb einen gewissen Körperteil. Dann lief er lachend davon. Hans machte große, erschrockene Augen. „So schlimm isr's nicht, Kleiner", bemerkte lachend ein Primaner. Hans stammelte etwas von artig und fleißig sein. Er hielt den großen, jungen Menschen für einen Lehrer und grüßte respektvoll. (Fortsetzung folgte Merkspruch. Den mich umschließenden Zirkel beglücken. Nützen, so viel, als ein jeder vermag, O, das erfüllet mit stillem Entzücken, O, das entwölket den düstersten Tag! » Solls.