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Da ich doch nicht mit Madge plaudern konnte, setzte ich mich an meinen Schreibtisch, denn ich hatte die laufenden Arbeiten in den letzten Tagen ziemlich vernachlässigt. Während ich noch schrieb, hörte ich plötzlich Hufschläge, blickte auf und sah die Cullens zurückkommen. Ich ging auf den Bahnsteig, um ihnen Guten Morgen zu wünschen, und kam gerade dazu, wie Lord Ralles Fräulein Cullen aus dem Sattel half. Und er tat das mit fo übertriebener Aufmerksamkeit und behielt nachher noch ihre Hand so lange in der seinigen, daß ich mit den Zähnen knirschte und wegsehen mußte. Von der Reitgesellschaft hatte mich niemand gesehen; ich schlüpfte daher wieder in meinen Wagen und machte mich von neuem über meine Arbeit her. Nach einiger Zeit kam Fred, um nachzusehen, ob ich noch nicht aufgestanden wäre; er lud mich zum Imbiß ein, aber ich fühlte mich so erbärmlich und niedergeschlagen, daß ich ihm sagte, ich hätte erst so spät gefrühstückt und bäte daher, mich zu entschuldigen. Nach dem Imbiß kam die ganze Cullensche Gesellschaft auf den Bahnsteig und ging dort auf und ab; bei dem Klang ihrer Stimmen und ihres Lachens wurde mir immer elender zumute. Auf einmal klopfte es an eins von meinen Fenstern — und Fräulein Cullen sah zu mir herein! Im Augenblick, da ich von meiner Schreibarbeit aufblickte, rief sie: „Wollen Sie sich nicht uns anschließen, Herr Misanthrop?" Ich schalt mich innerlich selber einen Narren, aber trotzdem lief ich fo eilfertig zu ihr hinaus, als ob für mich wirklich eine Hoffnung vorhanden gewesen wäre. Fräulein Cullen begann mich wegen meines plötzlichen Anfalls von Arbeitseifer zu necken; sie erklärte, es müßte entweder Verstellung sein, oder ich hätte ein schlechtes Gewissen wegen meiner Langschläferei. „Ich hatte gehofft, Sie würden mit uns ausreiten; freilich hätten Sie wohl nicht viel davon gehabt, denn augenscheinlich gibt es in Ash Forks nichts zu sehen." „Es ist doch etwas hier, das Sie wohl alle interessieren wird", antwortete ich, indem ich auf einen Salonwagen hinwies, der am frühen Morgen mit dem Zuge Nr. 2 an gekommen war. „Was ist es denn?" fragte Madge. „Ein Salonwagen der Großen Südbahn, und er brachte Herrn Camp und Herrn Baldwin nebst zwei Beamten der G. S." „Wieviel, meinen Sie wohl, würden die Herren für die Briefe geben?" rief Fred lachend. „Wenn diese für Sie so wertvoll sind, so können sie. vermutlich für die G. S. nicht weniger wert sein", ant wortete ich. „Zum Glück können sie auf keine Weise erfahren, wo die Briefe sind", sagte Herr Cullen. „Wir wollen doch nicht hier füll stehen?" rief plötzlich Fräulein Cullen. „Herr Gordon, ich will mit Ihnen bis ans Ende des Bahnsteigs um die Wette laufen." Als sie dies rief, hatte sie schon eine« guten Vorsprung, und so kam sie wirklich am Ziel an, als ich noch etwa acht Zoll davon entfernt war. Das machte ihr ein unend liches Vergnügen. „Männer brauchen immer so lange, um sich zu be sinnen", sagte sie, um ihren Sieg zu erklären. Dann ging sie noch ein Stück über den Bahnsteig hinaus, um sich von mir die Einrichtung einer Weiche erläutern zu lassen. Dies war aber offenbar nur ein Vorwand; denn sobald ich den Mechanismus wieder in seine frühere Lage gebracht hatte, sagte sie: „Herr Gordon, darf ich Sie etwas fragen?" — „Gewiß!" „Ich sollte die Frage eigentlich an Papa oder an Fred richten, aber ich befürchte, sie würden mir die Wahr heit verheimlichen. Sie werden das nicht tun, nicht wahr?" Und ihr Ton hatte einen sehr ernstlich bittenden Ausdruck, als sie dies sagte. „Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen!" „Angenommen", fuhr sie fort, „es würde bekannt, daß Sie die Briefe in Besitz haben, würde das unserer Sache Schaden bringen können?" Ich dachte einen Augenblick nach und schüttelte dann den Kopf: „Nein, es könnten reine neue Vollmachten recht zeitig bis zur Wahl hier ankommen, und die Vollmachten, die ich in der Tasche habe, sind nicht stimmberechtigt." Sie sah immer noch mißtrauisch aus und fraate weiter: „Warum sagte Papa dann gerade eben: Lurtt Glück'?" „Er meinte damit nur, es sei bester, wenn die anderen nichts davon wüßten!" „Dann ist es also bester, wenn der Umstand geheim gehalten wird?" fragte sie ängstlich. „Das vermute ich allerdings", antwortete ich. „Aber warum sollten Sie sich scheuen, Ihren Vater danach zu fragen?" „Weil er vielleicht — oder vielmehr, weil er ganz gewiß, wenn er es wüßte, sich opfern würde; und darauf könnte ich es keinesfalls ankommen lassen!" „Ich fürchte, Sie nicht ganz zu verstehen." „Ich möchte Ihnen lieber keine näheren Erklärungen geben", sagte sie; und damit war natürlich der Gegenstand abgetan. Wir gingen nun nach Cullens Wagen zurück, und Madge verließ uns, um Briefe zu schreiben. Einen Augen blick darauf fiel es Lord Ralles ein, daß er in der letzten Zeit nicht nach Hause geschrieben habe, er empfahl sich ebenfalls und ging in den Speiseraum. Ich nannte mich selbst einen Dummkopf, daß ich nicht Fräulein Cullen meinen Schreibtisch in Nr. 97 angeboten hatte. Kaum waren die beiden hinausgegangen, so brachte einer von den beiden Dienern Herrn Cullen eine Visitenkarte. Er warf einen Blick darauf und rief: „Herr Camp!" Es entstand ein vielsagendes Schweigen; wir sahen einander an. Dann sagte Herr Cullen: „Lasten Sie ihn eintreten!" Herr Camp kam herein und machte ein ebenso über raschtes Gesicht, wie wir fünf es einen Augenblick zuvor getan hatten. „Ich bitte um Verzeihung, daß ich bei Ihnen ein dringe, Herr Cullen. Mir wurde gesagt, dies fei Herrn Gordons Wagen, und ich wünsche mit diesem Herrn zu sprechen." „Mein Name ist Gordon." „Sie reisen in Gesellschaft mit Herrn Cullen?" fragte er mit einem Anflug von Mißtrauen in seiner Haltung. „Nein", antwortete ich. „Mein Wagen ist Nr. 97; ich gebe mich hier bloß dem Genuß einer Zigarre hin." „M so!" sagte Herr Camp. „Nun, ich will Sie darin nicht stören und möchte Ihnen nur die Un bequemlichkeit abnehmeu, sich mit meinen Briefen herum zutragen." Ich tat einen tiefen Zug aus meiner Zigarre und blies, um Zeit zu gewinnen, langsam den Rauch von mir. Dann sagte ich: „Ich glaube, ich verstehe Sie nicht ganz." „Wie mir gesagt worden ist, haben Sie in Ihrer Verwahrung drei Briefe, die an mich adressiert sind." „Die habe ich." „Dann möchte ich Sie bitten, mir sie auszuhändigen." „Das kann ich nicht." „Wieso?" rief er drohenden Tones. „Die Briefe sind doch mein Eigentum!" Ich holte das Telegramm des Generalpostmeisters aus der Tasche und las es ihm vor. „Aber das ist ja eine Niederträchtigkeit!" rief Herr Camp- „Welchen Wert haben denn die Briefe nach dem achtzehnten Oktober? Das ist die reine Verschwörung!" „Ich kann nur meinen Instruktionen nachkommen", sagte ich. „Wenn Sie das wirklich tun, so soll es Ihnen Ihre Stellung kosten!" rief er drohend. Wie ich bereits mehrfach gesagt habe, gehört Sanft mut nicht gerade zu meinen Eigenschaften; auf seine Drohung fuhr mir daher die Antwort heraus: „Das sieht der Großen Südbahn so recht ähnlich!" „Ich spreche hier nicht für die Große Südbahn, junger Mann!" brüllte Herr Camp. „Ich spreche als Vorstands mitglied der Kansas- und Arizonabahn Und ich sage Ihnen, binnen vierundzwanzig Stunden werde ich die Briefe haben!" Wütend ging er hinaus, und ich sagte zu Fred: „Es wäre mir lieb, wenn Sie sich aufmachten und die Vor gänge im feindlichen Lager auszukundschaften suchten Vielleicht telegraphiert er nach Washington, und wenn es sich so fügen tollte, daß der Generalvostmeister seine» Be fehl widerruft, so müßte ich heute nachmittag mit Zug Nr. 4 nach Flagstaff zurückfahren." zum Kuckuck, weiß er, daß Sie die Briefe „Er soll bis zum Schlafengehen keinen Schritt tun, wovon, ich nicht Kenntnis erhielte!" versprach Fred. „Aber woher, baden?"- (Fortsetzung folat.) Vie Siegerin. Von Helene Lang-Anton. (Schluß.) (Nachdruck verboten.) Er brachte sie nach Hause und leistete ihr noch etwas Gesellschaft. Er wunderte sich, wie ernst sie war. Gar nicht wie sonst. Sie ging auf seine Scherze und Neckereien nicht ein, war nicht empfänglich für seine Zärtlichkeiten und, was ihn am meisten wunderte und auch verletzte, sprach kein Wort über seine Familie. Beim Fortgehen fragte er sie: „Nun? Wie hat dir meine Mutter ge fallen?" „Sie ist deine Mutter; deshalb sollst du gar nicht fragen. Aber ich fürchte jetzt, nachdem ich sie kennen gelernt, noch mehr, daß wir uns nicht verstehen werden." Er legte sich ihre ersten Worte, die verschiedene Deutungen zuließen, zu seinen Gunsten aus. Aber ihre abermalige Versicherung, daß sie sich fürchtete, ärgerte ihn. „Du bist ein kleiner Trotzkopf", sagte er halb scherzend verweisend, „und hast nur Angst, daß es nicht immer nach deinem Willen geht." »Ja", gestand sie einfach zu. „Der Gedanke, mich stets unterordnen zu müssen, hat für mich etwas Schreck liches. Ich stelle nichts höher als freies Entschließen." „Du sprichst, Kind, wie der Blinde von der Farbe. Wo gibt es freie Menschen? Dann hättest du dich auch nicht verloben sollen, wenn du dich keinem Willen fügen willst." Sie schwieg bettoffen. Dann sagte sie langsam, nach denklich: „Ja, da hast du recht." Ms er gegangen war, sah sie sich in der kleinen hübschen, gemütlichen Wohnung, die ihr die Mutterliebe ausgeschmückt, um, rief ihre alte Dienerin, die sie auf gezogen und ihr fast Freundin war, herein und sagte: „Weißt du, Lina, so schön wie hier, hier in meinen vier Wänden, wo ich fühlen, denken, schwatzen, lachen und weinen kann, wie ich will, ist es doch nirgends. Hier ist doch alles recht, was ich tue." „Ja", sagte die gute Alte treuherzig und sah be wundernd ihr Goldkind an. Käthe konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Immer sah sie die große, hagere Frau mit den kalten Augen vor sich. Daneben das müde, blaffe Gesicht der Niedergequälten. Sie sah ihre trüben Augen warnend auf sich ruhen. Und es war ihr, als öffneten sich die festgefügten Lippen und raunten ihr zu: „Tu's nicht, tu's nicht. Wahre dir deine Freiheit, deine Menschenwürde." Unruhige Tage kamen und gingen. Käthe rang mit einem Entschluß. Sie hatte ihn sehr lieb. Wer auch nicht der heißesten Liebe wegen konnte sie sich so zum Schemen herabdrücken lasten. Bei jener Frau gab es nur ein Biegen oder Brechen. Und sie war nicht die Natur dazu, sie konnte sich nicht biegen; und brechen wollte sie sich nicht lasten. Wenn er sie so liebte, wie er vorgab und wie sie zu ihrem Glück es stets angenommen, so mußte er das begreifen. Und sie schrieb ihm einen langen Brief, ernster und ausführlicher als je. Sie legte ihm ihre Seele, ihr Empfinden, ihre ganze Natur bloß, damit er sie, auch ohne daß sie die Mutter angriffe und ihn verletzte, ganz verstehe, und sagte ihm, daß sie ihm gerne überall hin folgen wolle. Er wäre ein freier Mann und könnte sich seinen Aufenthalt wählen. Am liebsten möchte sie weit, weit fort mit ihm, um ihn allein für sich zu haben. Fern von Familie und allen Freunden, könnten sie nur füreinander leben, für ihr Glück, für ihre Liebe. Statt dec Antwort war er selbst gekommen. Er nannte sie ein großes phantastisches Kind, das nicht in die Welt passe, das lernen müsse, sich in Verhältnisse zu schicken, mit gegebenen Faktoren zu rechnen, und schloß mit den Worten, daß es seine Mutter niemals erlauben würde, seine Praxis in einer andern Stadt aufzunehmen. „Das ist's ja eben, weshalb ich fort will", stammelte sie. „Ich will nicht die größere Hälfte deines Jchs ver lieren. Mir sollst du gehören, mir ganz allein." „Mso eifersüchtig, Kleine", lächelte er, „das mußt du dir abgewöhnen." Und ernster fügte er hinzu: „Mein Herz gehört dir und der Mutter zu gleichen Teilen. Und nie im Leben würde ich etwas gegen ihren Willen tun. Das liegt in unserer Erziehung." Sie lächelte schmerzlich. Sie sah dtt Schatten deut lich kommen, die ihr schönes, junges Glück verhüllten, vielleicht sogar verwischten. Wer so schnell wollte sie es nicht opfern. Sie machte einen Versuch und noch einen. Sie lehnte sich sogar auf, sie widersprach der alten Frau und ließ die allgemeine Verurteilung, die in dem be drückenden Schweigen lag, das darauf folgte, über sich er gehen. Sie hatte zwar, als sie frei und offen ihre Meinung aussprach, in den Augen der blaffen Frau es aufleuchten, ein leises Lächeln um ihren Mund irren sehen; aber gleich darauf schloß sie sich den andern an. Mochten sie immer hin, es war ihr gleichgültig. Wer daß er, der ihrem Herzen am nächsten stand, es nicht wagte, sie zu ver teidigen, durch sein Verstummen den andern recht gab. schmerzte sie tief. An demselben Wend beschwor sie ihn nochmals, fort zuziehen, ebenso erfolglos. Sie wurde aufgeregt, er ärger lich. Und als sie unter Tränen ihm sagte: „Dann müssen wir uns trennen", glaubte er ihr nicht. Er nannte es Überspanntheit, riet ihr, nicht so viel Romane zu lesen, mehr in der Wirklichkeit zu leben, und schied mit flüchtigem Kusse. Sie eilte ihm nach und küßte ihn noch einmal, lange, heiß und innig. Er mußte an den Kuß noch stundenlang denken. Als er am nächsten Tag zur gewöhnlichen Zeit kam, um sie zum Spaziergang abzuholen, sagte ihm die Nach barin: „Das gnädige Fräulein ist heute mit ihrer Wirtin ab- gereist." Er erbleichte. Dann die neugierigen Augen der Frau auf sich ruhen fühlend, fagte er stockend: „Ja — richtig — ich weiß. Ich hatte es nur vergessen." Und langsam stieg er die Treppe hinunter. Der Boden schwankte unter ihm. Es fiel ihm ein, daß sie von Trennung gesprochen. So schnell hatte sie die Tat dem Gedanken folgen lassen. Auch den seltsamen Kuß begriff er jetzt; es war ein Äbschiedskuß. Zu Hause fand er einen Brief von ihr. Er öffnete ihn und las: „Wozu eine Qual verlängern. Ich habe Dich sehr lieb und werde Dich vielleicht immer lieb haben. Wer es wäre mir nicht möglich, in dieser Botmäßigkeit zu leben, in der Ihr alle lebt. Der Gedanke, einst Deinen Schwägerinnen zu gleichen, ist mir unerträglich. Es ist traurig, daß Deine Liebe zu mir nicht groß genug war, um meinen Bitten Gehör zu geben. Deine Mutter würde es nie erlauben, hast Du mir gesagt. Ich bin also die Unterliegende. Das ist ein großer Schmerz; aber nur einer. Wenn ich mich fügen würde, so wäre ich täglich und stündlich die Unterliegende, und das ertrüge ich nicht. Ich kenne mich genau. Ich kann nur in Freiheit atmen, Lenken, Ahlen, in Freiheit leben und sterben. Ich hatte einst von einem großen, schönen Glück mit Dir vereint geträumt. Werk glaube mir: Es würde doch kein Glück werden, denn wann hat das Glück sich jemals etwas ver bieten oder erlauben lassen. Leb' wohl." Wiederholt las er den Brief. Er war fassungslos. Sie konnte ihn aufgeben? Er begriff es nicht. Sein Schmerz war aufrichtig. Er wollte ihr nachforschen, ihr nachreisen, sie bitten, sie zur Änderung ihres ihn fo hart treffenden Entschlusses veranlassen. Doch er tat nichts davon. Er ging zur Mutter. Erst wollte er sie, seine treueste Ratgeberin, fragen. Als er nach Stunden in seine Wohnung zurückkehrte, las er den Brief noch einmal durch, dann zerriß er ihn in kleine Stücke. Er dachte nicht mehr daran, ihr nach zureisen, sie als Braut zurückzugewinnen. Die Mutter hatte es nicht gewollt, sie war — die Siegerin.