Volltext Seite (XML)
WMtt K NNM U Beilage zu Nr. 17. Sonnabend 10 Februar 1912. De«Hprüche für Gemüt und Verstand. Arm ist, wer den Tod wünscht; Aermer, wer ihn fürchtet. Betrachtung zum Sonntage Sexagefimae. Die Monate und Wochen, da unsere herangewachsenen Sinder die letzte Vorbereitung emvfangen für die Aufnahme unter die mündige Gemeinde, bilden einen Wendepunkt im Leben, den nur das Elternherz in seiner ganzen Be- deutung und Wehmut empfindet. Gewiegt von süßen Hoffnungen und Träumen schlägt das Kinderherz mit Ün- geduld der Zeit entgegen, wo es aufhören wird, ein Kind zu heißen und ein Kind zu sein, denn auch das Leben der Zukunft beucht ihm noch ein Kindergarten voll Glück und Liebe mit heiterem Himmel und lachendem Sonnen schein. Ach, sie wissen nicht, von welch einem Himmel sie scheiden und welch ein Paradies hinter ihnen seine Pforte zuschlteßt — auf ewig! Piel später erst, wenn etwa das Le> benmit seinen Enttäuschungen wie ein kalter Herbstreif fich über die Seele legte, wenn die Härte und Lieblosigkeit der Welt schon oft mit frostigem Hauch in die Blüten des jungen Herzensfrühlings gefahren, wenn am Wege ein Grab ums andere sich gehäuft hat mit versenkten Hoffnungen und Wünschen, und vielleicht auch manche Wunde der Seele und manche Narbe des Gewissens schmerzlich erinnert an die dunklen Stunden der Versuchung und an den Betrug der Sünde, da sehnt das Herz mit stillem Heimweh sich wieder zurück ins verlorene Paradies der Kindheit und selbst der glücklichste Vater und die seligste Mutter können im Kreise froher Kinder noch manchmal mit feuchtem Auge seufzen: Wie selig, wie selig war's ein Kind zu sein! Wie selig, als unsere Brust noch ganz erfüllt war von kleinen Kinderfreuden und Kindersorgen, als das gläubige Kin»es- auge, noch von keinem Wölklein des Zweifels umflort, hienauf sah zum offenen Himmel und zu seinen jauchzenden Engeln, als das Auge noch nicht gebrochen und die Arme «och nicht erstarrt waren, die liebend und schirmend wachten über unserer Kindheit! Getrost! Es gibt einen köstlichen Ersatz für das, was uns äußerlich das Alter und die Jahre und innerlich Weltsorge und Weltsünde raubten Eme selige Kindschaft gibts, die nie verwelkt mit den Rosen der Jugend, die nicht davonflteht mit der Flucht der Jahre und nicht ver geht unter den Runzeln des Alters Seit über der Krippe zu Bethlehem die göttliche Aufschrift funkelt: .Also bat Gott die Welt geliebt", braucht die Menschheit nickt mehr hoffnungslos sich zu sehnen nach dem verlorenen Paradies. Sie darf wieder mit frommen, gläubigen Kind saugen aus dem Dunkel der Erde emporschauen in den offenen Himmel. Sie darf in den Nöten des Lebens und unter den Qualen der Schuld vertrauensvoll an ein Vaterherz fich flüchten, das voll erbarmender Liebe entgegenschlägt den verlorenen und wiedergefundenen Söhnen. Sie darf unter den Leiden der Zeit und unter den Schauern der Vergänglichkeit auf das himmlische Vaterhaus sich freuen, zu welchem Christus uns den Weg gezeigt und den Zugang eröffnet hat, wo alles Heimweh der Erde gestillt wird auf ewig. DaS ir die selige Gotteskindschaft, in deren »llbesitz und Vollgefühl das Herz des Johannes aus bricht in den Ruf des Entzückens: „Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeigt, daß wir Gottes Kinder sollen heißen". Wer in der Gewißheit dieser Gottesktnd- schaft lebt, der hat alles, wonach ein Menschenherz sich sehnt: Friede, Freude, Glück, Seligkeit. Aus Sachsen. Wilsdruff, den 9. Februar. In der Nacht zum Mittwoch tötete sich in seiner Wohnung Lindenaustraße 33 in Dresden, der aus Hagenberg i. Pr stammende Student der Technischen Hochschule Christoph Engel durch einen Schuß in den Kopf. — In Dresden stürzte sich die 14 Jahre alte Bürgerschülerin von der 13 Bürgerschule Elfriede Habels, eine Waise, die beim Oberschaffner Hühnlich in Vorstadt Cotta in Pflege war, infolge gekränkten Ehrgefühls in die Elbe und verschwand unter dem Eise. Ihre Leiche konnte nicht geborgen werden. — Die Maschinisten Ehe- frau Lorenz wurde vorgestern abend von ihrem Ehemann beim Nachdausekommen in seiner in der Wormseistraße gelegenen Wohnung bewußtlos angetroffen. Sie gab nur noch schwache Lebens eichen von sich. Infolge eines De- festes an der Gasleitung war sie an Gasvergiftung schwer erkrankt und verstarb bal' darauf. — Die neugegründete sozialdemokratisch: Baugesellschaft „Vorwärts", Aktien gesellschaft, hat die am Wettiner Platz 10/11 in Dresden gelegenen Grundstücke käuflich erworben und dafür 180000 Mark gezahlt. Wie verlautet, ist der Bauplatz 2420 Quadratmeter groß und soll aus Vorderwohnge- bäuden mit Hofraum, sowie Frvntbauplatz mit großem Htnterlande bestehen. Zum Bankkrach in Dippoldiswalde. Ueber das Vermögen des Kaufmanns Johann Georg Willkomm, zu- letzt in Dippeldiswalde, z. Z in Freioerg in Unter- suchungshaft, ist am 6. Februar 1912, nachmittags 3 Uhr das Konkursverfahren eröffnet worden. Als verschollen galt nach dem Kriege von 1870/71 bisher ein gewisser Franz Schunk aus Bruandövra, der bei den sächsischen Grenadieren den Feldzug mitge macht hat. Jetzt meldet ein Kamerad von ihm dem Vor- stsencen des Brunndöbraer Mtlitärvereins, daß er genau w sse, daß Schunk bei St. Privat gefallen sei. Er hat damals vor Aufregung über den Tod seines Freundes versäumt, ihn zur Gefallenenliste auzumelden und später aus Furcht vor Strafe nicht den Mut gehabt, ihn nach- träglich anzugeben. Jetzt, da er auf dem Krankenbette liege, könne er nicht and rs, als d m Militärveretn seines Heimatortes diese Tatsache mitzutetlen. Er nennt auch feine letzten Worte, die er mit ihm gewechselt hat. In Streume« bei Großenhain erhängte fich der zwölfjährige Sohn eines dortigen Einwohners. Der Knabe soll längere Zeit nervenkrank gewesen sein. In Hohndorf ist ein Ortsgesetz zur Besteuerung der Reklameschilder in Kraft getreten, um dem Reklame- unfug rntgegenzuwirken. Für jeden Quadratmeter, auch wenn er angefangen ist, müssen 3 Mark entrichtet werden Von der Steuer befreit find die dortigen Einwohner und Geschäftsleute. Die Stadtverordneten in Leipzig beschlossen gestern die Etnverleivung der Vororisgemeinden Leutzsch und Schönefeld mit zusammen etwa 30500 Einwohne n Mit dieser Einverleibung tritt Leipzig an die dritte Stelle der deutschen Großstädte (Berlin, Hamburg, Leipzig). — In einem Grundstücke der Weftstraße zu Leipzig wurde gestern gegen abend ein Verkäufer in einem Zigarren geschäft räuberisch überfallen und mit einer eisernen Stange niedergeschlagen. Der Verbrecher raubte die Ladenkaffe und entfloh. Man konnte seiner noch nicht habhaft werden. Die Verletzungen des Ueberfallenen find nicht lebens gefährlich. Die Automobil-Omnibus-Gesellschaft Mittweida— BurgftLdt—Limbach, A.-G., konnte auch im ver gangenen Geschäftsjahre wiederum auf eine äußerst gün stige Entwicklung ihres Unternehmens zurückbltcken. Nicht nur die Personenfrequenz, sondern auch der Stückgut- Verkehr wiesen durchweg ejne aufsteigende Richtung auf. Die Fahrgeldeinnahme beäffert sich auf 81991,75 Mark gegen 79686,10 Mark im Vorjahre. Be ördert wurden 251701 Personen und 27357 Gepäckstücke Seit Bestehen der Gesellschaft wurden insgesamt 1235920 Personen und 73084 Gepäckstücke befördert. Die GesamtarbettSleistuug im Jahre 1911 betrug 116379 Wagenkilometer. Be triebsunfälle waren nicht zu verzeichnen. Das Staats- darlehn wurde wieder zurückgezahlt. In der am Sonn abend stattgefundenen Generalversammlung wurde die Verteilung von 18 Prozent Dividende genehmigt. Ein recht bedauerlich r Unglücksfall, dem beinahe vier Menschenleben zum Opfer gefalle« wären, ereignete fich m OlberSdorf bei Zittau. Der Fabrikarbeiter Müller und seine Frau gingen früh, während die vier Kinder i» der Stube noch schliefen, zur Arbeit. Als ein Bewohner etwa 1 Stunde später die Stube Müllers betrat, war diese mit Rauch gefüllt. Die Kinder, dem ErstickungS- tode nahe, wurden völlig bewußtlos aufgefunden Der Rauch ist dadurch in die Stube gedrungen, daß oie Ofen klappe zugefallen ist. WiederlebungSvers che wurden fosort angestellt. Man Hoffr, die Kinder am Leben zu erhalte«. Arrrze Chronik. Großes Schadenfeuer. Aus Köln wird gemeldet: In Geldern bet Sonsbeck «st ein großer Bauernhof nieder gebrannt. Der Bruder des Besitzers ist in den Flamme« umgekommen. 3 Pferde, 21 Kühe, 24 Schweine und viel Geflügel sind Verbrannt. Schweres Gritven««glück Vorgestern nach- mitttag gegen 5 Uhr wurden auf der Grube „Emma" (Werschen-We ßenfels) der Steiger Weber und der Berg arbeiter Eberhardt aus Trebnitz und der Bergarbeiter Reichwaldt aus Brövitz durch niedergehende Gesteins- massen verschüttet Weber und Eberhardt sind tot, während Reichwaldt einen Beinbruch erlitt Eine neue unterirdische Fernsprechleitaug Berti«-Magdeburg. Für das Rechnungsjahr 1912 ist in Aussin genommen, auf der 150 Kilometer langen Strecke Berlin - Magdeburg ein Fernsprechkabel mit 56 Doppelleitungen auszulegen, das ipäter üver H mnover bis an den Rhein verlängert werden soll Dle Koste« der neuen unterirdischen Fernfprechleltung find für die Strecke Berlin-Magdeburg auf fünf Millionen Mark ver anschlagt. Schweres Unglück bei einer Bauernhochzeit. Die „Ostdeutsche Rundschau" meldet aus Szmamarzewo Stürmische Mögen Kriminak-Roman von Karl von Riegerstein. 41) (Nachdruck verboten. In diesem Augenblicke gab es im ganzen Saale wohl keinen Unbeteiligten, der in die Ausführungen des Verteidigers auch nur die geringsten Hoffnungen für den Angeklagten setzte. Für jeden war der Fall Walter so gut wie beendet; für jeden der Wahr spruch der Geschworenen so gut wie erledigt. Es handelte sich nur noch darum, ob Tod oder Zuchthaus, und milde, wie man schon ist, neigte man sich all gemein der Annahme einer 10- bis 20 jährigen Zucht hausstrafe zu. In keinem Falle wurde noch eine Sensation er wartet. Ebensowenig aber hatte man geglaubt, einen so resignierten Ton zu hören, wie ihn gleich zu Anfang ön sonst als äußerst schneidig bekannte Verteidiger anschlug. Ja, man kam aus dem Staunen nicht heraus, als dieser selbst alle Brücken gewaltsam hinter sich abnb und - das Verbrechen des Totschlags von vornherein ausschloß. „Meine Herren Geschworenen", begann er. „Noch nie ist mir mein Amt so leicht gemacht worden, wie gerade heute. Der Herr Staatsanwalt hat in so klarer, anschaulicher Weise geschildert, wie die Tat vor sich gegangen sein muß, er hat die Zeugen aussagen so geschickt zu verwerten gewußt, und hat das Beweismaterial in solch logischer, solch zer malmender Weise geordnet, er hat aus allen Prämissen in so einwandfreier Weise die Folgerung gezogen, daß es sich nur um einen Mord handeln kann, daß ich selber durch seine Argumentationen allein hätte überzeugt werden müssen wenn ich nicht selber schon von Anbeginn einen leisen Verdacht gehabt hätte, der fich mehr und mehr gefestigt hat, je mehr ich alle Umstände des Verbrechens und die Persön lichkeit des Angeklagten kennen lernte." Diese Worte aus den: Mund des Verteidigers erregten eine ungeheure Sensation. Noch nie hatte ein Verteidiger so gesprochen. Noch nie hatte einer den, dessen Interessen er mit aller Kraft seines Könnens und Wissens vertreten sollte, so schmählich im Stiche gelassen, wie das jetzt hier geschah. Der Staatsanwalt machte ein Gesicht, als falle er aus den Wolken und als könne er seinen Ohren nicht trauen. Selbst in dem Antlitz der Richter malte sich eine gewisse Bestürzung, und der Angeklagte schien auch plötzlich aufgerüttelt zu sein aus seiner Apathie. Seine Blicke hingen förmlich an dem Munde des Verteidigers, während er todbleich war und ein nervöses Zittern seinen ganzen Körper zu befallen schien. Nur einer blieb durch die Wirkung der Worte unberührt: der Verteidiger selbst. „Ja, meine Herren Geschworenen", fuhr er fort, „der Herr Staatsanwalt hat recht. In allem und jedem. Nur eine Kleinigkeit hat er übersehen." „Aha, jetzt kommt's", dachte der Staatsanwalt und beugte sich vor, um zu zeigen, wie gespannt er den Ausführungen seines Gegners lausche. „Nur eine Kleinigkeit", fuhr dieser fort, „und das ist die Frage, ob nicht vielleicht doch ein anderer als der als „Mörder" Angeklagte in Betracht kommt, ob nicht ein anderer, dem die unerquicklichen Ehe szenen zwischen den beiden Gatten bekannt waren, den teuflischen Plan zu der grauenvollen Tat auf gebaut hatte." Der Staatsanwalt lehnte sich wieder zurück. Er zeigte damit, daß ihn die Ausführungen der Ver teidigung nicht weiter interessierten. Sie waren zu lächerlich. Der Verteidiger aber fuhr fort: „Ein wichtiges Moment ist nämlich ganz außer acht gelassen worden: der Raub der Juwelen. — Man hat sich keinen Augenblick lang, oder wenigstens nicht einen Augenblick länger, als es anstandshalber notwendig war, mit der Möglichkeit oder vielmehr der Wahrscheinlichkeit beschäftigt, daß vielleicht doch ein Raubmord vorliegt. Man war froh, einen plausiblen Mörder zu haben, und ich gebe zu, daß die Umstände ganz danach angetan waren, den An geklagten schwer zu belasten. Ja, ich gehe noch weiter. Ich gebe auch zu, daß man die Hausbewohner alle in dem Sinne der Möglichkeit, ein Verbrechen begehen zu können, Revue passieren ließ, und daß man keinerlei Anhalt fand, auch nur den geringsten Verdacht gegen irgendeinen derselben zu hegen, es blieb also nur . . ." In diesem Augenblicke ging die Tür zum Ver handlungssaale leise auf, und ein Mann trat vor sichtig, auf den Zehen, um den Gang der Ver handlung nicht zu stören, in den Zeugenraum ein und setzte sich neben Ramingen, der totenbleich, die blutleeren Lippen fest aufeinanderpreffend, dasaß und für nichts Sinn, für nichts Augen und Ohren hatte, als für den Verteidiger und das, was dieser sagte. Dadurch allein war es möglich, daß Ramingen das Eintreten Heides ebensowenig bemerkte, wie den Blick, den dieser mit seiner — Ramingens — Braut wechselte. Ein Blick, der eine Welt bedeutete. * (Fortsetzung folgt.)