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an einem Tische in der Nähe der Tür saßen, hatten den Vvrfall wieder vergessen. Es waren Schieferarbeiter und Besitzer kleiner Anwesen. Bedächtig nippten sie an den Schnapsgläsern, aus denen eine gelbe Flüssigkeit als so genannter Nordhäuser duftete. Das Gesprächsthema war erschöpft. Was sollten diese Gebirgswäldler sich auch er zählen? Ihr Gesichtskreis war nicht groß. Das Leben floß hier seinen ruhigen, arbeitsreichen Gang Tag für Tag im alten Gleise weiter. Hier kannte man das nervöse Hasten der großen Welt nicht. Behagliche Ruhe und biederer Frohsinn herrschten ständig. Einer der Gäste wollte sich gerade erheben und der Tür zuschreiten, als diese geöffnet wurde und der „Schuster" in den Lichtkreis des Gastzimmers trat. Mit erregter Stimme bot er den Anwesenden einen guten Abend. Bleich war sein Gesicht, und seine Hände zitterten, als er einen Nordhäuser, den der Wirt ihm auf sein Geheiß gebracht, hastig in einem Zuge austrank. „Aber Menschenskind", sagte der Wirt kopfschüttelnd, „wie seht Ihr denn aus, da beseht Euch einmal im Spiegel. Ist Euch nicht wohl?" „Mir ist nichts", antwortete gepreßt der Angeredete und bestellte sich abermals einen Nordhäuser. „Ihr habt ja Blut an Eurer Hand, Günsche", bemerkte einer der Gäste. Bestürzt sah Günsche auf seine Hände. An der rechten hatte er in der Tat einen roten Blutstreifen. „Ich bin vorhin gefallen und habe Nasenbluten gehabt", bemerkte er erklärend. Dann suchten seine Blicke das Zimmer ab. Mit Befriedigung nahm er wahr, daß Baumann an wesend war. Nach einiger Zeit hörten die drei mit Kartenspielen auf. Baumann hatte Günsche erblickt und rief ihn an: „Nun, Günsche, haben Sie sich meinen Vorschlag überlegt?" „Jawohl, Herr Baumann", antwortete der Angeredete. „Ich nehme die Stelle an." „Na, das freut mich", gab Baumann zurück. „Lassen Sie sich heute ein Glas Bier auf meine Rechnung geben, Günsche." Der Oberförster hatte während der Unterhaltung grimmig dareingesehen, war er doch fest davon überzeugt, daß der Schuster der ärgste Wilddieb in der ganzen Gegend war, und dazu auch der raffinierteste. Aber beweisen konnte es ihm niemand, und doch fahndeten die Forst beamten gerade auf diesen Menschen am eifrigsten, bis jetzr allerdings ohne Ergebnis. Aber Gnade ihm Gott, wenn er einmal erwischt werden sollte. Der alte Weidmann knirschte ingrimmig mit den Zähnen. „Merkwürdig", sagte er sich nach einiger Zeit, „wie zerstreut der Baumann heute ist. Möchte nur wissen, was in dessen Kopfe wieder für Spekulationen herum gehen." Eine Stunde mochte seit dem Eintritt Günsches ver gangen sein, dieser sowie dessen Kameraden hatten den Gasthof bereits verlassen, als der Nachtwächter schreckens bleich ins Zimmer stürzte. „Herr Vorstand, Herr Vorstand, welch Unglück, welch Unglück", wiederholte das kleine Männchen mehr mals. Bedenklich wackelte der Spieß, den er in der Rechten trug, und mehr noch die brennende Laterne in seiner Linken. Baumann starrte den Eintretenden an, als sehe er einen Geist, sein Gesicht hatte jede Farbe verloren. Da aller Augen auf den Nachtwächter gerichtet waren, hatte niemand die Veränderung wahrgenommen, die mit dem Ortsvorstand vorzugehen schien. Mit zitternder Hand trocknete er sich den Schweiß von der Stirn, ehe er fragte: „Was wollen Sie denn eigentlich, Friedrich? Mann, wie sehen Sie denn aus? Aber so reden Sie doch! Was ist denn so Gräßliches geschehen?" „O, dieses Unglück! Dieses Unglück!" rief jammernd das kleine Männchen aus. „Na, heraus endlich mit der Sprache!" polterte der Oberförster, während der Lehrer keinen Blick von dem Nachtwächter ließ. Inzwischen hatte auch Baumann seine Fassung wieder erlangt, und er fuhr den Nachtwächter barsch an: „Was sollen denn diese Narrenpossen eigentlich bedeuten? Stehen Sie doch nicht da, wie so ein Brummochse, sondern er zählen Sie uns, was Sie gesehen haben. Ist denn da etwa gar ein Mord passiert?" „Was da passiert ist, weiß ich auch noch nicht", ant wortete der Nachtwächter: während der Oherförster ein rauhes, kurzes Lachen vernehmen ließ, murmelte Baumann vor sich hin: „Alter Brummochse!" Das hatte der alte Mann gehört und faßte es in seiner Art als gut gemeinte Ermahnung auf, weiter zu herichten, und so fuhr er denn fort: „In dem alten Schieferhruch, wo dem Schuster seine Hütte, dem Günsche seine, meine ich, steht, liegt ein Mensch. Im Mondschein habe ich deutlich sehen können, wie er da unten liegt, und tot muß er auch sein, denn mein Spitz hat furchtbar ge heult, und geantwortet hat der Abgestürzte auch nicht mehr, als ich ihn angerufen habe. Der Günsche, zu dem ich dann hingelaufen bin, war nicht zu Hause oder schlief so fest, daß er gar nicht hörte, wie ich ihm bald die Tür eingepocht habe. Dann bin ich schnurstracks nach hier gelaufen, da ich noch Licht hier sah." Der alte Mann schwieg. „Merkwürdig", murmelte der Ortsvorsteher vor sich hin. „Das ist mir ein vollkommenes Rätsel." Laut setzte er hinzu: „Der Abhang ist rings umzäunt, so daß ein Unglücksfall beinahe ausgeschlossen ist. Und jetzt können wir zudem auch nichts zur Rettung unternehmen. Denn es wird sich schwerlich jemand finden, der hinunterklettern wird. Sie haben den Abgestürzten angerufen und keine Antwort erhalten, sagen Sie, Friedrich?" „Ja, ja, Herr Vorstand", antwortete der alte Mann. Wenn das ein Mensch ist, der vom Felsen stürzte, dann kann er nicht mehr leben, denn an dem zackigen Abhang muß er ganz zerschmettert werden." „Da bleiöt nichts anderes übrig", bemerkte Bau mann, „als den Tatbestand an Ort und Stelle auf zunehmen." Die drei erhoben sich, zahlten, ergriffen Hüte und Stöcke, während der Oherförster die Büchse umhing, und entfernten sich. Der kleinen Schar, die die Dorfstraße entlang schritt, hatte sich auch der Wirt angeschlossen. Er hatte ein langes Seil mitgenommen, um eventuell auf eigene Faust einen Abstieg in den Bruch zu unternehmen, den er genau kannte, hatte er doch in jungen Jahren darin gearbeitet. Nach einer Wanderung von einer Viertelstunde war die kleine Schar an dem Abhange angekommen. Vorsichtig wurde die Absturzstelle abgesucht, aber hier ließ sich in dem Halbdunkel des Mondscheines nicht viel erkennen. Erst als man etwas seitwärts weitergegangen war, konnte man ganz deutlich auf dem Grunde des Kessels eine menschliche Gestalt erblicken. Alle Zurufe aber waren vergebens. Nur das Schweigen der Nacht ringsum. Wenn das da unten ein Verunglückter war, dann mußte er tot sein. Das stand bei allen fest, um so mehr, da kein Wimmern und Stöhnen zu vernehmen war. Ohne langes Besinnen seilte sich der Wirt an und ließ sich in den Abhang hinunter. Langsam ließen die oben Befindlichen das Seil abrollen, während der Wirt jeden Vorsprung im Gestein als Stützpunkt für Hände und Füße benutzte. Der Mond warf sein volles Licht auf den leblosen Körper des Abgestürzten, dessen Kopf eine unförmliche Masse bildete. Er war wie ein Waldwärter bekleidet, doch fehlte jederlei Bewaffnung. Zusammenschauernd wandte sich der Wirt nach einiger Zeit ab und rief den Obenstehenden seine Entdeckung zu. Merkwürdig war die Tatsache, daß trotz der furchtbaren Kopfwunden, die der Tote bei dem Sturze davongetragen, er keinen großen Blutverlust gehabt hatte, denn keine Blutlache zeigte sich am Boden. Als nach längerer Kletterei und mühsamem Auf ziehen der Wirt wieder oben angekommen war, machte er seinen Begleitern von dieser befremdenden Tatsache Mitteilung. „Wenn Sie nichtig gesehen haben", unterbrach der Oberförster das Schweigen, das nach den Worten des Wirts eingetreten, „dann ist der arme Kerl, der dort unten liegt, nicht verunglückt, sondern ermordet und nachher hinahgestürzt worden." „Schauderhaft!" seufzte der Lehrer auf. „Ich kann an ein Verbrechen nicht glauben. Nein, nein!" warf rasch Baumann ein, und sein Gesicht nahm wieder jene fahle Färbung an, die es vorhin hatte, als der Nachtwächter ins Zimmer trat. „Das wäre zu schauderhaft. Morgen wird sich alles aufklären. Dem armen Teufel ist nicht mehr zu helfen, also können wir heute hier nichts weiter ausrichten. Sie, Friedrich, haben ein wachsames Auge auf den Bruch bei Ihren Rund gängen. Kommen Sie, meine Herren. Je eher wir diesen Ort des Schreckens verlassen, desto besser für uns. Ich empfinde ein starkes Grauen, wenn ich an die Möglichkeit denke, daß hier vielleicht ein furchtbares Verbrechen be gangen sein könnte. Immer noch kann ich daran nicht glauben. Doch wozu jetzt sich in Vermutungen ergehen", brach er hastig ab. „Morgen muß ja völlige Klarheit ein treten, wenn wir den Toten aufheben." „Das wird eine gefährliche Kletterei zu der Leiche werden", bemerkte der Lehrer. „Es braucht dabei niemand Hals und Beine zu brechen", entgegnete der Oberförster. „Dort drüben", er zeigte auf eine dunkle Linie der gegenüberliegenden Berg wand, die sich von dem mondbeschienenen Hintergründe dunkel abhob, „zieht sich eine zwar enge, aber ganz gut gangbare Schlucht in Windungen bis auf die Sohle des Bruches hin. Man hat allerdings von hier aus reichlich eme Stunde zu gehen, ehe man an ihren Anfang kommt." „Der Teufelsgraben", sagte leise für sich der Wirt, doch hatte der Ortsvorstand das Wort vernommen. Er zuckte zusammen, aber gleich darauf bemerkte er: „Mich fröstelt, weshalh ich vorschlage, diesen unheimlichen Ort nun zu verlassen. Morgen mit dem Morgengrauen wollen wir uns an der Oberförsterei treffen, um durch den Teufelsgraben hinabzusteigen. Sie, Friedrich, finden sich auch ein. Gleichzeitig henachrichtigen Siechen Gendarmen, daß er uns begleitet. Er wird wohl aus der Stadt zurück sein." Schweigend schritten alle auf der Dorfstraße hinab. In den Wipfeln der Fichten und Birken aber rauschte und raunte es, gheimnisvolle Silhouetten zeichnete der Mond. Nach kurzer Wanderung, einer mußte auf dem schmalen Wege hinter dem andern gehen, tauchte plötzlich die Hütte Günsches vor ihnen auf. Der schwarze Schieferbeschlag, augenblicklich vom Monde silberhell beleuchtet, klapperte eine eintönige Melodie in dem rastlosen Winde. Da blieb der Oberförster, der die Führung über nommen hatte, stehen. Er wandte sich an den hinter ihm gehenden Baumann und flüsterte diesem zu: „Sollte der dort vielleicht seine Hand im Spiele gehabt Hahen?" Baumann, in tiefes Sinnen versunken, starrte den Oberförster verständnislos an, dann zuckte er die Achseln. Flüsternd erwiderte er: „Ich glaube noch an kein Ver brechen. Der Schuster hat sich in letzter Zeit merkwürdig brav gezeigt. Trotz seines Jähzorns ist er ein guter und ehrlicher Mensch. Wenn keine direkten Beweise vorliegen, würde ich, selbst im Falle eines Verbrechens, nicht auf den als Täter schließen." Dann waren die vier Männer weitergegangen, ohne daß sie bemerkt hatten, wie sich aus dem Schatten des Hauses eine Gestalt abhob, die das letzte Gespräch deutlich gehört hatte. „Ich danke euch für eure gute Meinung von mir", murmelte der Mann ingrimmig vor sich hin. „Dachte ich's mir doch, daß der Verdacht sich sofort auf den Schuster lenken würde. Aber bei einem solchen Sturz werdet ihr vergeblich nach den Spuren eines Verbrechens suchen. Der Kopf, in dem der Schuß steckt, ist eine un förmige Masse, und Arme und Beine wird sich der arme Kerl wohl auch ein paar dutzendmal gebrochen haben. War übrigens eine schaurige Last, den schweren Körper bis zu dem Abhang zu schleppen. Hätte nicht gedacht, daß man die Leiche so bald auffinden würde. Na, alle Welt wird an einen Unglücksfall glauben." Er horchte gespannt auf, denn er hörte Schritte näherkommen. Lautlos huschte er nach der halboffenen Tür, in die er trat und die er dann geräuschlos schloß. Schnell schob er den Riegel davor, dann spähte er durch eine Spalte nach dem mondbeschienenen Weg hinüber. Lange brauchte er auf seinem Lauscherposten nicht zuzubringen, denn bald sah er den Spitz des Nachtwächters und gleich darauf auch den letzteren nach dem Dorfe zugehen. Da suchte Günsche seine Lagerstätte auf, aber Schlaf fand er nicht. DaS Er lebnis am heutigen Abend war ein zu schreckliches ge wesen. Erst in den frühen Morgenstunden schlief er ein, als die Sonne schon ihre ersten Strahlen auf das Erd reich herabsandte. Zu der gleichen Zeit fanden sich in der Oberförsterei der in Bärenwalde stationierte Gendarm, der von dem Nachtwächter benachrichtigt worden war, der letztere, der Gemeindevorstand und der Lehrer ein, welch letzterer den Posten eines Gemeindeschreibers bekleidete und nun als Protokollführer der Leichenaufhebung beiwohnen sollte. Der Oberförster hatte fast in der Nacht gar nicht ge schlafen. Er war bereits seit einer Stunde wieder auf den Beinen und hatte seinem Förster, der in einem Neben gebäude der Oberförsterei wohnte, von dem Vorgefallenen Mitteilung gemacht. Unmittelbar darauf hatte sich der Förster auf den Weg gemacht, um die beiden Waldwärter, die in dem nahen Dorfe wohnten, nach der Oberförsterei zu bestellen, damit sie bei der Leichenaufhebung zugegen fein sollten, war es doch nicht ausgeschlossen, daß einer von den beiden den verunglückten oder ermordeten Fremden auf seinen Reviergängen gesehen hatte. Kurz vor dem Eintreffen des Gendarmen und des Nachtwächters, welch letzterer auch den Posten eines Ge meindedieners bekleidete, war der Förster mit einem der Waldwärter in der Oberförsterei angelangt. Der andere war feit gestern nicht in seiner Wohnung gewesen. Erregt sprang der Oberförster, der gerade seinen Kaffee schlürfte, auf. „Seit gestern früh, sagen Sie, Marx, sei Dressel nicht mehr in seiner Wohnung gewesen?" „So sagte mir sein Hauswirt, Herr Oberförster", entgegnete der Forstbeamte. „Ja, Marx", wandte sich der Oberförster an seinen Untergebenen, „fällt Ihnen dieses Verschwinden Dressels und die Auffindung der Leiche im Bruche nicht auf? Merken Sie nicht, daß beides im engsten Zusammenhang steht?" „Verzeihen der Herr Oberförster", wagte Marx zu entgegnen, „Dressel ist schon oft des Nachts im Forst ge wesen, wenn er glaubte, einem Wilddiebe auf der Spur zu sein, ohne daß er vorher Meldung abstattete." „Nein", entgegnete ernst der Oberförster, „dann wäre Dressel wenigstens zum Essen zu Hause gewesen. Paffen Sie auf, Marx, wir werden heute etwas Schreckliches er leben. Doch trinken Sie erst eine Taffe Kaffee und essen einen Bissen. Unser Weg ist noch weit, und da ist es gut, wenn man etwas im Magen hat. Setzen Sie sich nur gleich an den Tisch. Meine Alte ist noch nicht auf." Nach einigem Zögern ließ sich der Förster am Früh stückstisch nieder, während der Oberförster der Magd Auf trag gab, dem Waldwärter Martin in der Küche ein Frühstück aufzutragen. Kaum hatte sich der Förster gestärkt, als die oben Genannten eintrafen. Alle sahen mehr oder weniger über- nächtigt aus. — Ein prachtvoller Tag zog herauf. Vom blauen Himmelsdome lugten die ersten Sonnenstrahlen aus Mutter Erde herab, und ein vielstimmiges Konzert der kleinen befiederten Sänger brachte dem großen Weltmeister den Gruß der Erde. Noch lag der Tau kristallklar auf den Gräsern des Waldbodens ausgebreitet, so daß der Oberförster es vor zog, den betretenen Weg, der von der Oberförsterei nach der Straße führte, einzuschlagen. Ursprünglich war er ' willens gewesen, über die Waldwiese, die sich um die Ge bäude hinzog, hinweg quer durch den Wald nach dem Teufelsgrcchen zu gehen, doch ein Blick auf das Schuh werk seiner Begleiter ließ ihn von diesem Vorhaben Ab stand nehmen. Er ging mit dem Ortsvorstand und dem Lehrer, während in weiterem Abstande die übrigen folgten. Schweigend schritten die drei dahin, ein jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, die sich doch wieder um daL eine Ziel drehten, ob ein Unglücksfall oder ein Verbrechen vorliege. Das Erscheinen des kleinen Trupps in der Dorfstrab« mußte natürlich Aufsehen erregen. (Fortsetzung folgt)