Volltext Seite (XML)
MM » WMH Beilage zu Nr. 98. Sonnabend, 28. August 1909. Betrachtung für 42. Sonntag nach Trinitatis. Mark. 7, 31 - 37. Mit dem Worte „Hephata" öffnete der Herr Jesus im heutigen SonntagSeoangeltum dem armen Taubstummen Lippen und Ohr. Nun redete er recht und war mit unter denen, die den Herrn Jesus priesen. „Er hat alles wohlgemacht!" Nun hörte er als erste Worte die holdselige Rede deS Heilandes. Es soll auch für dich im übertragenen Sinn heißen Hephata: Oeffne deine Lippen mehr zu rechter Rede und dem Lobe Gottes! Oeffne deine Ohren mehr zu vernehmen die Worte des Herrn! Wie leicht öffnest du deine Lippen zu solcher Rede, die Gott nicht gefallen kann. Jakobus spricht im Heiligen Geiste von der Zunge: „Also ist die Zunge ein klein Glied und richtet große Dinge an. Siehe, ein klein Feuer, welch einen Wald zündets an! Und die Zunge ist auch ein Feuer, eine Welt voll Ungerechtigkeit usw.; schlage nur nach Jak. 3, 2-12!" Du würdest dich und das Leben noch nicht kennen wolltest du behaupten, diese Erfahrung mit der Zunge sei dir unbekannt. Wie leicht kommt auch über die deine Zunge ein Mißbrauch des Namen Gottes oder gar ein Fluchwort, eine Wort der du andere richtest oder gar ein Schimpfwort, ein Wort voll Unreinigkeit oder sittlicher Fäulnis. Da öffnete dir derselbe Herr Jesu, der im Evangelium dem Taubstummen die Rede überhaupt gibt so, daß er recht, das ist, richtig spricht, den Mund das du ihn brauchst zu Worten der Liebe gegen Gott und den Nächsten. Tu auf den Mund zum Lobe Gottes! Tu ihn auf zum Gebet! Tu ihn auf zum Bekennen des Namens deines Herrn! Rede recht! Halte cs mit dem Gebet: „Hilf, daß ich rede stets, wowit ich kann bestehen, laß kein unnützes Wort aus meinem Munde gehen! Und wenn in meinem Amt ich reden soll und muß, so gib den Worten Kraft und Nachdruck ohn' Verdruß!" Halte es mit dem Worte Pauli, Phil. 4, 8: »Was wahrhaftig ist was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem denket nach!" Hältst dus damit, dann mußt du aber auch deine Ohren mehr öffnen fürs Wort Gottes: Jener Taub, stumme also hörte zuerst die Worte voll Leben und Geist des Herrn Christus, du sorge dafür, daß dir diese Worte auch über alle anderen Worte gehen. Oeffne dein Ohr nicht den Reden loser Verführung oder faulen Geschwätzes, sondern der Rede, die wirklich nützt. Gehe dazu ins Gotteshaus, zu hören den Rat ver Seligkeit und den Weg des Heils für dich! Suche dazu gute Gesellschaft frommer Gotteskinder, die durch ihre Worte fördern auf dem Wege zum Leben! Der Herr Jesus macht da heute noch manchen, der erst taub, das ist unempfänglich war sür sein Wort, hörend: Er vernimmt das Wehen des heiligen Geiste» und gewinnt Lust und Liebe zu seinem Wort, und die Folge ist, daß dann auch wieder wie da- wals bei der Menge des Volkes sich öffnet der Mund zu des Herrn Preis, deS da rühmt: „Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprach losen redend!" Au» Sachsen. Wilsdruff, den 27. August. Der in Dresden lebende russische Maschinen ingenieur Arkady Jospee, der zurzeit noch Studien an der Technischen Hochschule obliegt, führte vor einigen Tagen auf dem Gelände der Technischen Hochschule in Charlottenburg sein neuerfundenes Flugmaschinenmodell dem Major von Parseval, dem Professor an der Charlottenburger Hochschule, Geheimrat Dr. Flamm, mehreren Vertretern der Siemens- und Schuckert-Werke und einem Kreis von Studenten der Hochschule vor. Das 4'/, Pfund schwere Modell flog trotz heftigen Gegenwindes eine weite Strecke und glitt, nachdem es einen Hain passiert hatte, sanft zur Erde. Geheimrat Dr. Flamm hat sich bereit erklärt, auf Grund der Probeversuche den Apparat des Erfinders Jospee ge meinschaftlich mit letzterem aus-.ubauen. Ebenso hat die Firma Siemens- und Schuckert-Werke durch den leitenden Ingenieur Dietzins dem Erfinder den Vorschlag gemacht, ein kleines Modell nebst Patentanmeldung einzusenden, um dem Erfinder den Bau des großen Apparates zu ermöglichen. Major von Parseval, der mit seiner Gattin ebenfalls den Probeversuchen auf dem Gelände der Technischen Hochschule in Charlottenburg beiwohnte, be glückwünschte den Erfinder zu seinem Erfolge und äußerte, daß er nimmermehr geglaubt habe, daß dieses Modell bei dem an jenem Tage herrschenden Sturme so fliegen würde. Jospee wird nunmehr an den Bau seiner Flug. Maschine herantreten, die er in Dresden erproben wird. — Vor Jahresfrist kam Jospee auf den Gedanken, den Vogelflug zu studieren, um einen Flieger zu konstruieren. Seine hierbei gefertigten Modelle hatten von Anfang an die richtige Balance und glitten langsam durch die Luft dahin. Dies ermutigte den jungen Ingenieur zu weiteren Versuchen, die er mit Hilfe der Technischen Hochschule unternahm. Sein Apparat wird gebildet aus zwei vorn angebrachten entgegengesetzt rotierenden Propellern und zwei gegeneinander geneigten Tragflächen. Um drei Personen mit einem 70 P.-S.-Antoinette-Motor vor wärtsgleiten zu lassen, muß der Apparat mit 120 Quadratmetern Tragfläche ausgestattet sein, bei einer Länge von 16. einer größten Breite von 14 und einer kleinsten von 7 Metern. Das Gewicht wird 500 Kilo gramm betragen, von dem 225 Kilogramm auf die Personen, 150 Kilogramm auf Motor und Getriebe und 125 Kilogramm auf das Gestell gedacht sind. Für die Rahmen wird wegen ihrer Länge nicht Aluminium, sondern Stahlrohr verwendet werden. Die zwei Propeller werden 1200 Touren in der Miünte machen. Bei den vor einer Kommission des Sächs. Kriegsmisteriums ausgeführten Probeversuchen wurde eine Fluglänge von 45 Metern erreicht. Zu Nutz und Frommen mancher Geschäftsleute sei folgender Fall mitgeteilt: Sitzen da verschiedene Gäste in Neustadt an einem Stammtische und unterhalten sich von dem schier unerschöpflichen Thema: „Die neuen Steuern". Auch von der Nachverzollung mit ihren Be lästigungen ist die Rede. Ein Gast aus Bischofswerda äußert dabei, daß bei den Nachverzollungen den Steuer beamten manches Schnippchen geschlagen werden könne, und seinem Verwandten, einem Kaufmann in Bischofswerda, sei es gelungen, einen Posten Kaffee, der Nachversteuerung zu entziehen. Unter den Gästen saß nun ein Steuer beamter in Zivil, der natürlich ob dieser Unvorsichtigkeit am Stammtisch sofort die Ohren spitzte, nach Bischofs- werda schrieb und dadurch Ermittelungen veranlaßte, deren Ergebnis die Angaben am Stammtische bestätigte. Bei dem betreffenden Kaufmann wurden denn auch 281 Kilo nicht nachverzollter Kaffe gefunden. Diese „Vergeß lichkeit" dürfte dem Betreffenden teuer zu stehen kommen, denn er muß die hinterzogene Steuer nachzahlen, das sind 56,20 Mark, dazu kommt als Strafe der vierfache Betrag der hinterzogenen Steuer, das macht 224,80 Mk. Endlich find die 281 Kilo Kaffee konfisziert worden. Veranschlagen wir den Wert desselben mit 500 Mark, so muß der Betreffende seine Vergeßlichkeit mit 781 Mk. büßen. Also: Vorsicht auch am Stammtische im fremden Orte. Auf schreckliche Weise hat sich der Bergarbeiter Buschmann in Freiberg ums Leben gebracht. Er hatte eine Dynamitpatrone in selbstmörderischer Absicht in den Mund genommen und sie dann zur Explosion gebracht. Mit völlig zerschmettertem Kopfe wurde er in einem Schuppen des von ihm bewohnten Hauses aufgefunden. Des Rückfallsdiebstahls in vier Fällen geständig und doch freigesprochen! Mit einem nicht alltäglichen Fall hatte sich die zweite Ferienstrafkammer des Chemnitzer Landgerichts zu beschäftigen. Aus dem Zuchthause in Delitsch i. Pr. vorgeführt, in dem sie zwei Jahre Strafe zu verbüßen hat, nahm die Prostituierte Lina Strauß aus Gablenz auf der Anklagebank Platz. Sie hatte sich selbst bezichtigt, im September 1908 in Gemeinschaft mit einem gewissen Straßberger drei und allein einen Laden diebstahl in Chemnitz in zwei großen Geschäftshäusern ausgeführt zu haben. Eine Menge Waren von großen Werte seien die Diebstahlsobjekte gewesen, die sie dann an andere Prostituierte verkauft habe. Die als Zeugen vernommenen Geschäftsführer der angeblich Bestohlenen erklärten die Unmöglichkeit der Ausführung von Diebstählen in solchem Umfange, auch fehlten die Waren nicht. Das Gericht erachtete das Geständnis der Strauß als un glaubhaft und erkannte auf Freisprechung. In der Urteilsbegründung wurde die Selbstbezichtigung der Strauß mit ihrem Wunsche erklärt, aus dem preußischen in das sächsische Zuchthaus zu kommen, wo die Behandlung besser sei. Der Streik der Schüler an der Deutschen Fachschule in Aue ist trotz der zwischen Schülerschaft und Kura torium getroffenen Vereinbarungen noch nicht beendet. Montag früh 7 Uhr fanden sich die Schüler wieder zum Unterricht ein. Nachdem die erste Stunde der zweiten Klasse vorüber war, erschien Direktor Meckert zum Unter richt. Nach Beendigung des Unterrichts verließen die Schüler wiederum die Schule, da sie sich mit der Be handlung durch Direktor Meckert nicht einverstanden erklären wollen und durch seinen Ton verletzt fühlten. Von 9 bis 10 Uhr erteilte Direktor Meckert Unterricht in der ersten Klaffe. Nach Ablauf der Stunde verließen auch die Schüler dieser Klaffe wieder die Schule. Die Schülerschaft beschloß darauf, fortan nur während der Unterrichtsstunden des Direktors der Anstalt fernzubleiben, Auf dunklen wegen. 64j Roman von E. Wagner. Nachdruck verboten. „Und Sie haben keine Idee, wo das Kavalierversteck ist?" fragte Lady Markham bedauernd. „Nein. Die Geschichte ist vielleicht nur eine Sage," antwortete der Marquis. „Lassen Sie uns in die Kapelle gehen," mahnte eine junge Dame. Lady Wolga ging voran. Das fröhliche Lachen und das heitere Geplauder verstummte, als die Gesellschaft die Schwelle überschritt und nun in dem matterleuchteten Bethause stand. In den Nischen, unter Altar und Kanzel lagen gespenstische Schatten und manches Mitglied der Gesellschaft beschlich ein heimliches Grauen. Die jüngeren Damen drängten sich zusammen und sprachen flüsternd; Lady Wolga aber schritt den Seiten gang entlang, blieb am Altar stehen und sah sich prüfend um. „Viele Generationen der Herons haben hier gebetet!" sagte sie und ihre Stimme, Heller und gebrochener als gewöhnlich, drang hallend durch den leeren Raum. „Die Kapelle sollte eigentlich nicht zu den Ruinen gezählt werden. Wir pflegten hier an regnerischen Sonntagen und im Winter Gottesdienst zu halten; es war damals alles in gutem Zustande." „Das ist es auch jetzt noch; doch wird hier kein Gottesdienst mehr abgehalten," erwiderte der Marquis. „Kein Diener betritt gern diesen Platz, sie glauben, daß es hier spukt." „Spukt! In einer Kirche!" „Die Dienstboten sind unwissend und abergläubisch. Da sie meinen, es spuke in den Ruinen, dehnen sie den Bann auf die Kapelle aus, vielleicht weil man, wenn man vom Schlosse aus iu die Kapelle will, die Ruinen passieren muß. Wir halten jetzt keinen Kaplan. Wir gehen zum Gottesdienst in die Dorfkirche, welche von den Montherons erbaut ist, wie Sie wissen. Dort liegen auch die jüngeren Mitglieder der Familie begraben." „Der ermordete Marquis mit ihnen denke ich?" Lord Montheron nickte stumm. Lady Wolga sah sich um. Die übrigen Mitglieder der Gesellschaft waren in die Ruinen zurückgekehrt und sie befand sich mit ihrem Bewerber allein. Sie schauderte leicht und ging einige Schritte der Tur zu. „Wie dieser Ort die Vergangenheit in meiner Seele wach ruft!" sprach sie. „Ich bemerke hier keine Ver änderung, die seit den 18 Jahren vorgenommen sein könnte. Wenn ich diese alten Mauern sehe, scheint es mir als müsse die Zeit still gestanden haben. 18 Jahre!" „Eine lange Zeit," bemerkte der Marquis; „aber sie ist über Sie hinweggegangen, wie ein milder Frühlings hauch, Lady Wolga. Sie waren damals sehr jung, un geachtet der Tatsache, daß Sie Gattin und Mutter waren. Jetzt ist ihre Schönheit zur Sommerpracht gereift. Die Knospe ist zu einer herrlichen Rose erblüht!" Seine leidenschaftliche Sprache brachte eine leichte Nöte auf den Wangen der Lady hervor. Sie ging bis zur Hälfte des Seiteuganges hinab, wo sie wieder stehen blieb und sich umwandte. Sie stand dem Marquis und dem geschlossenen Familienstuhl der Montherons gegenüber, während der Marquis das Gesicht der Tür zugekehrt hatte. Ihre Augen schweiften von ihrem Bewerber auf die Gardinen des Stuhls und von diesem zu jenem. Sie fühlte sich unbehaglich und unruhig, als ob etwas Außerordentliches geschehen müsse. Der Wind brauste schauerlich um die Mauern und schlug die losen Epheu- ranken und den Regen heftig gegen die Fenster. „Eine unheimliche Nacht," stieß Lady Wolga ganz unwillkürlich hervor, indem sie den Mantel fester an sich zog. „Für mich nicht," versetzte der Marquis. „Ich höre Wind und Regen, aber ihr Toben hat für mich nichts Unheimliches. Ihre Gegenwart ist mir Sonnenschein, Wolga. Ich fürchtete, Sie würden heute nicht kommen und da sie es doch getan, macht es mich zum glücklichsten Menschen. Nichts schärft den Appetit zur Freude mehr, als eine vorhergegangene Portion Elend " „Dann müßte ich großen Appetit zur Freude haben," sagte Lady Wolga bitter. „So!" rief der Marquis ungläubig. „Sie sehen aus, als ob Sie nie Kummer und Sorge gehabt hätten. Man sollte meinen, Ihr ganzes Leben sei nur Freude gewesen. Gewiß, ich weiß, was sie gelitten haben mögen, aber die Welt kann es nicht wissen. Nicht ein Silberfaden durch zieht ihr dunkles Haar; nicht eine Falte ist auf dieser schönen Stirn sichtbar. Sie sehen nicht über 25 Jahre aus." „Danke," sagte Lady Wolga heiter. „Die Frauen lieben es zu hören, daß die Zeit sie vergessen hat. Die Frauen in meiner Familie bewahrten stets ihr jugendliches Aussehen bis zu einem hohen Alter, was davon kommt, wie ich habe sagen hören, daß wir herzlos sind. Menschen mit Herzen sind den Leiden am meisten ausgesetzt und die Leiden sind gar zu geneigt, ihre Spuren zurückzulassen." „Aber Sie sind nicht herzlos, Wolga." »Ich? Nein, ich bin es nicht!" rief Lady Wolga lebhaft; aber ich trage mein Herz nicht zur Schau, bannt es nicht den Schwätzern und Spöttern zur Beute Lord Montheron trat ihr einen Schritt näher.