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trur .. . Wie heißt doch die Station, wo wir augen blicklich halten?' Ich wollte aufstehen, sie hielt mich aber zurück, indem sie sagte: .Bitte, bemühen Sie sich nicht. Ich dachte, Sie müßten es, ohne daß Sie erst nachzusehen brauchten. Es liegt mir wirklich nichts daran, es zu erfahren.' Ich zog meine Uhr und sah zu meiner Überraschung, daß es bereits zwanzig Minuten nach zwölf war. Natür lich war ich nicht so einfältig, Fräulein Cullen dies zu sagen, sondern ich bemerkte nur: „Der Zeit nach zu urteilen, muß dies Sanders sein.' „Halten wir hier lange?" fragte sie. „Nur so lange, um Wasser einzunehmen", antwortete Ich, und fuhr hierauf in meiner Erzählung fort. Wer während des Sprechens kam es mir allmählich zum Bewußtsein, daß wir bereits geraume Zeit gehalten hatten. Ich schwieg plötzlich und schaute hinaus, um zu sehen, wo wir eigentlich wären, konnte es jedoch nicht feststellen, da man auf beiden Seiten nur die weite Alkaliwüste sah. Ein wenig überrascht blickte ich auf die Schienen und be merkte, daß ein Ausweichgeleise nicht vorhanden war. Hastig sprang ich nun auf und sah nach vorn. Ich be merkte zu beiden Seiten des Zuges sich bewegende Ge stalten. Dies wollte jedoch nichts sagen, denn das Zug personal sowohl als die Passagiere benutzten gern jeden Aufenthalt des Zuges, um für einen Augenblick aus zusteigen. Sehr vielsagend aber war, daß kein Wasser behälter und kein Stationsgebäude zu sehen war. Weshalb also hielt der Zug mitten im freien Felde? „Ist irgend was passiert?" fragte Fräulein Cullen. „Wahrscheinlich ist irgend etwas mit der Maschine oder dem Geleise nicht in Ordnung, Fräulein Cullen", antwortete ich: „Wenn Sie mich für einen Augenblick entschuldigen wollen, will ich nach vorn gehen und mal nachsehen!" Kaum hatte ich diese Worte gesprochen, so fielen — bang! bang! — zwei Schüsse. Ich hörte sofort, daß sie aus einem englischen Expreß abgefeuert waren, also offenbar aus einem der Doppelgewehre des englischen Brüderpaares, die der ältere davon, Lord Ralles, mit dem Namen „Büchse" bezeichnet hatte. Kaum waren die beiden ersten Schüsse gefallen, so ging es: Krack! Krack! Krack! Krack! Das waren Winchestergewehre! „O! Was ist denn das?" rief Fräulein Cullen. „Ich glaube, Ihr Wunsch ist in Erfüllung gegangen!" antwortete ich hastig. „Wir sind überfallen worden, und Lord Ralles zeigt uns, wie man . . ." Meine Worte wurden unterbrochen. Bang! Bang! donnerte wieder ein Expreß, und die beiden neuen Schüsse folgten so schnell aufeinander, daß sie beinahe gleichzeitig fielen. Krack! Krack! Krack! ant worteten die Winchesterbüchsen — und dann wurde es still. „O weh", dachte ich. „Nun ist's aus mit Lem armen ^ohn Bull!" 3. Kapitel. Ich schob schnell Fräulein Cullen in Len Wagen hinein, riegelte die Hintertür zu und nahm meine Winchester büchse von ihrem Haken. „Ich geh' nach vorn", sagte ich ihr, „und werde meinen Schwarzen sagen, Laß sie die vordere Tür dieses Wagens verschließen: auf diese Weise werden Sie hier so sicher sein wie in Chikago." Eine Minute darauf war ich auf der vorderen Platt form meines Wagens. Ich sprang zwischen den beiden Wagen zur Erde und kroch neben Herrn Cullens Salon wagen — oder vielmehr halb unter ihm — nach vorn. Nach meiner wehmütigen Betrachtung von vorhin über raschte es mich natürlich ungemein, als ich am vorderen Ende des Wagens die Leiden Briten und Albert Cullen in denkbar ungeschütztester Lage stehen sah. „Oah", sagte bei meinem Auftauchen Cullen in seinem üblichen gedehnten Ton, „da kommt Herr Gordon — ein bißchen zu spät für den Sport." „Na", prahlte Lord Ralles, „wir haben uns erlaubt, uns ein bißchen ins Spiel zu mischen, Herr Betriebs direktor, und sind nicht angepfeffert worden. Die Schurken brachten sich in Sicherheit, sowie wir das Feuer er öffneten.' Inzwischen hatten sich etwa zwanzig Paffagiere bei uns eingesunden; alle fragten auf einmal, so daß es schwierig zu erfahren war, was überhaupt sich ereignet hatte. Soviel ich aber aus den verschiedenen Antworten ent nehmen konnte, waren die Pokerspieler durch den langen Aufenthalt neugierig geworden, hatten aus dem Fenster gesehen und einen Mann mit einer Büchse bemerkt, der vorn bei der Lokomotive stand. Sofort hatten sie nach ihren Gewehren gegriffen, Lord Ralles hatte beide Läufe seiner Büchse auf Len Mann abgeschossen, und als Ant wort darauf waren die vier Schüsse gefallen, die ich zuerst gehört hatte. Durch das Schießen gestört, waren die übrigen Räuber von den Wagen heruntergesprungen, und der Hauptmann und Albert Cullen hatten die übrigen Schüsse auf die nach verschiedenen Richtungen entfliehenden Kerle abgefeuert. Ich hielt mich nicht damit auf, die Be schreibung ihrer Heldentaten noch länger anzuhören, sondern begab mich nach vorn, um zu sehen, was die „Eisenbahnagenten' erbeutet hätten. Den Packmeister fand ich mit gebundenen Händen und Füßen in der Ecke seines Wagens; ich befahl einem Bremser, den ich mitgenommen hatte, ihm die Fesseln ab zunehmen, und wandte meine Aufmerksamkeit dem Kassen- fchrank zu. Daß die Störung nicht einen Augenblick zu früh gekommen war, lag auf der Hand, denn die Dynamitpattone war schon angesetzt, und auf dem Fuß boden lag die Zündschnur, die man offenbar in der Hast hatte fallen lassen. Wer der Kassenschrank war un versehrt. Ich begab mich nun in den Postwagen und fand den Beamten an einen Pfosten angebunden. Ein Briefsack war ihm über den Kopf gezogen, und auf dem Sortiertisch herrschte ein wirres Durcheinander; eine große Menge Briefe war auf dem Fußboden verstreut. Ich band den Beamten los und fragte ihn, ob Briefe abhanden ge kommen seien; er warf einen Blick auf den wirren Haufen und antwortete, er könne darauf erst Antwort geben, wenn er genau nachgesehen habe. Nachdem ich mich in dieser Weise über die Bedeutung des angerichteten Schadens zu vergewissern versucht hatte, begann ich Fragen zu stellen. Unmittelbar nach unserer Wfahrt von der Station Sanders waren zwei Männer mit schwarzen Masken vor den Gesichtern in den Post wagen gekommen; der eine hatte dem Beamten den Re volver vorgehalten, und der andere hatte ihn gebunden und ihm den Sack übergestteift. Zwei andere Männer waren nach dem vorderen Wagen gegangen und hatten es mit dem Packmeister ebenso gemacht. Ein fünfter war über den Tender geklettert und hatte dem Lokomotivführer befohlen, den Zug zu stoppen. Dies alles war der voll kommen programmäßige Verlauf, wie ich ihn seinerzeit Fräulein Cullen beschrieben hatte; aber es war eine Ab weichung dabei, von der ich nie zuvor gehört hatte, unü deren Zweck ich nicht zu ersehen vermochte. (Fortsetzung folgt.) Vas Vukn. Novellette von Michel Corday. (Nachdruck verboten.) Man weiß, mit welcher Leichtigkeit und Raschheit sich während des Sommeraufenthaltes Freundschaften an knüpfen lassen. Der Müßiggang, die unausgefüllten Stunden sommerlicher Langeweile begünstigen unsere gesell schaftlichen Instinkte. Und die Gewißheit, diese leichten Bande nach der Rückkehr wieder abschütteln zu können, entkräftet jedes Mißtrauen. In diesem Jahre war der junge Advokat Paul Langevin der letzte Zuwachs unseres kleinen Kreises. Es war ein großer, breitschulteriger Mensch mit wohl gepflegtem Haar und Bart, kräftiger Stimme, guten, zu versichtlichen Augen und stets heiterer Laune. Sein kolossaler Appetit war unter uns bald sprichwörtlich geworden. Er war selbst der erste, sich darüber lustig zu machen, verLarg es nicht, wenn er an der Table-d'hote die doppelte Portton vertilgte, und nahm gutmütig lachend unsere Anspielungen auf seine Gefräßigkeit hin. Indes bemerkte ich bald, daß der Vielfraß niemals Hühner aß. Diese Entdeckung war leicht zu machen, denn Hühner bilden nicht nur den Hauptbestandteil aller Sotel- menüs, sondern find auch eine nicht zu unterschätzende Hilfsquelle bei improvisierten Mahlzeiten und Landpartien. Wer ob es sich um kalte oder warme, um gebratene, ge backene oder gesottene Hühner handelte, Langevin wies sie in jeder Form zurück. Stets schob er die Schüssel mit einer Art von Wider willen und Traurigkeit von sich. Und es wunderte mich nicht weiter, daß er beim Vorübergehen eines so appetit lichen Gerichtes bettübt wurde. Wer warum bediente er sich dan« nicht? Warum widerstand er gerade dieser einzigen unter allen Speisen? Dieses kleine gastronomisch-psychologische Problem begann mich zu interessieren. Trotzdem scheute ich mich, den jungen Advokaten bei Tische danach zu fragen. Viel leicht hätte er mir ungern vor einer so großen Gesellschaft geantwortet. Vielleicht würde er sich sogar Leleidigt gefühlt haben. Eines schönen, sonnigen Vormittags begegneten wir uns am Strande und machten einen gemeinsamen Spazier gang die Küste entlang. Plötzlich zog Langevin die Uhr aus der Tasche und konstatierte mit humoristischem Lächeln, daß die Essenszeit herannahe. Wir kehrten um, und ich benützte die Gesprächsverbindung, die sein guter Appetit ergab, und fragte geradezu: „Sagen Sie, lieber Doktor, wieso kommt es eigentlich, daß Sie niemals Hühner essen?" Er errötete ein wenig, blieb stehen und sah ins Weite: — „Sie haben es also bemerkt. . ." Wir gingen weiter, und er fügte nach einer Weile hinzu: „Meiner Treu, ich will Ihnen die Geschichte erzählen. Sie ist nicht ohne Moral. Der Ursprung meines Wider willens liegt sehr weit zurück. In meiner frühesten Kind heit. Ich habe Len Shock bekommen. Ganz richtig — S, h, o, ck." „Den Shock?" „Ja, das ist ein Wort, das die Physiologen erfunden haben. Sie behaupten, daß der Eindruck von Schreck, Schmerz oder Angst, den ein beliebiges Ereignis in uns hervorrief, immer wieder erwacht, wenn irgendein Um stand uns an dieses Ereignis erinnert. Ein Beispiel: Sie spielen mit einer Schere und schneiden sich tüchtig in den Finger. Noch Jahre nachher werden Sie — wenn Sie mit einer Schere spielen oder andere damit spielen sehen — sich des peinlichen Gefühls entsinnen, das der Schnitt Ihnen hinterließ, werden nervös die Schere wegwerfen oder sie dem anderen fortnehmen. Das heißt, Sie haßen den Shock erhalten. Ich war noch sehr klein, aber schon damals mit dem gesegneten Appetit begabt, den Sie heute an mir kennen Meine Eltern, weit entfernt davon, sich zu freuen, waren entsetzt darüber. Sie fürchteten, mich umzuLringen, wenn sie mich nach Gefallen essen ließen. Im Grunde glaubten sie auch mehr an Naschhaftigkeit, als an ein reelles Nahrungsbedürfnis. Kurz, sie teilten mir die Rattonen zu und glaubten wohl daran zu tun. Meistens war ich, nachdem das Dessert abgeräumt war, nicht weniger hungrig als vorher. Und es passierte mir, daß ich nach der Mahlzeit die Schränke und das Büfett durchsuchte, um ein Stück Brot oder eine Näscherei zu erobern und da? Menü auf diese Art ein wenig zu bereichern. Eines Tages, es war auf dem Lande, entdeckte ich bei meiner Inspektion in der Speisekammer die Hälfte eines prächtigen, kalten Huhnes, Las zweifellos für das Abendessen bestimmt war. Damals liebte ich die Hühner nämlich noch, das können Sie mir glauben. Ich hatte eine wahre Leidenschaft für sie. Und dieses war besonders verlockend, wie es so knusperig gebraten und appetitlich auf der Schüssel lag. Alles vereinigte sich, um mich in Versuchung zu führen. Die Eltern waren seit Lem Frühstück ausgegangen und die Magd schwatzte auf der Tüxschwelle mit Bekannten. Der Gärtner arbeitete draußen im Garten. Ich war ganz allein im Hause.... ich hatte Hunger .... und ich war sechs Jahre alt . . . Der Kampf zwischen Furcht und Verlockung war kurz. Ich unterlag. Zuerst nahm ich ein ganz kleines Stückchen, das sich fast von selbst loslöste. Wer das Flügelchen war so locker, so wohlschmeckend, daß ich nicht die Kraft hatte, aufzuhöLen. Ich riß dem Huhn ein Bein ans und ver zehrte es mit Hochgenuß. Der Appetit wuchs beim essen, und da das Verbrechen einmal im Gange war, hätte es ja keinen Zweck gehabt, gerade im besten Essen aufzuhören Gedankenlos, rm kindlichen Vergnügen des Raubes, aß ich alles auf, so daß nicht ein Fäserchen übrig blieb. Als ich endlich gesättigt und befriedigt innehielt, waren nur noch die Knochen vorhanden. Ach Gott, die Knochen. Was sollte ich mit ihnen an sangen? Sie mußten fort, um die Entdeckung meiner Sunde zu verzögern, um dem Fehlen des Huhnes den Eindruck eines geheimnisvollen, absoluten und spurlosen Verschwindens zu verleihen. Plötzlich durchkreuzte eine geniale Idee mein Gehirn. Wir hatten einen Hund, einen prachttollen Colly mit Namen Valdo. Wir beide liebten uns abgöttisch. Er war sanft, zärtlich und hatte menschlich schöne Augen. Ihm wollte ich die Knochen bringen. Er würde sich darüber her machen, und alles war gut. Das Huhn würde voll ständig verschwunden sein und seine Geschichte nur als eine Art Wunder im Gedächtnis bleiben. Ohne gesehen zu werden, ließ ich die Reste meiner Mahlzeit in den Napf des Hundes gleiten und entfernte mich seltsam erleichtert, nach Kinderart mir das Wenteuer aus dem Gedächtnis schlagend. Plötzlich weckten ver zweifelte Schreie mein eingeschlummertes Gewissen auf. Die Magd vermißte das Huhn. Die Eltern waren aller dings noch nicht zurückgekehrt, aber der Gärtner kam auf ihr Geschrei herbeigelaufen, und beide machten sich daran, das Haus zu durchsuchen. In der Sicherheit, niemals entdeckt zu werden, setzte ich eine treuherzige Miene auf und tat fogar, als ob ich mich an der Suche beteilige. Es ist seltsam, wie die Furcht vor Strafe alle Instinkte der Verstellungskunst in uns wachruft. Ich bewunderte mich selbst und verachtete ein wenig die beiden Dienstboten, Lie sich von mir täuschen ließen. Plötzlich stieß die Magd einen Schrei des Triumphes aus. Sie hatte die Knochen in Ler Schüssel des Hundes gefunden. Er hatte sie nicht ganz bewältigen können . . . Valdo war und blieb Ler Schuldige! Sie erraten ohne Zweifel den Rest Ich hatte mich in mein kleines Zimmer verkrochen, aber ich hörte trotzdem das schmerzliche Heulen des Hundes, meines besten Freundes ... der Gärtner verabreichte ihm eine aus- gi bige Züchtigung, um ihn zu strafen und ihm die Lust ei w Wiederholung zu benehmen. Ich wollte hinuntereilen, die Exekution aufhalten, mich selbst angeben. Wer ich wagte es nicht. Scham und Stolz hielten mich zurück. Ich konnte mich vor diesen Leuten nicht demütigen, denen ich noch scheinbar beim Suchen geholfen hatte. Ich verstopfte mir die Ohren, aber das Heulen drang doch zu mir und füllte mir zum Zer springen Kopf und Herz. Damals habe ich im tiefsten Grunde meines Seins den Schmerz der Gewissensbisse und das Entsetzen der Un gerechtigkeit erfahren. Eine Stunde später, auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden, schlang ich schluchzend die Arme um den Hals des Hundes und bat ihn, mir zu verzeihen, während er sanft mein Gesicht leckte . . . Ich hatte den Shock erhalten. Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen, aber ich kann keine Hühnerknochen sehen, ohne daß ich das schmerzliche Geheul meines Valda hören glaube . . ." Scklaf auck äu! Die Sonne sank, der Abend naht Und stiller wird's aus Straß' und Pfad, Und süßer Friede, Ruh und Rast Folgt auf des Tages Sorg und Last. Es schweigt der Wald, es schweigt das Tal: Die Vöglein schweigen allzumal. Sogar die Blume nicket ein Und schlummert bis zum Tag hinein. Schon rieselt nieder kühler Tau Auf Halm und Blatt, in Feld und Au. Lm Laube spielet frische Luft, Und Blüt und Blume spendet Duft. Der Abendstern mit güldnem Schein Blickt in die stille Welt hinein. Als rief er jedem Herzen zu: Sei still, sei still, und schlaf auch du! Hoffmann von FallerSlebe«.