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PAPIER-ZEITUNG. 781 Buchgewerbe. Druckindustrie, Buchbinderei, Buchhandel. Sachliche Mittheilungen finden kostenfreie Aufnahme; Mitarbeiterund Berichterstatter erhalten angemessene Bezahlung. Eingesandte Werke finden Besprechung. Deutsche Papier-Industrie. (Fortsetzung zu Nr. 1 von 1890.) Bilderbogen-Fabrikation und Chromolithographie in Neu-Kuppln. Es dürfte im Deutschen Reiche nur wenige Ortsnamen geben, die so allgemein bekannt sind wie der des märkischen Städtchens Neu-Ruppin. Mit Bezug auf die Geläufigkeit seines Namens kann sich Neu-Ruppin neben Heidelberg oder Bayreuth stellen, während es nach seiner geschäftlichen Bedeutung und seiner Einwohnerzahl etwa mit Luckenwalde oder Treuenbrietzen in eine Reihe gehört. Diesen ungewöhnlichen Ruf verdankt die Stadt einer eigenartigen Industrie, die mit Papierfabrikation und Druckgewerbe in engem Zusammenhang'steht: der Bilderbogenfabrikation. Beinahe Jeder hat wohl als Kind mit jenen grellbemalten Bilder bogen oder Bilderbüchern gespielt, mit denen Neu-Ruppin die halbe zivi- lisirte und unzivilisirte Welt versieht. Der Neu-Ruppiner Bilderbogen wandert nicht allein nach dem skandinavischen Norden, nach Belgien und Holland, Ungarn und Spanien, sondern auch nach fernen Erdtheilen. »Gebiete, die Barth und Overweg, Richardson und Livingstone erst aufgeschlossen,« sagt Theodor Fontane in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg bei der Schilderung Neu-Ruppins, »sie waren vom Kühn’schen Bilderbogen bereits vorher erobert; er war den Reisenden vorausgeeilt und hatte längst vor ihnen dem Innersten von Afrika von einer Welt da draussen erzählt.« — Er flieht die Ge genden, drin der Kupferstich und das Oelbild vorwalten, aber wo die Glaskoralle und der Zahlpfennig ein staunendes „Ach“ und die Begierde nach Besitz wecken, da ist er zu Haus. Theodor Fontane, der selbst ein geborener Neu-Ruppiner ist, hat die Eigenart dieser Bilderbogen schon vor 30 Jahren treffend ge kennzeichnet, und was er über ihre Bedeutung als Zeitspiegel damals schrieb, behielt, abgesehen von veränderten Namen und Jahreszahlen, noch lange nachher seine Giltigkeit: »Lange bevor die erste illustrirte Zeitung in die Welt ging«, so sagt er in seinen Wanderungen, illustrirte der Kühn’sche Bilderbogen die Tagesgeschichte; und was die Hauptsache war, diese Illustration hinkte nicht langsam nach, sondern folgte den Ereignissen auf dem Fusse. Kaum, dass die Trancheen vor Antwerpen eröffnet waren, so flogen in den Druck- und Kolorirstuben zu Neu-Ruppin die Bomben und Granaten durch die Luft; kaum war Paskiewitsch in Warschau eingezogen, so breitete sich das Schlachtfeld von Ostrolenka mit grünen Uniformen und polnischen Pelzmützen vor dem erstaunten Blick der Menge aus, und tief sind meinem Gedächtnisse die Dänen eingeprägt, die in zinnoberrothen Röcken vor dem Dannewerk lagen, während die preussischen Garden in Blau auf Schleswig und Schloss Gottorp losrückten. Dinge, die keines Menschen Auge gesehen, -— die Zeichner und Koloristen zu Neu-Ruppin haben Einblick in sie gehabt, und der Birkenhead«, der in Flammen unterging, der »Präsident«, der zwischen Eisbergen zertrümmerte, das Auge der Ruppiner Kunst hat darüber gewacht. Andre, ähnliche Unternehmungen sind seitdem ins Dasein getreten, der Münchener Bilderbogen hat seine Welttour gemacht, Winkelmann & Söhne haben durch Abbildungen von Stauf facher, Franz Moor und Jungfrau von Orleans der dramatischen Kunst die Schleppe getragen, aber was immer ihre Erfolge gewesen sein mögen, sie haben sich schlechter auf den Geschmack des grossen Publikums verstanden und haben die rechte Stunde mehr als einmal versäumt. Da liegt es. In jedem Augenblicke zu wissen, was oben- aufschwimmt, was das eigentlichste Tagesinteresse bildet, das war unausgesetzt und durch viele Jahrzehnte hin Prinzip und Aufgabe der Ruppiner Offizin. Und diese Aufgabe ist glänzend gelöst worden, so glänzend, dass ich Personen mit sichtlichem Interesse vor diesen Bildern habe verweilen sehen, die vor der künstlerischen Leistung als solcher einen unaffektirten Schauder empfunden haben würden. Aber die Macht des Stoffes bewährte sich siegreich an ihnen, und sie zählten, wie ich selbst, mit leiser Befriedigung die Leichen der ge fallenen Dänen, ohne sich in ihrem künstlerischen Gewissen irgend wie bedrückt zu fühlen.« Wenn dieses rasche Aufgreifen und Verwerthen von Tages ereignissen in der jüngsten Zeit nicht mehr so augenfällig ist wie früher, so kommt dies vielleicht daher, dass wir - glücklicherweise — seit Jahren keine Vorgänge von der bluttriefenden Bedeutsamkeit der vorerwähnten mehr erlebt haben. Vielleicht ist man auch in Neu- Ruppin gewissenhafter geworden als früher und verschmäht es jetzt, die Pfade zu wandeln, welche der berühmte Wippchen in Bernau in seinen Kriegsberichten einschlug. Die Vorliebe der Jugend für die bunten Bilderbogen jedoch ist dieselbe geblieben. Sie dürfen in keiner Papierhandlung der deutschen Klein- und Mittelstädte fehlen, und auch in den Vorstädten Berlins sind sie ein vielbegehrter Verkaufsgegenstand. Kunstwerke sind es auch heut noch nicht, — das wird der kunstbegeistertste Neuruppinei' Lithographenlehrling nicht zu behaupten wagen, — aber sie üben nach wie vor einen mächtigen Zauber auf die Phantasie unserer Kleinsten, und tragen für lächerlich geringe Gegenleistung einen Strahl harmloser Freude in die Hütten der Armuth. Mit demselben Stolz, welcher den reichen Mann erfüllt, der in seinen Wohnräumen einen echten Menzel oder Knaus hängen hat, schmückt der Bauernknecht seine Stallthür, der Grenadier seine Kammerwand mit den farbenreichen Bilderbogen. Was der urkomische Bendix ersann, oder Ludolf Waldmann komponirte, erscheint bald gerftig im bunten Gewände der Neuruppiner Bilderbogen und dient als erheiternder Wandschmuck von Werkstätten und Schlafstellen. Fast alle Gassenhauer sind illustrirt: Hirsch in der Tanzstunde, die kleine Fischerin, die schöne Susanne, die nicht minder schöne Jule, und, wenn ich nicht irre, sogar schon die verloren gegangene Alma, nach der stimmkräftige Komiker in mindestens drei Berliner Singspiel hallen allabendlich forschten: »Alma! — wo mag das Mädchen sein?« Die Verse werden, da unmittelbarer Nachdruck oft nicht statthaft ist, mit mehr oder minder grossem Geschick »umgedichtet«, so dass oft nur der Kehrreim an das ursprüngliche Lied erinnert. Einige Mittheilungen über Fabrikations-Einzelheiten, welche wir in letzter Zeit theils aus fremder Quelle schöpften, theils aus Neu- Ruppin selbst erhielten-, waren Veranlassung, dass wir uns um genauere Mittheilung über den interessanten Fabrikationszweig be mühten. Der Schreiber dieser Zeilen unternahm eine kleine Studien reise nach Neu-Ruppin und fand in den dortigen graphischen An stalten bereitwilliges Entgegenkommen. Was er dort sah und erfuhr, soll im Nachstehenden mitgetheilt werden. Es giebt in Neu-Ruppin zwei grosse graphische Anstalten: Gustav Kühn und Oehmigke & Riemschneider. Die Firma Gustav Kühn ist die ältere. Sie wurde im Jahre 1775 von Johann Bernhard Kühn gegründet und hat vor 16 Jahren ihr hundertjähriges Jubelfest gefeiert. Die Firma Oehmigke & Riemschneider ist jünger, blickt aber auch schon auf den achtbaren Bestand von etwa 60 Jahren zurück. Im Hand-Koloriren der Neu-Ruppiner Bilderbogen ist anscheinend ein gewisser Stillstand eingetreten. Verschiedene Anzeichen sprechen dafür, dass diese Industrie ihren Höhepunkt schon überschritten hat, und dass die Zukunft der Bilderbogen-Herstellung mehr auf dem Gebiet der Maschinenarbeit liegt. Es wird vermuthlich eine Zeit kommen, wo Farbensteindruck, oder, was wahrscheinlicher ist, F arben- buchdruck an die Stelle des Hand-Schablonirens tritt. Ansätze in dieser Richtung sind, wie wir später sehen werden, schon vorhanden, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass man im kommenden zwanzigsten Jahrhundert in Neu-Ruppin die gegenwärtig noch blühende Kolorir- technik nur noch vom Hörensagen kennen wird. Zu den Umständen, welche auf diese Umgestaltung der Neu- Ruppiner Bilderbogen-Industrie hinwirken, gehören in erster Linie die eingetretenen Aenderungen in den Absatzgelegenheiten. Als beste Kunden der Neu-Ruppiner Anstalten galten früher die Lumpen sammler, — nicht die Kehrichtdurchsucher, welche der Berliner unter dem Namen »Naturforscher« kennt, sondern jene fleissigen Mitarbeiter der Papier-Industrie, welche von Dorf zu Dorf ziehen und alte Leinenlumpen gegen allerlei glänzenden billigen Trödelkram eintauschen. In früherer Zeit standen Neu-Ruppiner Bilderbogen als Tauschgegen stände gegen Lumpen in hohem Ansehen. Für ein Päckchen Lumpen brauchte der »Lumpenmatz« nicht einmal einen ganzen Bilderbogen her zugeben, sondern er nahm die Scheere und schnitt aus dem kostbaren Blatt ein buntes Bildchen heraus. Jetzt sind auch die Dorfkinder an spruchsvoller geworden. Die bunten Bogen haben keinen rechten Kurs mehr, und die süssen Barfüssler wollen »Oblaten« haben, d. h. farbige Reliefbilder, oder ganze Bilderbücher, oder kleine »Oelbilder«, d. h. verunglückte Chromodrucke. Die Lumpensammler führen daher statt der Bilderbogen jetzt meist Reliefbilder und Chromo-Ausschuss. Als weiteren Grund für den geringeren Verbrauch der billigen gemalten Bilder eine Hebung des Geschmacks in den unteren Volks schichten anzunehmen, dürfte gewagt sein, denn die erwähnten Relief- und Chromobilder stehen künstlerisch meist auf keiner höheren Stufe, als die Neu-Ruppiner Bilderbogen, höchstens sind sie technisch etwas glatter und sauberer ausgeführt. Beeinträchtigend auf die Bilderbogenfabrikation nach alter Art wirkt aber die gegenwärtig im Fluss befindliche Arbeiterschutz gesetzgebung. Bisher erfolgte das Koloriren in der Weise, dass ein Kolorist eine grössere Zahl von Bilderbogen zum Antuschen erhielt und seinerseits billige Arbeitskräfte, namentlich Kinder, anstellte, deren Mitarbeit bei