Volltext Seite (XML)
„Aber Sie Haden auch mitgeholfen, Herr Gordon!' rief Fräulein Cullen. Ich wurde unwillkürlich rot; dann, nach einem kurzen Zögern, fagte ich: „Ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken, Fräulein Cullen. Ms ich nach vorn ging, glaubte ich nicht, daß ich irgend etwas würde ausrichten können. Ich nahm an, daß alle, die mit den Räubern zusammengeraten wären, bereits tot seien und daß mir selber binnen zehn Minuten dasselbe Los bevorstände." „Warum setzten Sie denn aber Ihr Leben aufs Spiel', fragte sie, „wenn Sie das für zwecklos hielten?" Ich mußte lachen, aber ich war doch ein bißchen ver legen, als ich ihr erwiderte; „Sie sollten nicht denken, Fräulein Cullen, die Engländer hätten mehr Schneid als ich!" Sie nahm dieses Bekenntnis besser auf, als ich gehofft hatte, stimmte in mein Lachen ein und bemerkte schließlich: „Nun, jedenfalls war es mutvoll von Ihnen." „Hm, ja", bekannte ich, „ich war vor lauter Angst tapfer!" „Hätten unsere jungen Herren die Gefahr ebensogut gekannt wie Sie, so wären sie vielleicht weniger kühn gewesen." Für diese Bemerkung hätte ich ihr zu Füßen fallen mögen! Während wir noch beim Essen saßen, kam der Post beamte und berichtete mir, er hätte trotz sorgfältigsten Suchens die drei Einschreibbriefe nicht gefunden; sie wären also offenbar gestohlen worden. Diese Mitteilung riß mich aus meiner gehobenen Stimmung heraus, so geringfügig auch aller Wahrscheinlichkeit nach der Verlust war. Der Beamte sagte mir, aus seinem Verzeichnis ginge hervor, daß alle drei Briefe nach Ash Forks, Arizona, adressiert wären; es sei nicht anzunehmen, daß der Inhalt tatsächlichen Wert besitze. Meine Verwirrung wurde dadurch aber nicht geringer, sondern im Gegenteil noch größer. Um sechs Uhr zehn Minuten pfiff die Lokomotive: sie hatte also Dampf- Ich befahl einem von den Bremsern, im Hinteren Wagen zu bleiben, und begab mich in den Wagen Nr. 218. Herr Cullen war noch nicht sichtbar, aber ich sprach ihm durch die geschlossene Tür hindurch mein Bedauern aus, daß ich den Ausflug nach dem Großen Kanon nicht mit unternehmen könnte; Wagen und Pferde wären aber in Flagstaff für die Gesellschaft bestellt, und im Großen Kanon würde ich wieder zu ihnen stoßen, falls mir das Glück hold wäre. Dann sah ich mich schnell nach Frederik um — den hatte ich über den aufregenden Vor gängen der Nacht beinahe ganz vergessen — und fand, daß es sich mit ihm bedeutend gebessert hatte, so daß er sogar ans Äufstehen dachte. Als ich wieder den Salon betrat, fand ich die ganze Gesellschaft dort versammelt und ver abschiedete mich von Albert und dem Hauptmann. Dann wandte ich mich zu Lord Ralles, hielt ihm meine Hand hin und sagte: „Lord Ralles, ich scherzte gestern früh ein bißchen über Ihre Ansichten, wie man mit „Eisenbahnagenten" umspringen müßte. Sie haben auf den Scherz eine sehr hübsche und schneidige Antwort gegeben; ich möchte Sie daher um Entschuldigung bitten und Ihnen im Namen meiner Eisenbahngesellschast Dank sagen." „Zu Leidem keine Ursache!" versetzte er hochfahrend, wobei er tat, als sähe er meine Hand nicht. Ich habe niemals Anspruch darauf gemacht, für einen sanftmütigen Mann zu gelten, und es kostete mich grobe Selbstüberwindung, an mich zu halten. Ich wandte mich zu Fräulein Cullen, um ihr eine vergnügte Reise zu wünschen, und über dem Gedanken, daß wir uns vielleicht zum letztenmal sähen, vergaß ich sogar Lord Ralles. „Ich hoffe, es ist kein Lebewohl, sondern nur ein ,Auf Wiedersehen'," sagte sie. „Aber auf jeden Fall müssen Sie sich mal in Chikago bei uns sehen lassen, damit ich Ihnen zeigen kann, wie dankbar ich für das besondere Vergnügen bin, Las wir bei unserm Ausflug Ihnen zu verdanken hatten." Dann, im Augenblick, als ich von der Plattform heruntersprang, lehnte sie sich heraus und fügte leise hinzu: „Ich hielt Sie für genau so tapfer wie die ankern, Herr Gordon, und jetzt halte ich Sie für noch tapferer." Ich drehte mich lebhaft um und erwiderte: „Und , gewiß würden Sie das tun, Fräulein Cullen, wenn Si< wüßten, welches Opfer ich bringe." Dann gab ich, ohne fie noch einmal anzusehen, das Zeichen zur Abfahrt; die Glocke läutete, und Zug Nr. L fetzte sich in Bewegung. Das letzte, was ich sah, war eir Taschentuch, das von der Plattform von Nr. 218 herab wehte. Ms der Zug außer Sicht war, nahm ich mich mit Gewalt zusammen und ging wieder zu meinem Tele graphenapparat. Ich drahtete nach Coolidge, daß die Forts Wingate, Apache, Thomas, Grant, Bayard und Whipple alarmiert werden sollten, obwohl ich diese Vorsichts maßregel für reine Verschwendung hielt. Dann ließ ich den Bremser auf die Telegraphenstange hinaufklettern, um Len Lurchgeschnittenen Draht wieder in Ordnung zu bringen und oben zu befestigen. „Zwei von den Kugeln sind hier eingeschlagen, Herr Gordon!" meldete der Mann von seiner Höhe herab. „Nicht möglich!" rief ich erstaunt. „Jawohl, Herr!" antwortete er. „Die Kugelspuren sind ganz frisch." Auf der Stelle, wo ich stand, bezeichneten die aus gebrannten Kohlen deutlich genug die Stelle, wo der Zug gehalten hatte. „Jetzt wundere ich mich nicht mehr, daß niemand ge troffen wurde, wenn das 'ne Probe von ihrer Schießkunst ist. Bei einem von ihnen muß es ganz gewaltig gerappelt haben. Schneiden Sie die Kugeln aus dem Holz, Douglas: wir wollen sie uns doch mal ansehen." Eine Minute darauf war er mit den Kugeln unten. Wie ich's erwartet hatte, waren es Winchesterkugeln: sie waren auf der Seite etngeschlageu, wo die Räuber ge standen haben mußten. „Der Bursche muß voll von Arizonawhisky gewesen sein, sonst hätte er nicht so wild um sich schießen können", rief ich aus. Dann ging ich nach dem Platz hinüber, wo der Postwagen gestanden hatte. Ich wollte doch genau feststellen, wie schlecht der Mann geschossen hatte. Es war wirklich kaum zu glauben, wie ungeschickt er gezielt haben mußte, denn als ich meine eigene Winchesterbüchse auf den Telegraphenpfahl richtete, stellte ich fest, daß der Lauf etwa zwanzig Grade nach der Seite und vierzig Grade in die Höhe von der Richtung abwich. Die Patronenhülsen, die vor mir auf dem Erdboden lagen, bewiesen, daß ich genau auf der Stelle stand, von wo aus die Schüsse ab gefeuert waren. Während ich noch über dieses Rätsel nachgrübelte, kam der Sonderzug, den ich von Flagstaff her bestellt hatte, in Sicht: ein paar Augenblicke später hielt er neben mir. Er bestand aus drei Vieh- und einem Personenwagen und brachte den Scheriff, ein Dutzend Cowboys, die er in Eid genommen hatte, und deren Pferde. Da diese Burschen in derartigen Sachen viel mehr Geschick besitzen als gewöhn liche Menschenkinder, so hoffte ich, sie würden etwas ent decken können, was ich nicht gesehen hatte; aber nachdem sie auf eine Meile im Umkreis von der überfallsstelle aus den Boden nach allen Richtungen untersucht hatten, standen sie ebenso ratlos da wie ich. „Die Kerls müssen hier herum in den Erdboden ge schlüpft sein!" rief der Scheriff. „Denn ohne Flügel konnten fie sonst nicht von hier fort." Diese Idee wollte wir nicht recht einleuchten, und das sagte ich dem Scheriff auch. „Na, dann geben Sie was Besseres an!" lautete seine Antwort. (Fortsetzung folgte Sratulierlormtag. Moderne Skizze von Martha Hellmuth. (Nachdruck verboten.) Ort der Handlung: Eine der reizlosen monotonen Mietskasernen der Großstadt im äußersten Westen. DaS Treppenhaus mit einem Aufwand von Stuck und Marmor, der unbefangene Gemüter noch in falsche Träume von Vornehmheit und Reichtum einwiegt. Oben an der Tür der Brautwohnung ein struppiger Lohndiener in fettigem Frack. In dem engen Korridor ein Gewirr von Schirmen und Hüten. Drin in der gute» Stube auf dem Paneel sofa von grünem gepreßten Samt thront Lie Mutter mit dem Ausdruck einer Siegerin. Im Zimmer selbst, inmitten der schwatzenden, lachenden, fragenden Gratulanten das Brautpaar. Die Braut: Schickt sich eben an, die Zwanzig zu ver lassen und die Dreißiger zu betteten. Klein, elegant gebaut, von äußerstem Schick in der Toilette, trägt nur seidene Jupons und ist seit einiger Zeit rotblond. Man beobachtet dies im feinen Viertel der Hauptstadt als eine „Alterserscheinung", die mit fünfundzwanzig Jahren häufig aufttitt und in der Ehe gewöhnlich verschwindet. Der Bräutigam: Ein frisch und intelligent aussehender Mann, dessen einfachem, ungekünsteltem Wesen man an merkt, daß er kein Produkt des verfeinerten Westens ist, sondern daß er bisher in einem fernen Fabrikviertel der Großstadt ein bescheidenes und arbeitsames Leben geführt hat. Mit einem gewissen naiven Erstaunen beobachtet er die ihm ganz fremde Welt und deren Erscheinungen. — Die Frauen mit den riesigen Hüten, auf denen Federn- wälder und Blumengärten sich wiegen, Toiletten in den auffallendsten Farben, von kühnem Schnitt, der die Formen zu verhüllen scheint und sie um so kecker preisgibt, mit raschelnden Unterröcken, phantastischen Schirmen, einem aufreizenden Dust von Moschus und Chypre um sich her. Die Männer nervös, unruhig, überarbeitet und blasiert, mit skeptischem Lächeln und müden Augen, ohnmächtig, zu lieben und zu hassen, indifferent und entnervt von Genuß und Sorge! — Die Unterhaltung haftet immer an den selbenspringenden Punkten: Wohnung, Gegend, Einrichtung, Hochzeitsreise, lauter Dinge, die dem schlichten, fleißigen Manne als sehr nebensächlich erscheinen, die aber von diesen oberflächlichen schablonenhaften Menschen mit der größten Gravität und Wichtigkeit verhandelt werden! Neue Ankömmlinge, neue Verbeugungen, höfliche Redens arten, Lächeln, Händedrücke, Abschiednehmen! — Auf der Treppe, nachdem die Tür sich hinter den Gratulanten ge schlossen hat, beginnt das Gericht. Frau Wendhoff, eine hübsche, blühende Brünette von schlankem Wuchs, mit lebenslustigen, sprühenden Augen, fesch und nach der neuesten Mode gekleidet, eine der zahlreichen „besten Freundinnen" der Braut, zu einer anderen: „Was sagen Sie denn zu der Wahl unserer Netty? Mir scheint der Mann etwas zu simpel für sie." Frau Bergen, die andere, eine Cousine, der Braut, und als solche ihre geborene Feindin und Neiderin: „Mir tut er jetzt schon in der Seele leid. Er wird sich wundern, wenn er erst merkt, wie anspruchsvoll Netty ist. Wenn ich denke, daß sie immer nur Hüte von der teuersten Putz macherin trägt, daß sie überhaupt nur Luxus, Komfort, Eleganz liebt." Herr Wendhoff, der Gatte, ein liebenswürdiger und nachsichtiger Mensch, öffnet den Damen die Haustür und sagt: „Sie versteht aber, sich mit geringen Mitteln so hübsch zu putzen. Sie sieht immer so nett und graziös aus. Ein gewandtes Mädel; kennt das Leben und die Menschen. Sie hat sich's doch sauer genug werden lassen, bis fie so weit war." Frau Wendhoff: „Ich werde sie während der Braut zeit unter meine Fittiche nehmen. Man muß den Mann ein bißchen zustutzen, damit er lerne, was zum Leben gehört! Da im Norden, wo er bis jetzt gewohnt hat, ist eine ganz andere Welt als bei uns. Er muß erst auf den Geschmack kommen, erst merken, wie angenehm eine hübsche Wohnung, eine elegante Frau, des abends ein vergnügter Bummel in Theater und Restaurant ist. Netty muß ihn erst erziehen, und ich werde ihr helfen." Die Cousine (mit einem Seitenblick auf die strahlende, seidenrauschende Sprecherin): „Da hat sie ja an Ihnen Las beste Vorbild, gnädige Frau." Herr Wendhoff (mit zärtlichem Lächeln): „Wenn Fräulein Netty ihre« Mann so beglückt, wie mich meine Frau —" Die Cousine (hager und reizlos, seit mehreren Jahren Witwe): „Es scheint wirklich, daß man mit den alten Künsten die Männer noch immer am leichtesten fängt. Netty hat es mit ihren Spitzenunterröcken, ihren gefärbten Haaren Und ihren koketten Manieren also wirklich noch durch gesetzt! Na, ich gönne eS ihr von Herzen!" (Auf Deutsch heißt das: Ich berste innerlich vor Wut, daß sie keine alte Jungfer geworden ist, wie ich's ihr immer prophezeit und im stillen gewünscht habe!) — (Und mit einem säuerlichen Lächeln schwenkt sie an der nächsten Ecke ab. Herr und Frau Wendhoff besteigen mit verständnisvollen Micken einen Wagen und rollen davon.) - v Oben, in der Wohnung Nettys, ein fortwährendes Gehen und Kommen, auf der Treppe halblautes Reden und Lachen. „Haben Sie den Blumenkorb gesehen, Len er ge schickt hat?" „Das ist in seinem Stadtviertel kl. so Mode! — Und wie sein Rock saß, nicht einmal Frack bei solcher Ge legenheit!" „Na, für sie ist es aber die höchste Zeit, sie hat beim Lachen lauter Falten im Gesicht." „Jetzt braucht sie sich nicht mehr bis zur Erkältung zu dekolletieren, das Rennen ist gewonnen!" „Du hast's erreicht, Oktaoio!" . . . „Armer Kerl, der muß schwer gesündigt haben, daß er so reinfällt I" „Na, ich kaufe das Hochzeitsgeschenk nicht eher, als bis sie vom Standesamt kommen! Vorher glaube ich die ganze Geschichte nicht!" . . . So zischelt's und stichelt's und spöttelt's durchein ander. Die Braut aber, nachdem der Schwarm der Be sucher sich verlaufen, auch der Verlobte sich bis zum Abend beurlaubt hat, steht am Fenster ihres kleinen Stübchens und blickt in tiefen Gedanken vor sich hin. Ihr ganzes Leben bis zu diesem Tage zieht an ihr vorüber. Sie sieht sich als blutjunges, reizendes Mädchen, umschwärmt und gefeiert von einer ganzen Schar liebenswürdiger, hoch gebildeter Leute, von denen sie, als mittelloses, auf eine glänzende Heirat angewiesenes Mädchen stets die Reichsten bevorzugt hat. Von ihrem siebzehnten Jahre bis heute, wo sie an Ler Schwelle der Dreißig steht, schwebte ihr als einziges Ziel, als Rettung und Triumph, immer nur die Ehe vor, die Ehe mit einem sehr reichen Mann, der all ihre Wünsche, Hoffnungen, Launen und Begierden be friedigen, sie an seiner Seite eine hervorragende beneidete Rolle in der Gesellschaft würde spielen lasten. Dafür hat sie all die kleinen Nadelstiche, all die bitteren Ent täuschungen, Kränkungen und Demütigungen lächelnd er tragen. Dafür hat sie gehungert, gedarbt, um immer einen gewissen Schein zu erhalten, um sich ebenso elegant wie die Mädchen ihres Kreises kleiden, Gesellschaften und Theater besuchen zu können! Welcher Kampf, wenn man arm ist! — Sie sieht sich im Geiste, Jahr um Jahr, er nüchtert, erfolglos von Reisen, Bällen, Basaren und Konzerten, Landpartten nach Hause kommen, sich mißmutig und hoffnungslos entkleiden und sich oft genug in bitterer Verzweiflung in den Schlaf weinen. Wie der Jäger atemlos, fieberhaft der Spur des flüchtigen Wildes, so war sie der Ehe nachgejagt, in langem, entwürdigendem Kampf! Sie hatte gesiegt — sie würde heiraten, Frau werden, ein eigenes Heim besitzen. Aber wie verschieden war die Wirklichkeit von dem, was sie gewollt hatte! — Keine ihrer raffinierten Neigungen, kein einziger ihrer nach Üppigkeit und Überfluß lechzenden Instinkte würde in der nüchternen und trockenen Ehe, die vor ihr lag, gesättigt werden! — Sie würde weiter sparen, rechnen, praktisch und haushälterisch sein; alles, was sie widerwillig, mit Knebelung ihrer heißesten Triebe, bisher getan, um sich den Mann, den Befreier und Erretter, zu erobern, das würde sie nun ein ganzes langes Leben hindurch üben müssen, der Zwang mußte Natur werden! — Sein Kuß und seine Liebkosung ließen sie kalt und gleichgültig; sie würde auch die Komödie der Verliebtheit, Lie sie bis heute agiert, um die Männer anzulocken, ihrem eigenen Manne Vorspielen müssen, wenn sie überhaupt etwas erreichen wollte! — Sie hatte gelogen und würde weiter lügen, so lange sie lebte; und wofür? Und sie birgt das Gesicht in die schmalen, heißen, wohlgepflegten Hände, die ihr höchster Stolz, ihre größte Eitelkeit sinL — und weint, weint bitterlich ... ' '