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N,21 Mitscherlich-Patentstreit. Die Ausführungen des Herrn Professor Gareis (wovon in Nr. 19 d. Bl. ein Auszug erschien) gipfeln in folgenden Sätzen: I. Chemische Stoffe können als solche nicht patentirt werden, sondern nur ein bestimmtes Verfahren zur Herstellung desselben; 2. Prof. Mitscherlich hat ein Patent behalten auf ein Verfahren zur Herstellung von Gerbstoff und Essigsäure durch Behandlung des Holzes mit doppeltschwefligsaurem Kalk; die weiteren, in der Patentschrift angegebenen Verfahrens momente zur Gewinnung des Gerbstoffes und der Essigsäure aus der nach dem Kochen des Holzes resultirenden Flüssigkeit sind für das Patent unwesentlich, weil sie ganz bekannte Operationen darstellen, welche unbedeutend, nebensächlich und substituirbar sind; 3. folglich darf dieses Verfahren zur Behandlung des Holzes ohne Erlaubniss des Patent inhabers nicht angewendet werden, ohne da durch eine Patentverletzung zu begehen, — gleichgültig, welche Stoffe durch das genannte Verfahren hergestellt werden. Dieser Gedankengang ist genau derselbe, welchen ich selbst vor dem Patentamte und dem Reichs gerichte vertreten habe, nur mit dem selbstver ständlichen Unterschiede, dass ich statt des Punktes 3 behauptete, das genannte Verfahren sei nicht neu; es müsse daher der ganze Patentanspruch I ver nichtet werden, wenn auch in demselben noch andere Stoffe als in den Tilghman sehen Be schreibungen genannt seien. Das Patentamt ist nun in der That dieser Auf fassung in vollem Umfange beigetreten und hat dementsprechend die Nichtigkeit des ganzen Patent anspruchs I ausgesprochen. Das Reichsgericht dagegen hat zwar gleichfalls angenommen, dass die Operation bis zur Be endigung des Kochprozesses bei Tilghman ebenso deutlich, ja noch klarer beschrieben ist, wie in der Mitscherlich’schen Patentschrift; dagegen ist der höchste Gerichtshof nicht der Ansicht des Patentamtes und des Herrn Prof. Gareis, sowie der meinigen, beigetreten, dass die mit der resul- tirenden Flüssigkeit von Mitscherlich vorgenomme nen Operationen unwesentlich und ohne Einfluss auf die Patentfähigkeit seien. Dies geht aus den Gründen klar hervor: »In allen wesentlichen Momenten stimmt das Verfahren des Beklagten derartig mit dem in den englischen Patentschriften klargelegten über ein, dass es ersichtlich nicht auf einer neuen originellen Kombination beruht, mithin nicht als eine neue Erfindung im Sinne der §§ 1 und 2 des Patent-Gesetzes gelten kann.« »Es geht schliesslich aus dem Inhalt der deutschen Patentschrift 4179 hervor, dass nicht nur der Anfangszustand der macerirenden Flüssig keit, sondern auch der Endzustand, nachdem die Reaction auf die faserige Substanz beendigt ist, bei dem in den englischen Patenten be schriebenen Verfahren und dem Verfahren des Beklagten derselbe ist.« »Dass dagegen die in jener Entscheidung ausgesprochene Nichtigkeitserklärung des D. R. P. 4179 nicht gerechtfertigt sei, insoweit dieses Patent für den Anspruch 1 der betr. Patent schrift in Bezug auf ein Verfahren zur Be reitung von Gerbstoff und Gewinnung von Essigsäure ertheilt ist, folgt aus der Erwägung:« I 2. dass der Beklagte ausweislich der Schrift des D. R. P. 4179 zur Gewinnung des Gerb stoffes, als auch der Essigsäure, das von Tilghman zu anderen Zwecken erfundene Verfahren mit weiteren, wenn auch an und für sich be kannten Verfahrensmomenten mittels einer neuen originellen Konzeption kombinirt, und so »ein neues bestimmtes Verfahren zur Bereitung von Gerbstoff und Gewinnung Von Essigsäure im Sinne der §§ 1 und 2 des Patent-Gesetzes er funden und keineswegs nur entdeckt hat, dass in dem Produkte des durch Tilghman erfundenen Verfahrens Stoffe befindlich seien, deren Existenz PAPIER-ZEITUNG. dem Tilghman nur nicht zum Bewusstsein ge kommen sei.« Das Reichsgericht theilt danach die in dem Mitscherlich’schen Patentanspruch I genannten Stoffe in 3 Klassen ein: 1. in solche, welche auch Tilghman als durch sein Verfahren herstellbar genannt hat: Cellulose und Klebestoff; 2. in bei Tilghman zwar nicht genannte, von Mitscherlich jedoch nur in der resultirenden Koch flüssigkeit entdeckte, ohne dass von Letzterem ein besonderes Verfahren zur Gewinnung aus der ge nannten Flüssigkeit angegeben ist: Gährbare Flüssigkeit; (Soweit das Verfahren in Mitscherlich’s Patent anspruch I, also durch die Stoffe dieser beiden Gruppen, charakterisirt wird, ist es patentrechtlich nichtig erklärt worden.) 3. in solche Stoffe, für deren Darstellung Mitscherlich insofern ein neues Verfahren erfunden hat, als er das bekannte Tilghman’sche dadurch erweitert hat, dass er die resultirende Kochflüssig- keit weiter verarbeitet und dadurch eine neue originelle Kombination geschaffen hat: Gerbestoff und Essigsäure. Dasjenige Verfahren also, welches durch diese beiden ad 3 genannten Stoffe charakterisirt wird, ist patentrechtlich geschützt geblieben und stellt also ein Kombinationspatent dar, von wel chem der bekannte Theil der gesammten kombi- nirten Operation, welcher durch die Herstellung der Cellulose, der Klebestoffe und der gährbaren Flüssigkeit charakterisirt wird, gemeinfrei ist. Diese ganze Sachlage geht so einfach und klar aus den Gründen des reichsgerichtlichen Urtheils hervor, dass man sich wundern muss, wie Jemand überhaupt zu einer andern Auslegung gelangen kann. In der That ist dies auch nur dadurch möglich, dass Herr Professor Gareis die Urtheils- gründe nicht in Betracht kommen lassen will, indem er behauptet, sie hätten keine Rechtskraft; ja er schärft schon jetzt den Gerichten ein, sie hätten keine Rücksicht auf die Gründe zu nehmen, sondern sich nur an den Tenor des Urtheils zu halten. Andere Rechtslehrer von ebenso hoher Autori tät, wie Herr Prof. Gareis, theilen nun freilich diese Auffassung nicht, sondern sind der Meinung, dass, wenn auch die Urtheilsgründe des Reichs gerichts nicht insoweit einen integrirenden Theil des Urtheils bilden, dass sie, wie das Urtheil selbst, dauerndes Recht, unabhängig von diesem einzelnen Falle, schaffen, sie in dem vorliegenden Prozesse doch ein organisches Glied der Entscheidung bil den, welches nicht nach Belieben jedes einzelnen Richters davon losgelöst werden kann. Es ist freilich klar genug, wesshalb Herr Prof. Gareis die Urtheilsgründe nicht brauchen kann; sie widerlegen eben in unzweideutiger Weise seine Interpretation des Urtheilstenors. Da nun aber die Gründe eines Urtheils naturgemäss Das jenige erläutern, was der Richter in seinem Ur theile hat ausdrücken wollen, so sind die Aus führungen, die Herr Prof. Gareis in seinem Rechts gutachten macht, nichts weiter, als ein Versuch, nachzuweisen, dass das Reichsgericht das Gegen theil von dem gesagt hat, was es hat sagen wollen. Glaubt Herr Prof. Gareis, dass er mit diesem Vorwurf, erhoben gegen den höchsten Ge richtshof, grossen Beifall bei diesem finden wird ? Und sieht Herr Prof. Gareis nicht, dass er mit seiner Dialektik einen Hieb in die Luft macht, da doch schliesslich die jetzt schwebenden Pro zesse über die Tragweite des Nichtigkeitsurtheils von denselben Richtern entschieden werden, welche das streitige Urtheil gesprochen haben? Sollten diese sich nicht vielmehr an die Meinung halten, die sie selbst bei Abfassung des Urtheils gehabt, als an diejenige, welche Herr Prof. Gareis hinein- interpretirt ? Herr Prof. Gareis sagt in § I seines Gutach tens, es solle durch dasselbe in den von ihm er örterten theoretischen Fragen ebensosehr im wissen schaftlichen wie im praktischen Interesse Einstim migkeit erzielt werden. Einstimmigkeit bei wem? Nichtjuristen wird er wohl schwerlich dazu ver- 763 mögen, im vorliegenden Falle das Wort von der damit verknüpften Absicht zu trennen. Oder Einstimmigkeit bei Juristen?! Dann könnte sich der Herr Professor wohl noch mit mehr Aussicht auf Erfolg um die Entdeckung des Steines der Weisen oder die Erfindung des perpetuum mobile bemühen. Zur vollständigen Beurtheilung der vorliegenden Streitfrage dürfte es zweckmässig sein, äusser der in Vorstehendem behandelten rein juristischen, noch die chemische Seite der Sache ins Auge zu fassen: Herr Prof. Mitscherlich hat selbst und durch seine chemischen Gutachter im Laufe des Nich tigkeitsprozesses in beiden Instanzen den von ihm in seinem Patente gebrauchten Ausdruck »soge nannter doppelt schweflig-saurer Kalk« dahin de- finirt, dass darunter eine Verbindung von 2 Aequ. schwefliger Säure mit 1 Aequ. Kalk zu verstehen sei. Nun haben aber infolge dieser Behauptung mehrseitig angestellte Untersuchungen, auch von Seiten der Experten des Reichsgerichtes (Papier-Ztg. 6. November 1884), ergeben, dass eine solche konstante chemische Verbindung gar nicht existirt; vielmehr verlangt das Monosulfit zu seiner Lösung verschiedene Mengen von schwef liger Säure, je nach dem Grade der Konzentration, und in der Praxis wird stets mit einem Ueber- flusse von schwefliger Säure gearbeitet, also mit einem andern Aufschliessungsmittel als dasjenige, welches nach der eigenen Definition des Prof. Mitscherlich diesem patentirt ist. Endlich möchte ich noch einen Blick werfen auf eine dritte Seite der Streitfrage, welche ich die »ethische Seite« nennen möchte: »Der Gerbestoff und die Essigsäure,« welche nach der Meinung des Herrn Prof. Gareis am besten zur Charakterisirung des patentirten Ver fahrens geeignet sind, sind niemals von Herrn Prof. Mitscherlich im Grossen dargestellt worden; das Verfahren gestattet auch eine gewerbliche Verwerthung (§ I Pat.-Ges.) in dieser Richtung gar nicht, weil sich in der resultirenden Koch flüssigkeit nurso geri nge Spuren der genannten Stoffe finden, dass an eine rentable Darstellung im Grossen gar nicht zu denken ist. Aus diesem Grunde hatte ich in dem Rechtsstreite den Even tualantrag auf Zurücknahme des Patentes (§ 11 Pat.-Ges.), soweit es sich auf die Stoffe äusser der Cellulose bezieht, gestellt und denselben in der Schlussverhandlung auf Befragen des Präsidenten nur zuzückgezogen, weil er ein materielles Interesse für die Industrie nicht hatte, und ich die Entscheidung über die wichtige Seite des Streites, die Freigabe der Cellulosebereitung, nicht verzögern wollte. Hätte ich freilich geahnt, dass nach der klaren Frage des Präsidenten, ob ich meinen Antrag auf Zurücknahme fallen lassen wolle, wenn die Cellu losebereitung frei gegeben würde, sich noch ein solcher Streit Uber die Tragweite des Patent- Torso erheben könnte, so würde ich meinen An trag aufrecht erhalten haben. So soll also jetzt ein Patent, welches vor der theilweisen Nichtigkeitserklärung eine wunderbar übereinstimmende Kopie eines bekannten Ver fahrens war, — und nach der theilweisen Nichtig keitserklärung ein Scheinpatent geworden ist, insofern es ein, mittels einer gar nicht existirenden Macerationsflüssigkeit zu betreibendes, gewerblich unverwerthbares Verfahren beschreibt, — ein solches Scheinpatent soll dazu benutzt werden, um einen grossen Industriezweig fortdauernd zu irritiren und im Fortschreiten zu hindern, sowie dem Patentinhaber enorme Vortheile zuzuführen, auf welche er weder gesetzlich noch moralisch Anspruch machen kann! Und einer solchen Sache leiht Herr Prof. Gareis seine gelehrte Hilfe! Varzin, d. 16, Mui 188o. M, Hehrend, Wahrheiten erscheinen zuerst nur wie Wolken, verdichten sich danu zu Kegen, und schaffen dann Ernte und Nährstoff. Die in einem Jahr hundert mühsam errungenen geistigen Fort schritte gelten im folgenden schon als uner lässliche nothwendige Kenntnisse.