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starr, alle Farbe aus dem Antlitz entschwunden, so saß Haddeck da. Dann holte er tief, tief Atem und las den Brief noch einmal, und die Worte, die er las, sprach er zwischen den Zähnen, als wolle er sie zermalmen. Und nochmals ver fiel er in die Starrheit, und wiederum holte er tief, tief Atem, wie ein Ertrinkender nach dem Auftauchen aus der Flut des Todes, und noch einmal las er, laut und voller Entrüstung: »Mein lieber Haddeck! Ich übermittle Ihnen beiliegend einen Brief meiner Schwester. Ich lasse Ihnen denselben auf See überreichen, wo Sie in voller Ruhe mit sich alles überdenken können. Ich weiß, daß Sie nicht schwächer sein werden, wie meine Schwester. Unsere Standespflichten sind starke, heilige Gesetze, denen wir alle unterworfen sind, denen wir un weigerlich folgen müssen. Vergessen Sie meine Schwester, bitte, lieber Haddeck. Ich grüße Sie und verbleibe Ihr Ihnen stets zu Dank verpflichteter Herzog Alfred." Das Briefblatt in Haddecks Hand zitterte. Die Buchstaben flimmerten vor seinen Augen. Lang sam ließ er die Hand, welche den Brief hielt, sinken und Zehnte sich schwer in seinen Sessel zurück. Minutenlang starrte er dann auf den vor ihm liegenden Brief der Prinzessin. Was konnte sie ihm noch zu sagen haben? Das eine, das letzte vermochte nichts, absolut nichts zu beschönigen, weder Worte noch sonst was. Mehr wie der Herzog und etwas anderes konnte sie ja auch nicht schreiben. Alles tu Ende! Weshalb den Brief lesen? Besser, er würde durch das Kajütfenster in die weite, endlose Tiefe des Ozeans geschleudert, als daß er ihm die bittersüßen Worte mit teilte, mit welchen sie sein Glück zerschlug. Er erhob sich schwerfällig, nahm den Brief, trat zu dem offenen Fenster und blickte noch einmal auf die ihm so wohlbekannten Schriftzüge ihrer Hand. Und sie hatten eine derartige Gewalt über ihn, daß sie die Starrheit seiner Augen in liebkosende Weichheit verwandelten. Unwillkürlich führte er den Brief noch einmal zum Munde. Er merkte nicht, daß sich seine Augen in feuchte Schleier hüllten und heiße Tropfen auf seine Hände fielen. Seine Seele feierte Abschied wie am Grabe einer Toten. Wiederum setzte er sich. Fast mechanisch erbrach er das Schreiben. Nun wollte er dennoch die bittersüße Traurig keit ihrer letzten Worte erfahren, und mit leiser, mono toner Stimme, als spräche er ein Gebet, las er: »Mein einzig Geliebter! Ein letztes: Du, ein letztes: Georg, einen letzten Kuß vermocht ich Dir noch zu geben, und nun ist, soll und muß Jugend und Glück für mich gewesen sein. Und daß ich es überhaupt empfinden durfte, das verdank ich Dir, Dir, Du Einziger. Wenn Du zurückkehrst, bin ich des Prinzen Karl Otto von Hartenfels Weib. Georg, wir beide besaßen kein Recht auf Glück, und wenn uns die Liebe darüber täuschte, so wollen wir ihr danken, daß sie alle Bitterkeit unseren Glückesstunden fernhielt. Für mich bist Du nun gestorben, Georg, und der Kultus, den ich Dir, als meinem liebsten, teuersten Toten weihe, wird mich mit meinem Schicksal nicht hadern lassen. Denk auch Du, ich wäre tot, und schmücke mein Angedenken mit Deinen Lieblingsgedanken! Georg, Du sagtest mir oft: Ich wäre Dein Edelweiß. Du, mein Bester: es war so wabr. Es ist zu steil, wo Du mich fandest, und Du Armer mußtest zu Tale stürzen. Meine Älütenkrone nahmst Du mit Dir. Zurück blieben auf der Höhe nur rauhe Wurzeln. Leb wohl für immer! Alice." Eiskalt wurde ihm, dann siedeheiß und plötzlich packle ibn eine unsichtbare, gigantische Faust und warf ihn zu Boden. Nachtdunkel wurde sein Sonnentag — So schmettert plötzlicher Tod in sriedelachende Gefilde sein schwarzes Nichts. Zu derselben Zett pochte sein Bursche mehrmals an die Tür, und wie er keine Antwort erhielt, glaubte er, sem Herr wäre auf Deck; er trat mit einem Kabinen steward ein, um den Raum zu säubern. Mit einem Sprung war Jochen bei seinem Herrn, hob ihn empor und lagte den Steward zum Doktor. Er legte den Ohnmächtigen aufs Bett, öffnete ihm den Kragen und besprengte ihn mit Wasser. Da entdeckte er den Brief in Haddecks geballter Haust. Instinktiv brachte er denselben in Sicherheit, ebenso den auf dem Boden liegenden des Herzogs, indem er sie in den Schreibtisch schloß. Als der Doktor den Bewußtlosen untersuchte, sagte er: »Merkwürdig! Ein geradezu ideal gebauter Körver, und diese schwere Ohnmacht. — Ist Ihr Herr nervös?" wandte er sich an Jochen. „Mit sowas hat mein Herr noch nie nich zu tun gehabt. Wenn sie alle im Regiment schlapp wurden, damals in Südafrika, Herr Doktor, bei die Buren, mein Herr war immer auf Posten. Aber dieses Rütteln und Schuckeln in dem Kasten wird er wohl nicht vertragen können!" Nach wenigen Minuten schlug Haddeck in Behandlung des Doktors die Augen auf. „Wie fühlen 'Sie sich? Was fehlt Ihnen?" fragte der Arzt. Haddeck blickte ihn wie ein aus schweren Träumen Erwachender an und murmelte: „Ich habe Edelweiß gepflückt." „Ruhen Sie! Denken Sie an nichts. Ich werde Ihnen Medikamente senden. Hoffentlich ist der Anfall ohne weiteren Nachteil für Sie bald vorüber!" Der Doktor prüfte nochmals den Puls Haddecks und ging. Still und apathisch lag er auf seinem Lager und be mühte sich, seine Gedanken in Ordnung zu bringen. Jochen gab ihm ein Glas Sherrn zu trinken. Das half. Er richtete sich empor und sagte: „Wo sind di« Briefe?" „Die hab' ich man alle richtig weggeschlosjen, Herr Jraf." „Treuer Kerl! Wie lange liege ich hier?" „Na, nich zu lange, Herr Jraf. Es werden wohl ein paar Minuten sein!" „So! Schön, ich werde auf Deck gehen und mich dort niedersetzen. Die Lust erstickt mich hier." Haddeck erhob sich, ordnete seinen Anzug und fühlte, wie seine alte Kraft langsam zurückkehrte. Bevor er die Kabine verließ, nahm er aus dem Schreibtisch eine Kassette, schloß dieselbe auf und entnahm dieser ein Päckchen zartblauer Briefe und mehrere Photo graphien. Auch die beiden letzten Briefe legte er hinzu. Dann ging er auf Deck. Dort lehnte er sich an einer, wie er annahm, unbeobachteten Stelle über die Reeling und schleuderte das Päckchen Briefe und Bilder in die See. Langsam ging er zu seinem Deckstuhl, setzte sich und starrte mit großen, unnatürlich weit geöffneten Augen auf die endlose Fläche des Atlantic. Er sah nicht, daß Braddon mehrmals an ihm vorbei promenierte und unter seiner tief über die Stirn gezogenen Schirmmütze jedesmal verstohlen zu ihm blickte. Vor Haddecks innerem Schauen glitt noch einmal all sein ge wesenes Glück vorüber. Und es wurde ihm klar, daß er ein blinder Narr gewesen, weil er niemals die dunkle Ode gesehen, dir sich dicht vor die Sonnengestalt seines Glückes geschmiegt hatte. Nun war es ihm so plötzlich, so brutal zur Erkenntnis gebracht worden. Da stellte sich zwischen ihn und seine Gedanken die breite Gestalt Braddons und sagte: „Entschuldigen Sie, Mister Graf, aber ich bin — ich wollte Ihnen das mitteilen — ein Etel. Ich habe nicht gewußt, daß ich Sie mit meinem Benehmen derart ver letzen konnte, daß Sie, wie ich hörte, krank wurden. Bitte, verzeihen Sie mir, und wenn Sie wünschen, erkläre ich mich öffentlich vor allen Passagieren als ein grobes Langohr. Sie derartig zu kränken, lag mir völlig fern." Haddeck mußte über seine Kombination lächeln. Er war Braddon dankbar, daß er ihn aus seinen Träumereier gerissen, reichte ihm die Hand, welche Braddon heftig drückte, und erwiderte: „Es ist gut, Mister Braddon. Di« weiseste Erkenntnis ist immer die, wenn man endlich sich selbst erkennt. Da glaubt man so oft an eine höher« Kraft und alles mögliche in sich und hat eine Narrenkappe über. Augen, Ohren und Verstand. Aber wenn ich Si« bitten darf, nehmen Sie Platz, ich fühle mich etwas an gegriffen und möchte nicht promenieren. Ich werde mich bemühen, dafür Sorge zu tragen, daß Sie nicht, wie Si« sagten, leberleidend durch mich werden können." Braddon strahlte vor Befriedigung. Das übertrat seine kühnsten Erwartungen. Er war darauf gefaßt gewesen, eine kalt abweisende, hochmütige Antwort, wo- nöglich mit amerikanischem Nachdruck zu hören, und statt testen empfing er ein liebenswürdiges, herzliches Ent- zegenkommen. Jetzt hielt er sich im stillen für einen wirklichen Esel. (Fortsetzung folgte Postenlos. Skizze von Franz Markl. (Nachdruck verboten.) Am Ersten. Die Angestellten begeben sich in langem Zuge zur Kaste, um ihr Gehalt zu beheben. AIS letzter tritt ein alter Mann zur Kaste. Mitleidigen Blickes be trachtet ihn der Kassierer, während er ihm die wenigen Geldstücke, die sein Gehalt für einen Monat auSmachen, lufzählt. Wie die mageren Hände zitternd Stück für Stück in der alten, abgenützten Geldbörse bergen! Und dabei zieht ein Schimmer von Glück über das alte, von Sorgen salten durchfurchte Gesicht. Man sieht es dem Manne an, daß er bereits seit mancher Stunde diesen Tag herbei- zesehnt hat. Mit höflichem Danke will sich jetzt der alte Herr emp- sehlen. Da hält ihn der Kassierer zurück: »Einen Augen blick noch, Herr Baumann", sagt er, und seine Stimme klingt seltsam verschleiert, als kämen die Worte nur müh sam über die Lippen, „ich habe Ihnen noch diesen Brief des ChefS zu übergeben." Hastig schiebt er dem alten Herrn ein großes Geschäftskuvert zu und läßt dann schnell daS Milchglasfenster am Schalter herabfallen. Verwundert greift Herr Baumann nach dem Schreiben. Ein Brief deS Chefs? Mit unschlüssiger Miene hält er das Kuvert in der Sand. Was es wohl enthält? Viel leicht eine Gehaltserhöhung. Ja, das könnte er schon brauchen bei diesen teuren Zeiten. Hastig reißt er den Brief auf. Er enthält nur wenig trockene Zeilen. „Schlechter Geschäftsgang — Verminderung des Personals notwendig, zum größten Bedauern. Trotz oieljähriger Dienstzeit, Entlassung", liest Baumann halblaut mit stockender Stimme, während tiefe Bläste sein Gesicht überzieht. DaS verhängnisvolle Papier entfällt seinen Händen. Er muß sich fest an dem Zahlbrett, von dem er soeben die Geldstücke aufgelesen hat, anklammern, um nicht zusammen zustürzen. Also das war es. Deshalb hatten bereits heute früh die andern so leise miteinander gezischelt, des halb hatte der Kassierer so brüsk ihm den Schalter vor der Nase zugeschlagen. Nach dreißigjähriger Dienstzeit entlassen! Ja. war denn das möglich? War es nicht ein böser Traum? Er mußte erst langsam seine Gedanken sammeln, bis er eS ganz und voll erfaßte. Wohl hatte er in der letzten Zeit in der Arbeit nachgelassen und sich manchen Tadel zugezogen. Er konnte eben nicht mehr so schnell arbeiten wie die Jungen. In den dreißig Jahren hatte er seine Kraft abgenützt. Doch das hatte er nicht erwartet. . . Traurig stülpte er den alten Hut aus sein graues Haar und verlieb scheu das Lokal. Auf der Gaste blieb er stehen und blickte ratlos auf und ab. Sonst war er am Zahltag eiligen Schrittes nach Hause gegangen. Wußte er doch, wie sehr ihn schon seine Frau erwartete. Da mußten nur schnell die kleinen Rechnungen des Monats bezahlt werden, damit die Lieferanten ja nicht scheele Gesichter machen. Heute hatte er es nicht so eilig. Er mußte erst nachdenken, wie er der Gattin das Unglück, das ihn bettoffen hatte, möglichst schonend beibringen könne, mußte nachdenken, wie er sich einen neuen Verdienst schaffen könne, wenn die kurze Gnadenfrist, die er noch im Geschäfte zubringen durfte, abgelausen sei. Er gab sich keinen großen Hoffnungen hin. Wußte er doch nur zu gut, wie sehr gerade in seinem Berufe alles an tüchtigen Arbeitern überfüllt war. Und dennoch! Er mußte eine Stelle erhalten. WaS sollte denn auS seinen beiden Enkelkindern werden, die er, als eine tückische Krankheit in rascher Folge ihm den Sohn und die Schwiegertochter entrissen hatte, zu sich genommen hatte? Die armen Kleinen konnte er doch nicht dem Elend pr-iS- geben. Schritt für Schritt ging er langsam heimwärts. Und doch schien ihm der Weg so kurz heute. Mühsam schritt er über die Treppen hinauf. Ja, er fühlte es, er war zu alt. Me Blei lag eS ihm in den Beinen. Die Gattin erwartete ihn bereits an der Schwelle. „So spät kommst du heute?" begrüßte sie ihn mit besorgter Miene. Abei sie unterbrach sich sofort, alS sie in sein bleiches Gesicht blickte: „Um Gottes willen, was ist geschehen?" Da san! der alte Mann mit schrillem Lachen auf einen Stuhl und stammelte: „Entlasten; zu alt." Und Tränen, die eine tiefe Seelenpein ihm entlockt hatte, rannen über seine Wangen... * * G Die Kündigungsfrist war abgelaufen. Mit wehmütigem Lächeln hatte Baumann sein letztes Gehalt behoben und von den alten Kameraden Abschied genommen. Zu Hause zählte er mit der Gattin das Geld. Wenn sie alle Schulden bezahlten, blieb ihnen so viel, um noch acht Tage leben zu können. Und waS dann? . . . Die alten Leute blickten einander traurig an. Keiner wagte es, die Frage aus zusprechen, die ihnen wie ein schwerer Alp am Herzen lag . . . Drei Wochen waren seit jenem Tage vergangen. In dem alten Manne war eine jähe Änderung oor- gegangen. Die ersten Tage war er tagsüber von Geschäft zu Geschäft gelaufen, um nach Arbeit auszujehen. Überall begegnete er höflichem Bedauern. Überfüllt. Kein Platz. Nach und nach war sein Mut gesunken. Wenn er nach Hause kam, wagte er eS nicht mehr, den traurigen Blicken der Frau zu begegnen. Immer schmäler wurde das Essen und die beiden Kinder Nagten bereits über Hunger. Da wurde ihm der Aufenthalt im Hause zur Pein. Wie er sich nur fortstehlen konnte, verließ er das Haus und irrte in den Straßen hemm. Er wurde müde. Die Sorgen drohten ihn niederzuwerfen. Wenn er sich ihrer nur aus kurze Zeit hätte entledigen können. Nur einmal wieder frei aufatmen dürfen. Ratlos blickte er um sich. Plötzlich fiel ihm ein grelles Schild in die Augen, das über einem Branntweinladen hing. Dort, ja dort fand er Befreiung von den quälenden Gedanken. Mit zitternden Händen durchsuchte er seine Taschen. Ja, da waren noch wenige Kreuzer darin, die seine Frau mühsam sich vom Munde abgespart hatte, damit er auf seinen schweren Bittgängen um Arbeit nicht ganz ohne Geld sei. Hastigen Schrittes betrat er den Laden. An diesem Tage^am er zum ersten Male betrunken nach Hause . . . * » * Mit Riesenschritten ging eS abwärts mit ihm. Er wurde zum Dieb an sich selbst und an seiner Familie. Heimlich, hinter dem Rücken der Frau, trug er einen Gegenstand nach dem andern aus dem Hause zum Trödler und inS Versatzamt. Und was er erlöste, das vertrau! er. Vergebens suchte seine Frau ihn von der unseligen Leidenschaft zurückzubringen. „Es ist ja alles eins", war seine einzige Antwort, »lange kann es doch nicht mehr dauern . . * * Vor kurzem brachte man einen alten Mann in den Gerichtssaal. Seine Augen blickten blödsinnig vor sich hin. Die Kleider hingen in Fetzen von seinem Leibe. Es war Baumann. Er hatte im Rausche einen Wachmann, der ihn verhaften wollte, geschlagen. Vergebens versuchte der Richter irgendeine Auskunft von ihm zu erhalten. Er konnte nur erfahren, daß der Mann sich bereits seit einigen Tagen in Branntweinschänken herumgetrieben hatte und nicht mehr nach Hause gekommen war. Der Richter wollte die Frau des Unglücklichen hören. Der Gerichtsdiener rief den Namen auf. Da drängte sich eine älter« Frau durch die Menge, die im Korridor ver sammelt war, und sprach einige Worte mit dem Gerichts diener. Dieser erblaßte und eilte in den Saal zurück. -Bitte, Herr Rat, die Zeugin bat sich heute ertränkt. Vor einer Stunde hat man sie aus dem Wasser gezogen." Ein Aufschrei und ein dumpfer Schlag unterbrach ihn. Der Angeklagte hatte ihn ausgestoben und war dann ohnmächtig zusammengesunken. Der Richter unterbrach die Verhandlung. Man trug den Unglücklichen auS dem Saale. Zwei Stunden später verließ ein Krankenwagen in rascher Fahrt das Gebäude. Er brachte Baumann ins Irrenhaus . .,