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wisse, daß Günsche ein Wilddieb sei. DaS könne er nicht sagen, denn er hätte den Mann noch niemals dabei gesehen. Während der Vernehmung des Wirtes, die in einem Seitenzimmer erfolgte, hatte sich das große Gastzimmer mit Neugierigen dicht gefüllt. Es meldete sich der Brigadier bei dem Staatsanwalt und fragte nach weiteren Befehlen. Der Staatsanwalt, unzufrieden mit dem Er gebnis der Vernehmung des Wirtes, bedeutete dem Beamten, daß er sich mit einem der Gendarmen in der Nähe auf zuhalten hätte. Als der Beamte das Zimmer wieder verlassen hatte, fragte er den Wirt, ob vielleicht die Gäste, mit denen Günsche gestern abend hier gesprochen, anwesend seien. Der Wirt schlug die Vorhänge an der Glastüre aus einander und warf einen Blick in das Zimmer. Dann ließ er die Vorhänge wieder niederfallen und wandte sich bejahend dem Staatsanwalt zu. Bereitwillig kam er dem Wunsche nach, einen der be treffenden Männer hierherzubestellen. Die Vernehmung dieses Zeugen reifte in dem Staats anwalt den Entschluß, Günsche unter dem Verdacht des Mordes verhaften zu lassen. Von allen Personen, die mit Günsche gestern abend zusammen waren, wurde auf das bestimmteste versichert, daß er den Eindruck gemacht hätte, als ob das böse Ge wissen ihm keine Ruhe ließe. Dazu kam auch, daß ihn alle dieser schrecklichen Tat wohl für fähig hielten. Außerdem hatte sich Günsche heute, trotzdem er von seinem Hause sehen mußte, was vorging, nicht unter die Leute gewagt. Er wollte sich anscheinend nicht verraten. Nach kurzem Zaudern rief er den Brigadier herein, füllte einen Haftbefehl aus und erteilte dem Beamten den Auftrag, den Schuhmacher Günsche zu verhaften, dessen Haus zu verschließen und zu versiegeln. Der Verhaftete sei ihm zuzuführen. Der Beamte teilte seinen Untergebenen im Flüsterton den Auftrag mit, trotzdem hatten die an dem Tisch neben den Beamten sitzenden Personen etwas von Verhaftung und auch den Namen Günsche gehört. Als die Beamten das Gasthaus verließen, folgte ihnen eine große Schar Neugieriger, die sich in lauten Verwünschungen gegen den Mörder erging. Die Beamten hatten Mühe, die Nachdringenden zurück zuhalten. Schnell hatten sie sich der Behausung Günsches ge nähert. Die Tür war verschlossen. Auf ihr Pochen er hielten sie keine Antwort. Da kein Schlüssel vorhanden war, in dem Hause sich auch niemand regte, so stemmten sich die Beamten gegen die Tür, die dieser Wucht nicht standhrelt, sondern auf- Krang. Während einer der Gendarmen an der Tür zurückblieb, beiraten die anderen das Häuschen. Aber von dem Be- wahner fanden sie, trotzdem sie alles absuchten, keine Spur. Er mußte also das Weite gesucht haben. Mißmutig befahl der Brigadier den drei Gendarmen, das Haus genau zu bewachen. Er selbst begab sich wieder in L-n Gasthof zurück. Zn dieser Zeit traf der Ortsvorstand Baumann im Anwesen Günsches ein. Da ihn die Gendarmen erkannten, liehe« sie ihn in die Wohnung eintreten, in der bereits eil starkes Dunkel herrschte, so daß die Gegenstände darin nur noch in verschwommenen Umriffen zu erkennen waren. Kaumann ging auf das Bett zu, um dieses zu unter- s-v-eu, wie ec den Beamten erklärte. Er machte sich an dem Bett zu schaffen, schlug das Oberbett auf und befühlte dos Laaer. Die Beamten hatten sich in den Flur zurück- g^zog-n, urn die andrängenden Neugierigen zurückzuweisen. Auch Baumann war dann herausgetreten und redete den Einwohner» zu, ihre Wohnungen aufzusuchen. Der Mörder s-i leider entflohen, aber weit könne er noch nicht sein. Ihn w-rde sicher die gerechte Strafe treffen. Zu den Beamten bemerkte er, daß das Bett unbenutzt gewesen sei, es habe sich ganz kalt angefühlt. Folglich müsse der Mensch wohl sch »l längere Zeit flüchtig sein. -Dann wandte sich Baumann mit lauter Stimme noch- m cks an die erregten Einwohner und forderte sie zum Ver- la^<n des Platzes vor dem Hause auf. Er begab sich hierauf nach dem Wirtshaus, und seinem Beispiel folgten hie anderen Personen ebenfalls» In große Aufregung war der Staatsanwalt verseht, als ihm der Brigadier die Flucht GünscheS mitgeteilt. Es bestand für ihn kein Zweifel mehr, daß dieser der Mörder sei. Nicht wenig überrascht waren der Staatsanwalt sowohl als auch der Oberförster, als Baumann zu ihnen in das Seitenzimmer trat, allerseits einen guten Abend wünschend. Von der Krankheit hatte er sich schnell erholt. Verschmitzt lächelte der Oberförster vor sich hin, dachte er doch, daß Baumann nur eine Komödie aufgeführt hatte, um nicht nochmals den schrecklichen Anblick der Leichenschau zu haben. Er nahm sich vor, den Ortsvorstand gehörig zu hänseln, wenn erst die Gerichtskommission den Ort wieder verlassen haben würde. Daß dieser Zeitpunkt bald ein treten mußte, sah er daran, daß der Staatsanwalt seinen Wagen bestellte, nachdem er vernommen, daß die übrigen Herren in dem anderen Wagen dem Transport der Leiche gefolgt seien. Bald darauf rollte der Wagen in den dunklen Wald hinein. Günsche hatte bis in den Nachmittag hinein geschlafen. Verwundert rieb er sich den Schlaf aus den Augen, konnte er sich doch nicht im Augenblick darauf besinnen, wie es gekommen, daß er bis jetzt geschlafen. Nach und nach aber traten die Bilder der jüngsten Vergangenheit in seine Erinnerung. Hastig sprang er aus dem Bett, kleidete sich schnell an, machte sein Bett zurecht und begab sich auf den Boden, wo er durch eine Luke Umschau hielt. Richtig, da standen sie alle und gafften in den Abgrund, wo der Leichnam lag. Niemand würde annehmen, daß hier ein Verbrechen vorlag. Ihn schauderte es, wenn er an den vergangenen Abend dachte. Die Last des Toten, den er eine ganze Strecke getragen, schien der kräftige Bursche noch einmal zu spüren. Er leichtert atmete er in Gedanken auf, als ob ihm die Last abgenommen sei. Sie lag ja nun dort unten. Ein Ver unglückter. Zufrieden mit diesem Gedankengange, stieg Günsche die schmale Stiege hinab, riegelte die Hoftür auf und trat auf den Hof hinaus. Blendender Sonnenschein lag hier ausgebreitet und beraubte ihn auf einige Zeit des Augenlichtes. Während Günsche unter dem Banne des Hellen Lichtes die Augen einige Zeit schließen mußte, überlegte er, was er jetzt tun könne. Dieses Überlegen währte nur einen Augenblick. Entschlossen trat er wieder in die einzige bewohnbare Stube des Häuschens und steckte ein Taler zu sich, den er einem kleinen Schranke entnahm. Zwar war das Geld seine letzte Barschaft, aber das tat ja jetzt weiter nichts. In Kürze würde er wieder Geld haben. Jetzt wollte er in die Stadt gehen und auf dem Rückwege mit seiner Rese zusammentreffen. Besser war es auf jeden Fall, wenn er mit niemand aus dem Dorfe zusammentraf. Nachdem er die Tür verschlossen und den Schlüffe! eingesteckt hatte, schlich er sich unbemerkt in den Wald. In weitem Bogen umging er den Schieferbruch, um dann der Straße zuzustreben. (Fortsetzung folgte Vie Krawatte. Humoreske von Michel C»»*ay. (Wo^druck verbot«.) Frau Evry begann besorg zu w-rv^n. Ihr der sonst so pünktlich die Mahlzeiten erhielt, war zum Diner nicht nach Hause gekommen. Es kam wohl vor, daß er beim Verlassen des Bureaus mit seinen Kollegen ein Kaffeehaus aufsuchte, aber verspätet hatte er sich noch niemals. Was mochte ihm widerfahren s-in? Sie liebte ihn nach 15jähriger Ehe fast mehr, 4» am ersten Tag. Sie kannten einander jetzt besser und war*, sich unentbehrlicher geworden, als in den Flitterwo-»-» Der Instinkt der Gewohnheit hatte sie mit unzähligen unzerreißbaren Fäden aneinandergeknüpft. Gemeinsam durchlebte Leiden und Freuden batten sie immer enaer mr« F K Ä r- K § s s .2 «r » s 2 » ö S S Lunden. So waren sie allmählich eins geworden. Un- Herr Evry hörte niemals auf, seine Frau mit Aufmerksam keit und Liebe zu umgeben, was diese mit gleicher Zärtlich keit vergalt. Ängstlich lauschte sie auf jedes Geräusch, das von draußen hsreinklang, und bemühte sich, die schreckensvollen Bilder, die die Einbildungskraft ihr vorspiegelte, zu ver drängen. Das Lachen ihrer beiden Kinder, die im Neben zimmer spielten, machte sie nervös, aber sie wagte nicht, ihnen Schweigen aufzuerlegen, aus Furcht, ihre eigene Beunruhigung auf sie zu übertragen. Plötzlich drehte sich der Schlüssel im Schloß. Und dieses vertraute Geräuch beruhigte Frau Evry. Ihr Gatte trat ein. Er schien so ruhig wie gewöhnlich. Sie be grüßte ihn mit strahlenden Blicken, in denen allerdings noch ein wenig Aufregung wetterleuchtete. Er erriet ihre Gedanken, noch ehe sie ihnen Worte geben konnte, und sagte heiter: ,Ja, ich habe mich schrecklich lange mit ein paar Freunden im Kaffeehaus verplaudert.* Wieder ganz beruhigt und getröstet näherte sie sich ihm, um ihm den gewohnten Begrüßungskuß zu geben. Dabei fiel ihr Blick auf die Krawatte ihres Mannes. Ein Schwindel ergriff sie, sie fürchtete umzusinken und hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Seit 15 Jahren band sie ihm jeden Morgen die Krawatte selbst. Sie kannte genau die Form, den Knoten und die Falte. Die Krawatte aber hatte jemand anderer geknüpft . . . Die arme Frau besaß Selbstbeherrschung genug, inn mit erträglicher Miene der Mahlzeit zu präsidieren. Aber innerlich bebte sie vor Aufregung. Wer hätte gedacht, daß diese liebgewordene alte Ge wohnheit ihr einmal einen so schmählichen Verrat enthüllen würde? . . . Auf der Hochzeitsreise hatte sie ihrem Gatten anvertraut, daß sie die fertig gekauften Krawatten verab scheue, dagegen die selbstgebundenen Schleifen entzückend finde, weil in ihnen Phantasie und Geschmack liegt. Ihr zuliebe hatte er zu gehorchen versucht. Aber er stand so ungeschickt und unglücklich vor dem Spiegel, daß sie ihm ihre Hilfe anbot. Seitdem näherte er sich ihr jeden Morgen mit bittendem Blick und oorgeneigtem Halse. Sie nahm die Krawatte, ließ die Zungenspitze- im Mundwinkel spielen und vollendete mit leichten und geschickten Fingern ihr Werk. Mit einem kleinen Kuß auf das Kinn wurde seine Geduld belohnt, dann bog sie sich zurück und bettachtete stolz die Schleife mit den kokett flatternden Enden. Dieses Spiel wiederholte sich täglich. Niemals hatte die Krawatte ihre Form verändert. Nur der Stoff hatte ^-wechselt. Nach und nach war die einfache bescheidene Halsbinde des kleinen Beamten reicher und eleganter ge worden, mit schimmernden, seidenen Reflexen. Sie hatte " orm und Farbe gewonnen, bis sie endlich zur stattlichen Krawatte des Bureauchefs geworden war. Und das Kinn, das Herr Cory jeden Morgen fügsam t-iner Gattin hinhielt, hatte ebenfalls an Form gewonnen. Hs war nicht mehr das knabenhafte Kinn eines Unter gebenen, es war das Kinn eines Mannes, der etwas er- reicht hat: fest, stark und kräftig, beinahe verdoppelt. Ein Hin» das die Vierzig überschritten hat und Fett ansetzt, -ö-nw wie sein Besitzer. Aber Frau Evry beachtete seine Veränderungen nicht. Und sie bedachte es noch immer «it dem gleichen zärtlichen Kuß, um seine Geduld zu be lohnen. Und nun hatte eine fremde Hand an diese Kravatte gerührt! Frau Evry war dessen sicher. Dieser häßliche und ungeschickte Knoten war nicht ihr Werk. Wer hatte e» gewagt? . . . Natürlich eine Frau. Er betrog sie also. Er machte es nicht besser als die andern. Er wollte sein veb-n genießen, ehe das Alter kam. Und er betrog sie! All »s an ihm war Lüge: Sein Wesen, seine Blicke, seine Worte. Sie konnte ihm nichts mehr glauben! Ihr zärt liches Vertrauen war zerstört. Er betrog sie! Ohne Zweifel liebte er sie nicht mehr. Ihr Glück war dahin! v«d jedesmal, wenn ihr Blick die unglückselige Kravatte traf, verschärfte sich ihr Kummer und raubte ihr alle Lebensfreude. Entschlossen, alles zu erfahren, wußte Frau Evry ihre Zweifel zu verbergen. Mit scheinbarer Ruhe band sie jeden Morgen die Kravatte. Denn der Elende spielte sein« Nolle bewundernswürdig. Jeden Morgen näherte er sich ihr mit fügsamem Gesicht und vorgeneigtem Hals. Aber jeden Wend mußte sie den häßlichen, ungeschickten Knoten erblicken, den Knoten, den eine andere gebunden hatte. Jeden Wend! Ihr Verlangen, die Wahrheit zu erfahren, trieb sie zum Äußersten. Sie selbst wollte ihrem Gatten nachgehen, um seine heimlichen Wege zu erspähen, denn sie vermochte es nicht über sich, ihr Unglück jemand Fremdem an zuvertrauen. Und in der Dämmerung eines Herbstabends versteckte sie sich in einer Nische, um sein Fortgehen aus dem Bureau abzuwarten. Herr Evry erschien als erster. Er schüttelte die Hand eines Kollegen und entfernte sich mit so schnellen Schritten, daß seine Frau Mühe hatte, ihm zu folgen. Sie zitterte davor, überrascht zu werden oder seine Spur zu verlieren. Jeder Zweifel war ausgeschlossen. Sein ganzes Wesen verriet ihn. Er eilte zu einem Rendezvous. In dem Augenblick, da sie sich fragte, bis wohin diese Verfolgung sie führen würde, überschritt er eine Schwelle und verschwand. Frau Evry sah sich vor einem ziemlich bescheidenen Hause in einer ruhigen Straße des Zentrums. Also hier, hinter diesen Mauern verriet er sie ... . Sie starrte mit hypnotischem Blick nach den Fenstern, als wollte sie sie zwingen, sich zu öffnen und ihr Geheimnis preis zugeben. Frau Evry hätte selbst nicht zu sagen vermocht, wie lange sie vor dem Hause stand. Als sie aus ihrer Er starrung erwachte, war die Nacht hereingebrochen. Wer ihre Energie war in diesem schmerzlichen Traume erstarkt. Sie zögerte nicht länger. Es galt alles zu erfahren, koste es, was es wolle. Mit hocherhobenem Haupt passierte sie Lie Portierloge und begann die Stiege hinaufzusteigen. Diese war schmal und schlecht beleuchtet. Frau Evry mußte bald ihre Eile aufgeben, sich auf das Geländer stützen und nach den Stufen tasten. Ihr Herz schlug bis zum Halse, und sie fühlte sich unglücklich und elend. Zögernd blieb sie im ersten Stockwerk stehen. Dann be gann sie den schweren Weg von neuem. Sie war über zeugt, daß sie die Türe erraten würde, hinter der ihr Gatte ihr die Treue brach. Plötzlich vernahm sie seine Stimme. Sie erklang ein Stockwerk höher. „Auf Wiedersehen! Auf morgen!* sagte er heiter. Er kam die Stufen herunter. Sie lehnte an der Mauer, unfähig, ein Wort zu sagen. Plötzlich bemerkte er sie und rief erstaunt und zornig: „Wie? Du, du hier? . . . Was tust du hier? Bist du mir nachgegangen? . . .* Da stürzte mit einemmal alles aus ihr hervor, ihre Zweifel, ihre Eifersucht, all die Qualen der letzten Tage, die das sichere Zeichen des Verrates in ihr entfesselt hatte, diese Krawatte, die nicht mehr von ihrer Hand ge knüpft war . . . Er hörte ihr kopfschüttelnd zu, dann nahm er ihre Hand und sagte sanft: „Und du hast wirklich glauben können . . . Mein armes Herzl Wer eS ist auch meine Schuld . . . Komm, komm . . .* Er führte sie in das nächste Stockwerk. WaS sollte das bedeuten? . . . Wer er zog sie mit sich fort, obwohl sie instinktiv seiner Führung widerstrebte. Oben angelangt, zeigte er mit dem Finger ank ein Kupferschild über der Tür . . . Sie laS: Professor Herr mann, Masseur. Das Verständnis begann in ihr aufzudämmer». „Freilich*, sagte er. „Ich wurde zu stark. Das war mir unangenehm. Ein Kollege ließ sich massieren be fand sich wohl dabei. Ich wollte es versuchen. Dir habe ich es aus Eitelkeit verschwiegen, aus einer Art dummer Scham. Hier mußte ich meine Krawatte ablegen. Ich versuchte nachher, sie selbst zu binden. Wer nur du allein . . .* Da stürzte sie sich in seine Arme, aufgelöst vor Ver wirrung und Glück. „Nicht wahr, mein Liebster, mein alles, nur ich allein .., niemals, niemals eine andere als ich ...