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PAPIER-ZEITUNG. No. 50. Berichte unserer Korrespondenten. Aus Brasilien. (Fortsetzung zu Nr. 44.) San Paulo, Mai 1890. 3. Kapital und Industrie. »Industria nacional näo presta«, die Nationalindustrie taugt nichts, sagt der Brasilianer, und da hat er vollkommen recht, denn alles, was Brasilianer bisher angepackt haben, ist jetzt altes Eisen. Daher ist es kein Wunder, wenn für Industrie kein Kapital da ist, wenn der Brasilianer jedes industrielle Unternehmen mit Misstrauen betrachtet und sich mit Kapital nicht betheiligt. Einen schlagenden Beweis für die Untauglichkeit brasilianischer Nationalindustrie bietet das Staatseisenwerk in Spanema. Mit allen Vortheilen der Lage und einem ungemein reichen Erze beglückt, verlangt dies Eisenwerk jährlich bedeutende Staatszuschüsse, während es eine Goldgrube sein könnte. Aber durch das bereits oben erwähnte Protektionswesen sind daselbst eine Menge unfähiger Beamter angestellt, garnicht im Verhältniss zu den Arbeitern. Der Direktor des Werkes, ein tüch tiger Ingenieur, kann nicht dagegen ankämpfen und muss eben die Sache gehen lassen, wie sie geht. Es ist eine allgemeine Beobachtung, dass hier den technischen Leitern derartiger Unternehmungen die Hände gebunden sind, und dass sie sich bei der herrschenden Wirthschaft entweder gezwungen sehen davonzulaufen, oder selbst brasilianisirt zu werden, das heisst die Augen und Ohren zu schliessen und zuzusehen, ob nicht für sie auch etwas abfällt. Diese Protgs verstehen ihren Vortheil zu wahren, und wenn das Unternehmen verknallt, dann sind ganz gewiss sie selbst »arranjado« Sehr häufig lässt sich dies auch bei Bahnbauten beobachten, woselbst der Arbeiter oft gezwungen ist, bei einem dieser Herren, der zugleich die Auszahlung der Löhne hat, seine Lebensmittel zu kaufen. Die Folge ist, dass der Arbeiter immer Minus am Zahltage hat. Anders ist es jedoch, wenn bei Kapital und Leitung europäische Elemente stark vertreten sind. Dies zeigt die bereits stark ent wickelte Textilindustrie. Die Companhia do Rink in Rio de Janeiro, bei der zwei Deutsche hervorragend betheiligt sind, die Sociedade de Tecelagem Fluminence und die Companhia S. Christofe, bei welchen allen europäische Kapitalisten sind, machen sämmtlich blühende Geschäfte, während die brasilianische Fabrica de chitas mit ungeheuren Kosten gebaut wurde und jetzt Alteisen in einem Steinhaufen ist. In der Provinz S. Paulo hat die brasilianische Familie Barros mehrere Spinnereien, die gut rentiren. Die Söhne dieser Familie, die die Fabriken leiten, sind in Deutschland erzogen und haben wenigstens gelernt, wie man es nach brasilianischer Sitte nicht machen soll. Der Leiter, zugleich Theilhaber der in gutem Gange befindlichen neuen Papierfabrik in Salto It, auf die ich im folgenden Briefe zurückkommen werde, Herr Melcher, ein Verwandter der industriellen Familie Barros, hat zuvor in Nordamerika die Papier macherei gelernt, ehe die Familie die Kapitalien für die Fabrik zusammenschoss. In Rio ist eine weitere Spinnerei unter günstigen Aussichten im Bau, die der Companhia Alliana, mit ebenfalls vor wiegend europäischer Leitung. Von Industrie herrscht nur noch die landwirthschaftliche vor, Engenhos central, Centralzuckerfabriken, und auf den grossen Facendas die Anlagen zum Enthülsen, Reinigen und Sortiren des Kaffees. Dementsprechend ist es auch um die Maschinenindustrie schwach bestellt. Die drei bedeutendsten Firmen sind Lidgerwood in Rio, S. Paulo und Campinas, Arens Irmäos in Rio und Campinas und Mac Hardy in Campinas. Diese Firmen beziehen die Eisentheile der (meist landwirthschaftlichen) Maschinen alle von England, und die Werkstätten dienen nur zur Herstellung der Maschinengestelle, die aus dem hiesigen vorzüglichen Holze gemacht werden, und zur Zusammenstellung und Reparatur der Maschinen. Eigene Kon struktion kommt nur im Falle grosser Eile des Bestellers vor. Die Firmen Lidgerwood und Mac Hardy sind eigentlich nur Filialen englischer Mutterhäuser, aibeiten daher mit eigenem, d. h. engb'schem, Kapital und ziehen brasilianisches Geld nach England. Arens Irmäos sind geborene Deutsche und unabhängig von jeder ausländischen Fabrik, beziehen aber ebenfalls ihre Eisentheile von England. Eine Firma, die bereits anfängt eine Ausnahme von dieser Regel zu machen, ist Lacenda Camaiy & Co., die, von deutschen Ingenieuren geleitet, bereits selbständig konstruirt und ausführt, aber trotzdem immer noch einen grossen Theil fertiger Maschinen vom Auslande bezieht, nur dass sie nicht ausschliesslich englische, sondern auch deutsche Maschinen, z. B. Deutzer Gasmotoren, führt. Alle diese Firmen, halb Fabriken, halb Handlungen, machen glänzende Geschäfte. So werden z. B. von der Filiale S. Paulo der Firma Lidgerwood durchschnittlich jeden Tag für 4 Contos (8000 M.) Maschinen versandt. Aus Vorstehendem erhellt, dass die Maschinenlieferung für Brasilien fast ausschliesslich in englischen Händen liegt, weil eben englische Fabriken die Opfer nicht gescheut haben, Filialen zu errichten, während die leistungsfähigsten deutschen Fabriken nichts gewagt haben und nur an Exporthäuser Zeichnungen und Preislisten senden, während der Brasilianer etwas Fertiges sehen will. Nach meiner Ansicht liesse sich die deutsche Maschinenindustrie gewinnbringend hier einbürgern, wenn mehrere Fabriken sich zu einer Maschinenexportgesellschaft vereinigen würden, zur Gründung eines Musterlagers in Rio de Janeiro und S. Paulo. Die Rechnung jeder Fabrik müsste separat geführt werden, und bei verständiger Leitung wären die Unkosten, wie Lokalmiethe, Beamtengehalt usw., gleichmässig vertheilt, für die einzelne Firma sehr gering. Sehr absatzfähig wären Motoren, insbesondere Kleinmotoren, ferner Eismaschinen, Werkzeugmaschinen und insbesondere die klei neren Maschinen zur Papierverarbeitung. Man ist hier weit entfernt davon, Misstrauen gegen deutsche Maschinen zu hegen, oder für die englischen eine besondere Vorliebe zu haben, aber der Brasilianer versteht eben keine Zeichnungen. Wenn er jedoch etwas Schönes, und noch dazu in Thätigkeit sieht, ist er sofort dafür begeistert. Bei den Eisenbahnen liegen die Verhältnisse genau ebenso. Die sogenannte englische Bahn von Santos über S. Paulo nach Campinas, die wichtigste Bahn Brasiliens, ist ganz von englischem Kapital gebaut, und der ganze innere Apparat ist englisch. Sämmtliche Schreibereien, mit der einzigen Ausnahme derjenigen, die den direkten Verkehr mit dem Publikum betreffen, werden in englischer Sprache geführt. Diese Bahn kann ihren Aktionären hohe Dividenden be zahlen, und jeden Monat gehen grosse Summen nach England. Das reine Gegentheil zeigen die Bahnen unter brasilianischer Verwaltung. Glücklicherweise enthalten dieselben staatliche Zinsgarantieen, aber statt eine Einnahmequelle zu sein, sind sie Schmerzenskinder des Staatssäckels. Oft kommt es auch vor, dass derartige Bahnen längere Zeit den Bau einstellen müssen, weil das Geld »alle« geworden ist. Ein merkwürdiger Vorfall dieser Art dürfte einen schlagenden Beweis für brasilianische Unternehmungen bilden. Einige Reisende mussten sich im vorigen Jahre in der Provinz Amazonas ihren Weg durch dichten Urwald bahnen und standen plötzlich vor einer — Lokomotive. Ja, wie kommt denn die hierher? fragte man sich. — Ganz ein fach. Vor mehr als 10 Jahren sollten zwei Flussgebiete mit wich tiger Schifffahrt, das des Amazonenstroms und das des Mamore, mit einander verbunden werden. Das laut Kostenvoranschlag nöthige Kapital kam rasch zusammen, der Bau wurde unter Festgelagen mit gegenseitigen Lobhudelreden der Gründer und Ingenieure be gonnen; das Geld war aber bald alle, und der Krach da. Die halb fertigen Erdarbeiten waren von den heftigen Regengüssen bald ver waschen, und 10 Jahre genügten vollauf, die Arbeiten zu überwuchern und die ganze Gründungsgeschichte in Vergessenheit zu bringen. Sind mit Mühe und Noth die Bahnen fertig, und ist deren Betrieb unter grossen Festlichkeiten und unendlichen Eviva’s übergeben, wobei natürlich, wie es hier Sitte ist, am hellen Tage unendlich viele Knallraketen in die Luft fliegen, so beginnt das »Arrangiren« lür die Beamten. Das Publikum ist nur Nebensache, denn es ist für die Bahn da, und nicht die Bahn für das Publikum. Die Direktoren, die nur repräsentiren, erhalten grosse Gratifi kationen, und wie z. B. bei der Sorocabana-Linie werden deren Namen auf Marmorplatten auf den Bahnhöfen in Gold buchstaben schon bei Lebzeiten der Betreffenden verewigt, während die Anfangsstation in S. Paulo mehr einem Stall, als einem Bahnhof ähnlich sieht. Der Bahnsteig war früher einmal aus Balken mit darübergenagelten Brettern hergestellt, wovon jetzt nur noch Reste vorhanden sind, und die Passagiere müssen eben sehen, wie sie in die Wagen hinein kommen. Sorgsame Pflege des rollenden Materials scheinen die brasilianischen Bahnbeamten ebenfalls für unnöthig zu halten. Die Eisenbahnen sind jedoch bei der stetigen Zunahme der Ansiedelungen äusserst nothwendig und rentiren sich unter richtiger Verwaltung sehr gut, wie dies die englische Compagnie beweist. Die Südstaaten, mit vorherrschend deutscher Bevölkerung, sind äusserst produktiv, haben jedoch keine Absatzwege. Man bezieht in Rio und S. Paulo eine Menge Dinge von Europa, während die Süd staaten dieselben bei besserer Verbindung rascher und billiger liefern könnten. Der einzige Verbindungsweg zwischen den Centralstaaten und Südstaaten ist der Seeweg. Die Dampferverbindung ist jedoch un regelmässig und nicht besonders sicher. Die Reise von Rio nach Porto Alegre beträgt 5—6 Tage und kostet 250 Mark. Die Folge dieser mangelhaften Verbindung ist, dass ein grosser Theil der im Süden produzirten Sachen zu Grunde geht, und diese