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Karten für Invaliditts- und Altersversicherung*. Auf den bisher ausgegebenen Karten für Invaliditäts- und Alters versicherung hafteten bekanntlich die in gewöhnlicher Weise auf geklebten Marken schlecht, und man musste allerlei aufhaltende Mittel anwenden, um dem Abspringen derselben vorzubeugen. Inzwischen ist beim Gummiren der Marken ein neuer Klebstoff zur Anwendung gekommenn, oder richtiger, der arabische Gummi hat einen Zusatz erhalten, der seine Klebkraft erhöht, und die neuen Marken kleben thatsächlich besser. Künftig soll auch der Karton eine Zusammensetzung erhalten, welche das Festkleben fördert. Bisher bestand der Karton aus reinem Zellstoff, der sich bekanntlich, namentlich bei scharfer Glättung, schwer durch Klebstoffe gewöhnlicher Art mit anderm Papier verbinden lässt. Künftig soll eine Stoffzusammensetzung gewählt werden, welche für das Haften der Marken grössere Gewähr bieten soll. Der Bundes- rath schlägt hierzu eine Mischung von 50 pCt. Zellstoff, 20 bis 25 pCt. Baumwolle und 25 bis 30pCt. Leinenhadem vor. Der daraus er zeugte Karton soll eine Reisslänge von 4500 m, eine mittlere Dehnung von 4pCt. und einen Aschengehalt von höchstens 4pCt. aufweisen. Ein Quadratmeter dieses Stoffs hat ein Gewicht von 280 g, wo bei Abweichungen nach oben und unten bis zu 3 pCt. zugelassen werden können. Bei Verwendung dieses Stoffes würden 100 Quittungs karten 850 bis 860 g (statt bisher 1000 bis 1020 g) wiegen und nur 1 M. 10 Pf. (statt bisher 1 M. 30 Pf.) kosten. Vor endgiltiger Beschlussfassung über die Abänderung des bis her verwendeten Kartons soll der neue zunächst durch probeweise Verwendung in der Praxis auf seine Brauchbarkeit geprüft werden. Dies soll in der Weise geschehen, dass einzelne Versicherungsan stalten veranlasst werden, aus dem neuen Stoff hergestellte Quittungs karten aus der Reichsdruckerei zu beziehen, dieselben probeweise zu verausgaben und demnächst über die bei der Verwendung gemachten Erfahrungen zu berichten. Die Reichsdruckerei hat, um die Eigen schaften des neuen Stoffs zu veranschaulichen, die kleinste auf der Papiermaschine herzustellende Menge von 1000 kg anfertigen lassen. Sie ist bereit, hieraus hergestellte Karten abzugeben. Zur Ausführung einer Probe wird allerdings angesichts der Geringfügigkeit des Kartonvorraths kaum mehr als eine Versicherungs anstalt herangezogen werden können. Schreibsachverständige. Die Gutachten der »Schreibsachverständigen« erfreuen sich in juristischen Kreisen keines hohen Ansehens. Jedes Jahr bringt Fälle, in welchen den Schreibsachverständigen, — meist Schönschreib- »Professoren« und alten Kanzleiräthen — Irrthümer in der Hand- schriften-Beurtheilung nachgewiesen werden. Diese wiederholt fest gestellten Irrthümer müssen um so mehr beunruhigend wirken, als von dem Ausspruch eines Sachverständigen gewöhnlich das richter liche Urtheil abhängt und das ungünstige Gutachten eines sogenannten Schreibfachmannes die monatelange Einsperrung eines Unschuldigen zur Folge haben kann. Die Unzuverlässigkeit von Gutachten vieler Schreibsachver ständigen wurde am 13. Oktober vor dem Landgericht II Berlin wiederum durch einen Rechtsfall erwiesen, der dieses Landgericht bereits zweimal, das Landgericht I sechsmal und das Reichsgericht zweimal beschäftigt hatte. Der Vorgang war folgender: Im Jahre 1887 ging gegen eine Frau H. beim Berliner Polizeipräsidium eine anonyme Anzeige wegen eines Sittlichkeitsverbrechens ein. Die Anzeige erwies sich als grundlos, der Spiess wurde umgekehrt und nach dem Ver fasser des anonymen Schreibens geforscht. Frau H. hatte vorher etwa zehn anonyme Postkarten mit schmähendem Inhalt erhalten. Ihrer Ansicht nach war der Verfasser derselben der Telephonbeamte J., mit dem sie in Feind schaft lebt. Schriftstücke, die von dessen Hand herrührten, wurden herbei geschafft, und der kürzlich verstorbene Schreibsachverständige Kanzleirath Seegel begutachtete, dass J. die Anzeige und auch die Karten geschrieben habe. Daraufhin wurde Anklage gegen J. wegen falscher Anschuldigung und Beleidigung erhoben. Der Angeklagte wies die Verfasserschaft von sich und bezog sich zum Beweise der Nicht-Uebereinstimmung der Handschriften auf einige von ihm herrührende Schriftstücke eines Prozesses. Bei Prüfung derselben wurde der Schreibsachverständige Seegel stutzig und veränderte sein Gutachten dahin, dass er es nur für »wahrscheinlich« erachten könne, dass der Angeklagte die inkriminirten Schriftstücke geschrieben habe. Das Ge richt zog nun auf den Antrag des Vertheidigers einen zweiten Schreibsach verständigen in der Person des Schreiblehrers Professor Moritz Maass hinzu. Derselbe begutachtete nun zum Erstaunen des Angeklagten, der sich auf ihn berufen hatte, mit vollster Sicherheit, dass dessen Handschrift mit der jenigen der unter Anklage stehenden Schriftstücke durchaus übereinstimme. Darauf wurde der Angeklagte wegen Beleidigung in zwei Fällen zu einer Gesammtstrafe von drei Monaten Gefängniss verurtheilt. Es gelang dem Rechtsanwalt Dr. Flatau durch Einlegung der Revision, dieses Urtheil zur Aufhebung zu bringen. Doch wurde vom Reichsgericht die thatsächliche Feststellung in Betreff der Beleidigung durch die anonymen Postkarten aufrecht erhalten und die Sache zur anderweitigen Verhandlung an das Landgericht I zurückgewiesen. Nachdem bei demselben verschiedene Termine stattgefunden hatten, wurde der Angeklagte wiederum wegen Be leidigung in zwei Fällen zu drei Monaten Gefängniss verurtheilt. Auch die gegen das zweite Urtheil eingelegte Revision hatte Erfolg; dasselbe wurde aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das Berliner Landgericht II verwiesen. Im ersten Termin erschienen äusser Seegel und Maass als Entlastungs sachverständige die Schreiblehrer Fix und Arnold. Deren Gutachten standen denen der beiden erstgenannten Sachverständigen durchaus entgegen. Zu dem zweiten Termin wurde noch der Hofkalligraph Schütz geladen, welcher sich den Belastungssachverständigen anschloss. Nun verlangte Rechtsanwalt Dr. Flatau als Zeuge vernommen zu werden, und legte mehrere vor seinen Augen gefertigte Schriftstücke eines fremden Mannes vor, der sich ihm gegenüber als Verfasser der inkriminirten Schriftstücke bezichtigt habe. Den Fremden, der einen Unschuldigen vor Strafe bewahren wollte, deckt selbst verständlich die pflichtgemässe Verschwiegenheit des Anwalts. Im Termin musste Professor Maass sein bisheriges Gutachten als un richtig umstossen und einräumen, dass die Handschrift des fremden Mannes mit der des Denunzianten unzweifelhaft übereinstimme. Schreibsachverständiger Langenbuch wies ausserdem nach, dass die vom Professor Maass angewendete Methode sehr leicht zu Irrthum führe. Bei dieser Sachlage beantragte der Staatsanwalt selbst Freisprechung wegen der Denunziation. Diesem Antrag entsprach der Gerichtshof. Die Verurtheilung zu einer Geldstrafe von 30 M. blieb bestehen, da das Reichsgericht die Schuldfeststellung für erwiesen er achtet batte. Dieses Urtheil muss erst im Wiederaufnahmeverfahren beseitigt werden. * Es ist begreiflich, dass Vorkommnisse, wie sie hier festgestellt wurden, eine tiefgehende Beunruhigung im Volke hervorrufen müssen. Man wird nicht allein die Gutachten der gegenwärtigen Schreibsach verständigen mit Misstrauen betrachten, sondern man wird auch der Frage näher treten müssen, ob die Berufskreise, aus welchen man bisher die Schreibsachverständigen zu wählen pflegte, die richtigen waren, ob Schönschreiblehrer und Kanzleibeamte diejenige Gewähr für das erforderliche Maass von Uebung und Erfahrung in der Be- urtheilung von Handschriften besitzen, welche angesichts der Wich tigkeit der abzugebenden Gutachten gefordert werden muss. Man wird diese Frage mit »Nein« beantworten müssen. Wodurch erwirbt man sich Erfahrung in der Beurtheilung von Handschriften? — Etwa durch Ertheilung von Unterricht im Schön schreiben, oder durch Ausfertigung gerichtlicher Schriftstücke? Gewiss nicht. Der Schönschreiblehrer hat die Aufgabe, seinen Zöglingen eine Idealschrift beizubringen. Zu diesem Zwecke muss er die vorhandene Individualschrift zunächst vernichten. Diese Individualschrift, welche ihm als etwas Störendes, kaum Beachtenswerthes erscheint, ist es aber, deren intime Kenntniss erst die Ursprungsfeststellung einer Handschrift ermöglicht. Nur durch gewissenhafte Beobachtung all der verschiedenen, im Laufe der Jahre festgewurzelten Buchstaben formen, der eigenartigen Züge, der kleinen Ausläufer, kann es gelingen, denjenigen Scharfblick zu erlangen, welcher für die in Rede stehende Aufgabe erforderlich ist. Das kann man aber von dem Schönschreib lehrer, der diese individuellen Merkmale gerade beseitigen und den Schülern zunächst eine uniforme Schrift bieten soll, aus der sich erst später wieder eine Individualschrift entwickeln kann, nicht verlangen. Der Kanzleibeamte, welcher die verschiedensten Schriftstücke unter die Hände bekommt, erscheint schon viel geeigneter. Die Gelegenheit, sich zum wirklichen Handschriftenkenner auszubilden, wird ihm aber dadurch beeinträchtigt, dass viele der durch seine Hand laufenden Schriftstücke die schablonenhafte Normalhandschrift berufsmässiger Schreiber aufweisen. Welche Berufskreise sollen nun besser zur Ausbildung von Hand schriftenkennern befähigt sein? Solange es keine staatlich anerkannten Graphologen giebt, wird man sich an diejenigen Berufsgruppen wenden müssen, die pflichtgemäss fort gesetzt eine grosse Zahl verschiedener Handschriften zu prüfen haben. Solcher giebt es eine ganze Menge; z. B. Buchdruckerei-Korrektoren, Redakteure, Büreauvorsteher der Rechtsanwälte usw. Es ist selbst verständlich, dass nicht jeder diesen Berufszweigen Angehörige ohne weiteres befähigt ist, als Handschriftenkenner aufzutreten, aber es wird sich darunter eine hinreichend grosse Zahl geeigneter Persönlich keiten finden, die vielleicht durch einen geschulten Graphologen, der sich die Schriftbeobachtung und -Vergleichung zur Lebensaufgabe gemacht hat, in systematischer Weise fortgebildet werden könnten. Es ist auch möglich, dass noch andere Wege gefunden werden, den vorhandenen Missstand zu beseitigen. Keinenfalls aber dürfen wie bisher Schönschreiblehrer ohne weiteres als geeignete und durch ihren Beruf gewissermaassen privilegirte Handschriftkenner betrachtet und zu Sachverständigen gemacht werden. Das ist gerade so, als wollte man einem geschulten Schönredner ohne weiteres die Fähigkeit beimessen, wichtige sprachetymologische Fragen zu beantworten, oder als wollte man einem tüchtigen Dekorations maler die Entscheidung über die Echtheit eines alten Gemäldes über lassen. —