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gab ihnen natürlich keine Auskunft, und Lord Ralles machte daher den sehr vernünftigen Vorschlag, sich im Wagen Auskunft zu verschaffen. Die drei Herren ver schwanden in Nr. 218. Gleich darauf kam der Scheriff vor die Tür und meldete Herm Camp, ich sei nicht zu finden. »Ich sagte Ihnen ja, daß es der reine Unsinn sei, hier nach dem Burschen zu suchen, Herr Camp- Wir haben die Dame bloß um nichts und wieder nichts belästigt." „Dann müssen wir anderswo suchen!" brüllte Herr Camp. „Vorwärts, Jungens!" Der Scheriff drehte sich um und hielt nochmals eine wortreiche Entschuldigungsrede, daß er die Dame hätte belästigen müssen. Madge entgegnete, er hätte sie durch aus nicht belästigt, und setzte noch hinzu, als Herr Camp mit den Cowboys abgezogen war: „Und, Herr Gunton, ich möchte Ihnen noch dafür danken, daß Sie Herrn Camp wegen seines entsetzlichen Fluchens zurechtgewiesen haben." „Danke, Fräulein!" erwiderte der Scheriff. „Wir Knaben hier draußen sind manchmal 'n bißchen ungehobelt, aber hol mich der —, wenn wir nicht wissen, was sich 'ner Dame gegenüber schickt!" „Papa!" sagte Madge, sobald Gunton außer Hörweite war, „der Scheriff ist der prächtigste Flucher, den ich je gehört habe!" — Eine Zeitlang herrschte tiefes Schweigen; die Gesell schaft in Nr. 218 hielt jedenfalls Beratung ab, und die beiden Cowboys und ich hatten die besten Gründe, uns mäuschenstill zu verhalten. Dann kamen mehrere Personen aus Nr. 218 heraus und sprangen vom Trittbrett aus den Bahnsteig herunter; offenbar hatte Madge sie bis an die Tür begleitet, denn sie rief: „Bitte, gebt mir sofort Bescheid, wenn was passiert oder werm ihr etwas erfahrt." „Solltest lieber zu Bett gehen, Madge!" rief Albert zurück, „du regst dich nur unnützerweise auf, und es ist schon nach drei!" „Ich könnte doch nicht schlafen, wenn ich's auch ver suchte", antwortete sie. Einen Augenblick später verhallten die Schritte der Männer in der Feme, und die Tür von 218 wurde ge schlossen. Unmittelbar darauf öffnete jedoch Madge sie wieder, sprang leichtfüßig auf den Bahnsteig und begann auf und ab zu gehen. Hätte ich's nur gewagt, so hätte ich meinen Finger durch eine Ritze zwischen den Planken stecken und ihren Fuß berühren können, denn sie ging über meinen Kopf weg; aber ich befürchtete, sie mochte einen Schreck bekommen und aufschreien, und ich konnte ihr keine Aufklärung geben, ohne daß zugleich die Cowboys merkten, wie nahe sie dem von ihnen Verfolgten waren. Madge war höchstens drei- oder viermal auf- und ab gegangen, als ich jemand kommen hörte. Sie ging diesem entgegen und sagte: „Ich befürchtete bereits, Sie hätten mich nicht richtig verstanden." „Ich glaubte, Sie sagten mir, ich sollte mich erst ver gewissern, daß man mich nicht brauche", antwortete eine Stimme, die ich trotz der Entfernung und durch die Bretterdiele hindurch als die des Lord Ralles erkannte. „Ja", sagte sie. „Sind Sie sicher, daß man Sie ent behren kann?" „Ich könnte ihm nicht im geringsten nützlich sein", versicherte Ralles, indem er den Bahnsteig betrat, wo Madge ihn erwartete, „'s ist pechdunkel, und meiner Mei nung nach ist vor Tagesanbruch durchaus nichts zu machen." „Dann bin ich froh, daß Sie zurückgekommen sind, denn es liegt mir wirklich sehr viel daran, Ihnen etwas zu sagen — und Sie um den allergrößten Gefallen zu bitten." „Sie brauchen mir nur zu sagen, worum fich's handelt", versicherte Seine Lordschaft. , „Das ist eben gar nicht so ganz leicht", murmelte Madge. „Wenn . . . wenn . . . o, ich fürchte, ich habe doch nicht den Mut, es zu sagen." „Ich werde mit Freuden alles tun, was ich kann." „Es ist . . . o, du lieber Gott, ich kann's nicht sagen. Wir wollen ein bißchen auf und ab gehen, unterdessen kann ich überlegen, wie ich es in Worte fassen kann." Sie gingen fort, und das nahm mir eine schwere Last vom Herzen; denn ich hätte jedes Wort, das sie sprachen, mitanhören müssen und war absolut außerstande, ihnen bemerkbar zu machen, baß sie belauscht wurden. Der Bahnsteig kies rings um das Stationsgebäude herum, und in einem Augenblick waren sie außer Hörweite. Es dauerte indessen nur ein paar Sekunden, so waren sie um das Gebäude herumspaziert, und ich hörte Lord Ralles sagen: „Sie wolleu doch nicht im Ernst sagen, daß er Sie beschimpft hat?" „Das ist mein voller Ernst!" rief Madge, und ich hörte ihrer Stimme an, daß sie entrüstet war. „Es ist beinahe unerträglich! Ich habe nicht gewagt, ein Sterbens wörtchen davon zu sagen, aber in Hances Schlucht beging er die grausame Niederträchtigkeit, mir zu drohen, daß . . Hier bogen sie wieder um die Ecke, und ich konnte den Rest des Satzes nicht hören. Wer was ich oer- nommen hatte, war mehr als genug, um ein heißes Gefühl der Scham in mir aufsteigen zu lasten; und doch konnte ich nicht glauben, daß ich richtig gehört hatte! Madge war in den letzten Tagen so freundlich zu mir gewesen, daß mir die Bitterkeit, womit sie jetzt sprach, ganz un begreiflich blieb. Ich konnte mir nicht denken, daß ein anscheinend so offnes und freimütiges Mädchen eine so vollendete Heuchlerin sein sollte und doch — ich erinnerte mich, wie vorzüglich sie in Hances Schlucht ihre Rolle gespielt hatte. Wer nein, auch das konnte ich nicht als Beweis an sehen. Indessen sollte ich den Beweis ihrer Falschheit sehr bald bekommen, denn während ich noch über diese schmerz liche Erfahrung nachdachte, waren die beiden wieder bei meinem Versteck angelangt, und Lord Ralles sagte: „Warum haben Sie sich nicht bei Ihrem Vater oder bei Ihren Brüdern beklagt?" „Weil ich wußte, sie würden ihm sein Benehmen gegen mich nicht ungestraft hingehen lassen, und . . ." „Natürlich hätten sie das nicht getan!" unterbrach ihr Begleiter sie. „Aber inwiefern hätte Ihnen dies nicht recht sein können?" „Wegen der Briefe! Begreifen Sie denn das nicht? Wenn wir ihn erzürnten, würde er uns an Herrn Camp verraten, und . . ." Abermals verschwanden sie um die Ecke, und ich war beinahe in Heller Verzweiflung, einmal, weil ich eine solche Unterredung behorchen mußte, und dann vor allem, weil Madge so niedrig von mir denken konnte. Und daß sie diese Äußerungen Lord Ralles gegenüber tat, machte mir den Schmerz noch empfindlicher. (Fortsetzung folgt.) ködere Diplomatie. , Skizze von Löon Lanros. (Nachdruck verboten.) I. Ein Raum, welchen der Vermieter als „möbliertes Zimmer" bezeichnet, den der Gerichtsvollzieher aber mangels jeglichen Pfändungsobjekts schwerlich so nennen würde. — Einige vollständig überflüssige Verzierungen bekunden, daß die Bewohner dieses Zimmers wenn auch kein Geld, so doch künstlerisches Empfinden besitzen. Cloöochineite (sitzt vollständig angekleidet auf dem' Bettrand und denkt angestrengt nach. Ihre Miene ist überaus ernsthaft, wie die eines Hasen, welcher sich über einen Kohlkopf hermachen will): „Ach Herr Gott! Wenn mir doch bloß mal so'n kleiner Rotschild unter die Hände käme!" Lafleme (auf zwei Stühlen am Fenster hingestreckt, Pfeife rauchend): „Na und bann?" Clodochinette (mit einer unbestimmten Handbewegung): „Dann? Ja, dann kannst du dir mein Bild einrahmen lasten, falls du das Bedürfnis haben solltest, noch ab und zu mein Gesicht zu sehen!" Lafleme (ruhig): „Du würdest mich also verlassen?" Clodochinette: „Selbstredend!" Lafleme (immer ruhig): „Unglückseliges Mädches! Du würdest mir das Herz brechen!" Clodochinette: „Ach Quatsch! Ich will bloß nicht vor Hunger krepieren! Du gibst mir ja nicht mal Geld, um een Paar Strümpfe zu kaufen!" Lafleme (mit erheucheltem Erstaunen): „Was? Strümpfe?. Willst bu etwa Strümpfe essend! Welch eine seltsame G« schmacksrichtung!" Clodochinette (achselzuckend): „Immer deine alten faulen Witze! 's ist doch zu toll, daß wir niemals auch nur ein Fünffrankstück zu sehen kriegen!" Lafleme: „Ich muß zugeben, daß wir in der Tat dieses Vergnügen nur äußerst selten genießen." Clodochinette: „Wenn du wenigstens arbeiten möchtest!" Lafleme (entrüstet): „Arbeiten? Niemals! Das wäre entwürdigend!" Clodochinette: „Wer ... um Geld zu bekommen." Lafleme: „Geld! Du hast immer nur das eine Wort im Munde!" Clodochinette: „In der Tasche hätt' ich's lieber!" Lafleme (in müdem Ton): „Also wieviel willst du?" Clodochinette (erstaunt): „Hast du geheime Fonds?" Lafleme: „Wieviel willst du?" Clodochinette (an den Fingern rechnend): „Ich brauche Strümpfe — drei Paar, einen Hut, Handschuhe . . Lafleme: '„Also sagen wir 100 Frank! Hast du daran genug?" Clodochinette (macht ein Paar Augen so groß wie ein Suppenteller): „Du hast 100 Frank!" Lafleme: „Ich habe sie nicht, aber man wird sie mir geben." Clodochinette: „Wer denn?" — Lafleme: „Vater Lemouche!" Clodochinette (wütend): „Und ich Schafskopf höre dir noch ganz ernsthast zu! Vater Lemouche? Der Speise wirt? Dir 1O0 Frank leihen?" Lafleme: „Jawohl. Sogar mit Wonne!" Clodochinette (ironisch): „>so? Mit Wonne? Vater Lemouche, der uns bereits genügend im Magen hat, weil wir ihm für drei Monate Essen schuldig sind! Wenn ich bloß das Gesicht sehe, mit dem er uns empfängt, vergeht mir schon der ganze Appetit!" Lafleme: „Und trotzdem wird er mir 100 Frank geben und noch „Danke schön!" sagen." Clodochinette: „Einen Fußtritt wird er dir geben, aber keine 100 Frank!" Lafleme: „Nun, was gilt die Wette?"' Clodochinette (lachend): „Ach, du bist ja verrückt! Auf solche Dummheiten wette rch nicht!" Lafleme: „Nun schön! Du wirst schon sehen. Seh' deinen Hut auf und komm!" v. DaS Lokal Vater LemoucheS ist voll von Gästen. Der Mrt selbst sitzt im Hintergrund Les ersten Zimmers mit einigen seiner Lieferanten — Weinhändler, Fleischer, Bäcker — an einem Tische und zecht wacker mit ihnen. Lafleme, sehr würdevoll, und Clodochinette, ängstlich und verlegen, steten ein und nehmen nicht weit davon Platz. Lafleme grüßt den Speisewirt mit gesuchter Liebens würdigkeit. Dieser wendet sich ihm zu und zeigt ihm ein wütendes Bulldoggengesicht. Clodochinette (leise): „Siehst du? Bei dem kommst du gerade schön an! Sei bloß ruhig, um Gottes willen!" Lafleme (unerschütterlich, zieht eine Karte aus der Tasche, schreibt ein paar Worte darauf und reicht sie seiner Begleiterin): „Dal" Clodochinette (lesend): „Wollen Sie, bitte, die Güte haben, mir durch den Kellner 100 Frank zu geben. Besten Dank im voraus .. ." „Hundert Frank! Der wird dir was pfeifen! Watte wenigstens, bis er allein ist!" Lafleme (mit einem mitleidigen Lächeln): „Nein, du bist Wittlich recht dumm! (Zum Kellner): Hier! Geben Sie das Ihrem Prinzipal — aber sofort!" Der Kellner bringt die Katte Vater Lemouche, auf welchen sie eine fchreckenerregende Wirkung ausübt. Er liest sie voll Erstaunen und wird vor Auflegung ganz rot. Dann betrachtet er den unerschütterlichen Lafleme, liest die Katte nochmals und erhebt sich schließlich, um sich Lafleme zu nähern. Clodochinette (lrise): „Na, jetzt geht's los! Deck dein Glas zu, sonst fällt er noch hinein!" Lemouche (krebsrot vor Wut, die Katte schwingend): „Wa . .. was . . . Hrn Lafleme . . . Was . . . Was soll Las bedeuten?" Lafleme (mit betrübter Miene): „Ach, ich bitte tausendmal um Verzeihung! Ein bedauernswertes Ber schen." Lemouche (sich benHigenH: - „Mo Ächt für Michl Na, dann ist's gut! Ich hab's mir ja gleich schacht.. ." Lafleme: „Doch! Doch für Sie! (Die Stimme senkend): Ich hatte bloß das Datum vergessen." Lemouche (laut): „Welches Datum?" Lafleme (noch leiser): „Das Datum von heute. Ich bitte tausendmal um Verzeihung!" Lemouche (schreiend): „Wer zum Teufel, rvaS faseln Sie da von Datum?" Lafleme (etwas lauter, nachdem er sich überzeugt hat, daß alle Gäste zuhören): „Nun, heute ist der 2S.l Ein Tag vor Ultimo! Ich hätte mir wohl sagen können. Laß es Ihnen unangenehm. . ." Lemouche (protestierend): „Warum soll mir daS un angenehm sein?" Lafleme: „Nun, sehr einfach, sollte ich meinen! Für ein großes Haus hat der Ultimo natürlich nichts zu be deuten, aber für einen kleinen Kaufmann . . ." Lemouche (ärgerlich): „WaS! Wer ist hier ein kleiner Kaufmann?" Lafleme: „Jawohl, jawohl .i 100 Frank von Ihnen zu verlangen einen Tag vor Ultimo, den selbst gut fundierte Häuser fürchten . . ." Lemouche (mit einem unruhigen Blick nach seinen Lieferanten): „Wer ich fürchte weder Ultimo noch sonst einen Tag!" Lafleme (unbeirrt fottfahrenö): „Es war eine Rück sichtslosigkeit, eine Ungeschicklichkeit meinerseits, ich gestehe es. Hätte ich im entferntesten ahnen können, daß es Ihnen unangenehm . . ." Lemouche (sich immer mehr erregend): „Wer zum Henker sagt Ihnen denn, daß es mir unangenehm ist? Das wäre ja noch schöner! Lumpige 100 Frank . . ." Lafleme: „Ja, ja. . . Das ist eine ganz anständige Summe, und rch hätte mir wohl denken können, daß Sie nicht imstande sind ..." Lemouche (schreiend): „Wer Kreuzmillionendonner wetter! Ich bin dazu imstande . . . bloß . . ." Lafleme (verständnisinnig nickend): „Ja, ja, ich ver stehe . . . bloß nicht augenblicklich. In ein paar Tagen vielleicht. Anfang nächsten Monats, nicht wahr?" Lemouche (nach Lust schnappend): „Wer ich sage Ihnen doch, daß ich auf Ihren ganzen Ultimo pfeife!" (Zieht seine Brieftasche.) Da sind 100 Frank! Nehmen Sie!" Lafleme (läßt sich bitten): „Nein, wirklich! Ich bin Ihnen vielleicht doch ungelegen gekommen?" Lemouche (auf den Tisch schlagend): „Herr, wie oft soll ich Ihnen sagen, daß mir Ler Ultimo ganz schnuppe ist?! Nehmen Sie — und abgemacht!" Lafleme (das Geld nehmend): „Sie find wirklich zu liebenswürdig! Ich wollte mich nämlich nicht an Sie wenden, weil ich fürchtete, ungelegen zu kommen. (Zeigt auf Clodochinette, die sich zusammennehmen muß, um nicht loszuprusten.) Aber hier, Chinette meinte: Wie kannst du nur annehmen, daß solch eine Lappalie Herrn Lemouche in Verlegenheit setzen wird? Ein geachteter Kaufmann, wie er, der große Geschäfte macht . . ." Lemouche (sich in Lie Brust wettend): „Jawohl! Die Dame hat ganz recht!" Lafleme: „Mso Sie sind mir nicht böse?" Lemouche (noch immer sehr rot): „Nein. Das heißt: ich wäre Ihnen böse gewesen, wenn Sie sich an jemand anders gewendet hätten." Lafleme: „Sie sind wirklich zu liebenswürdig!" Vater Lemouche kehrt an Len Tisch zu seinen Lieferanten zurück, auf welche diese Szene natürlich den denkbar besten Eindruck gemacht hat. Lafleme (leise zu Clodochinette): „Na, stehst du wohl, wie der gute Mann sich freut?" Clodochinette (ebenso): „Du hättest Minister werden müssen! Wer jetzt sei bloß still, sonst lache ich los und falle unter den Tisch." Lafleme (erhebt sich): „Mso, gehen wir!" Clodochinette (erstaunt): „Wie? Speisen wir denn Nicht hier?" Lafleme (in vorwurfsvollem Ton): „Wer, Chinette! Hier speisen? (Mit schlecht verhehlter Verachtung): Wie kannst du bloß denken! Was brauchen wir hier zu speisen, wenn wir wirklich einmal Geld haben? Hier haben wir doch Kredit!"