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No. 36. PAPIER-ZEITUNG. 917 Buchgewerbe. Druckindustrie, Buchbinderei, Buchhandel. Sachliche Mittheilungen finden kostenfreie Aufnahme; Mitarbeiter und Berichterstatter erhalten angemessene Bezahlung. Eingesandte Werke finden Besprechung. Allerlei Zettel. (Schluss zu Nr. 35) Zu den beweglichen Zetteln gehören ferner diejenigen, welche man gelegentlich in Schaufenstern angebracht sieht; z. B.: »Lehr mädchen gesucht«, — »Täglich frischer Spargel , — »Bestellungen auf Plissee-Arbeit werden entgegengenommen«, usw. Zettel zur Gattungs bezeichnung der ausgelegten Waaren und Angabe der Preise werden vielfach mit Patentbuchstaben hergestellt, die überhaupt bei vereinzelt auftretenden Zetteln eine grosse Rolle spielen und selbst in Buch druckereien bei passender Gelegenheit gern verwendet werden. Eine besondere Gruppe, deren wechselnde Erscheinungsformen oft grossen Einfluss auf die Gestaltung des Strassenbildes ausüben, sind die »wandernden Zettel.« Zehn bis zwölf ernsthafte Leute in blauen Blusen mit farbigen Halstüchern, ein »hohes C« auf dem Kopf, wandern z. B. in langer Reihe die Strasse entlang. Jeder trägt auf seinen Schultern ein Gerüst mit einem grossen grellfarbigen Indianerbilde und einer Einladung zu Buffalo Bill’s Wild West. Aehnlicher beweglicher Ankündigungen bedie nen sich neue Bier häuser, verschämte Cafe’s mit Damen- bedienung - und, beson ders um die Mittags zeit, die grossen Ab fütterungsanstalten »ä la Bouillon Duval«. Selbstverständlich sind diese Vertreter der Strassenreklame auf den Fahrdamm ver wiesen, wo sie in fort gesetzter Bewegung sein müssen und nicht stillstehen dürfen. Neuerdings bedient sich auch die in Berlin ausserordentlich rüh rige Agitation zur Einführung des Zonentarifs der wandernden Reklame zettel. Die Reklame männer des Vereins »Zonentarif« tragen auf Brust und Rücken grosse, auf Pappe ge zogene Plakate mit der weithin sicht ¬ baren Inschrift: »Die Eisenbahn ist viel zu theuer, — den Zonen- tarif müssen wir haben!« Sie verkau fen gleichzeitig zum Preise von 10 Pf. eine Druckschrift, in der Ziele und Aussichten des Zonentarifs dar gelegt werden. Aehn licher Mittel bedient sich die Berliner Woh- nungs - Zeitung, die zahlreiche Knaben in der oben stehend ge zeigten Ausrüstung durch die Strassen sendet und von den selben die Zeitung an Wohnungsuchende vertheilen lässt. Seit einiger Zeit sieht man oft einen mit phantastischen Erkern und Thürmehen aufgeputzten Wagen lang sam durch die Hauptstrassen Berlins fahren, ganz mit farbigen Plakaten überzogen, der abends von innen erleuchtet wird. Während der Fahrt ertönt unausgesetzt durchdringendes Gebimmel. Es ist der Reklathewagen von F. von Schirp. Er erregt Aufsehen und würde seinen Zweck erfüllen, wenn man nur beim Vorübergehen die Inschriften auch lesen könnte! Am höchsten auf der Stufenleiter der Zudringlichkeit stehen die jenigen Zettel, die dem Vorübergehenden in die Hand gedrückt werden. In der Friedrichstrasse, der grössten »Bummelstrasse« Berlins, stösst man oft von zehn zu zehn Schritt auf Zettelvertheiler, und der Bürger steig ist dort mit fortgeworfenen bunten Zetteln oft ebenso besät, wie die »grossen« Haltestellen der Pferde bahnen. Was uns hier mit geheimniss voller Miene angeboten wird, sind Em pfehlungen kleinerer »Tingeltangel« und jener meist in den ersten Stockwerken der Berliner Biergegend belegenen Kneipen mit rothen und grünen La ternen, halberleuchteten Nischen, schall dämpfenden Teppichen, hohen Wein preisen und mehr oder weniger hübschen Kellnerinnen mit keineswegs bescheidenen Trinkgeld-Ansprüchen. Der ansässige Berliner verläuft sich nur äusserst selten in einen derartigen Raum, — er weiss seine Ansprüche auf die Freuden des Lebens besser und billiger zu befriedigen — dagegen strömen lebenslustige Provinzler in hellen Schaaren hinein, und wenn sie wieder heraus kommen, wundern sie sich, dass man in Berlin fragwürdige Leistungen in Speise, Trank und »freundlicher Bedienung« so theuer bezahlen muss. Während die Vertheiler der lockenden Bierhaus-Zettel schweigend ihres Amtes walten, haben die Verkäufer von Extrablättern noch das Vorrecht, ihre Stimme ertönen zu lassen. »Neustes! — Neu stes!« ist ihr Schlachtruf, der mit dröhnendem Schall die Strassen durchdringt, besonders kräftig dann, wenn kein Schutz mann in der Nähe ist. Meist hört man freilich nur einen langen vokalischen Laut, der etwa so klingt wie »oiä« oder »äuhä« mit kräftigem Ton auf der ersten Silbe, aber der Berliner ist für solche Laute geschult und weiss, ohne ein deutliches Wort zu verstehen, genau, ob Sand, frische Kirschen oder Extrablätter ausgerufen •werden. Das Geschäft in Extra blättern ist etwas in Misskredit gerathen, seitdem mehrfach alte, längst allgemein bekannte Nach richten durch Extrablatt ver breitet wurden, und das Wort von den »Dummen, die nicht alle werden«, mit Bezug auf Extrablatt-Käufer im Reichs tage fiel. Viele kaufen grund sätzlich keine Extrablätter mehr, zumal in unseren ruhigen Zeiten aufregende Nachrichten kaum erwartet werden. Man geduldet sich einige Stunden, und liest dann alles viel ausführlicher im Abend- oder Morgenblatt! Einen sehr freundlichen Anstrich wusste der Papierwaarenhändler und Papierblumenfabrikant M. Alexander, dessen Erzeugnisse wir im Jahrgang 1890, Seite 2436 besprachen, der Zettelvertheilung zu geben. In der Nähe seines Ladens in der Friedrichstrasse spaziert ein nied licher, in eine Art von Tirolertracht gekleideter Knabe auf und ab. Er trägt einen grossen prächtigen Blüthenzweig, der ganz aus Papier blumen nach Alexanders Vorschrift gearbeitet ist, und vertheilt Pro spekte für eine Anleitung zur Selbstanfertigung künstlicher Blumen. Zettelvertheiler anderer Art, vielfach auch Zettelvertheilerinnen, sieht man an Sonntagen auf Droschkenhaltestellen, an Bahnhöfen und Ankerplätzen der Spreekähne. Sie stellen den Kutschern, Schaffnern und Schiffern, die Dienst haben, also nicht zur Kirche können, eine gedruckte Predigt zu. Diese Zettel, die schon ein wenig den salbungtriefenden Traktätchenstil zu vermeiden wissen und dann und wann ganz hübsche Anläufe zu gesunder Volksthüm- lichkeit nehmen, werden meist gern entgegengenommen, und wer zum Lesen keine Zeit hat, steckt sie vorläufig in die Tasche.