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55, 8. März 1909. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchha ndel. 2891 ein mag, — man kommt nicht über die Tatsache hinweg, daß das Deutschtum hier Schritt für Schritt unterlegen ist. Nur ein Bollwerk steht noch, das bisher der slavischen Über flutung stolz widerstanden hat, das ist die deutsche Wissenschaft in Verbindung mit den deutschen Hochschulen und — dem deutschen Buchhandel. Wenn man sieht, was an deutscher Geisteskultur hier — und in Böhmen überhaupt — verbreitet wird und was in Form von Übersetzungen und Nachahmungen in der tschechischen Literatur Aufnahme gefunden hat, so muß man eben wieder die alte Wahrheit feststellen, daß alles, was die Tschechen an Bildung, Wissen und Kultur besitzen, sie einzig ihren Todfeinden, den Deutschen, zu verdanken haben. Obgleich ich kein genaues Material zur Hand habe, so bin ich doch sicher, daß mindestens 70 Prozent der gesamten tschechischen Literatur Übersetzungen aus dem Deutschen .sind, die übrigen dreißig Prozent verteilen sich auf englische, französische und russische Literatur, und nur ein sehr geringer Bruchteil dürfte als tschechische Originalerzeugnisse anzusprechen sein. Immerhin eine, wenn auch nur ideelle Genugtuung für den Deutschen. Dem böhmischen Verleger ist es infolgedessen in mancher Beziehung leicht gemacht; er hat nicht die bangen Sorgen, ob das Werk seines Autors einschlagen wird oder nicht. Er hat die Wahl zwischen all den guten Werken, die in ihrem Lande bereits den Weg zum Erfolg gefunden haben; was dort Anklang und Absatz gefunden hat, das, so kalkuliert er wohl meistens richtig, wird sich auch in Böhmen als zugkräftig erweisen. Nun muß allerdings bemerkt werden, daß ein derartiger Zustand auch leicht zur Überproduktion führen kann, denn bei den zahl reichen erfolgreichen Werken, die jahraus, jahrein bei den verschiedenen Nationen auf deu Büchermarkt kommen, ist man zur Herausgabe eines Buches bald entschlossen; aber schließ lich ist doch das Absatzgebiet der tschechischen Bücher ein immerhin begrenztes, selbst wenn man die Ausfuhr nach den Vereinigten Staaten, die in stetem Zunehmen begriffen ist, berücksichtigt. Tat sächlich sind denn auch die Lager einzelner Verleger ganz enorm und lassen eine Überproduktion deutlich erkennen. Einzig und allein infolge des schlechten Geschäftsganges dürften diese ge waltigen Lager nicht entstanden sein. Daß man bemüht ist, diese Lager, die jemals auch nur annähernd zu räumen ausgeschlossen erscheint, wenigstens so gut es geht zu verringern, beweist die Tatsache, daß während der Weihnachtszeit ein Verleger in seinem Ladengeschäft der Kundschaft bei einem Sortimentseinkauf von 30 Kronen einen Gutschein über 20 Kronen für Bezüge aus seinem eigenen Verlage aushändigte. Die deutschen Verleger sind auch nichts weniger als aus Rosen gebettet; aber von einer derartigen Verschleuderung der eigenen Verlagsartikel habe ich doch nichts gehört. Ursache der Überproduktion mag auch sein, daß es dem böhmischen Verleger bisher sehr leicht gemacht' wurde, die Ubersetzungsrechte zu erwerben. Nicht nur, daß man, besonders von deutschen Verlegern die Reproduktionsrechte für ein Geringes zu erwerben wußte (unter Hinweis auf den so beschränkten Absatzkreis! — welcher deutsche Verleger denkt daran, daß Waggonladungen tschechischer Literatur nach den Vereinigten Staaten gehen!); sondern man verstand es auch vielfach, den deutschen Verleger zur Beteiligung an den Herstellungs- und Propagandakosten zu gewinnen. Selbstverständlich mag hierdurch ein Überfluß auf dem Büchermarkt entstanden sein, der sich bei den gegenwärtigen schlechten Geschäftszeiten doppelt unangenehm bemerkbar macht. Einsichtige deutsche Verleger, denen die böhmischen Verhältnisse bekannt sind, geben denn auch ihre Verlagsrechte neuerdings nur zu angemessenen Preisen ab, und können sie diese nicht erzielen, so verzichten sie lieber auf die Ehre, ihre Autoren auch in der tschechischen Literatur vertreten zu sehen. Obwohl mau als Fremder in den Straßen der Stadt nicht belästigt wird, läuft man doch Gefahr, durch den Gebrauch der deutschen Sprache Unbekannten gegenüber Unannehmlichkeiten zu habeu, und das verleidet einem naturgemäß den Aufenthalt in der Stadt. Um so mehr fühlt sich der nach Prag kommende Deutsche wohl und heimisch in dem bekannten »Deutschen Hause«. Hier genügt allein die deutsche Sprache, um als Stammverwandter herzlich ausgenommen zu sein. Für Leser, die Prag nicht kennen sei bemerkt, daß das »Deutsche Haus« am Eingang des Grabens und schräg gegenüber der wundervollen Architektur des alten Pulverturms liegt. Etwas weiterhin sieht man die noch im Bau begriffene architektonische Ungeheuerlichkeit des neuen tschechischen Vereinshauses. Das »Deutsche Haus« enthält unten ein altmodisches gemüt liches Bierlokal, oben Säle und die Räume des Deutschen Klubs. Alles atmet deutsche Behaglichkeit, und von unseren üblen Seiten, unserem Kastengeist, unserem Absonderungsbedürfnis, unserer Neigung, auf Kosten des lieben Nächsten eine Rolle zu spielen, ist, zum mindesten in diesen unruhigen politischen Zeiten, nichts zu merken. Es scheint, daß im Deutschböhmen, der ja permanent vor dem Feinde liegt, unsre Fehler weniger entwickelt sind, dafür um so mehr ein gesunder Rasseninstinkt. Ich bin viel herum gekommen im Ausland und in Deutschland. Hier in Prag kann man — eine Seltenheit in Deutschland — Leute von deutscher Zunge beieinander sehen, die sich eben nur als Deutsche kennen und doch ganz allgemein vertraut und freundschaftlich miteinander verkehren. Ein Lachen und Schwatzen hin und her und über dem Ganzen doch ein leiser, getragener Ernst, wie er der Situation entspricht. Ich sitze am Fenster und beachte das Treiben auf dem Graben. Gutgekleidetes Publikum, das ruhig und scheinbar teilnahmlos seine Straße zieht, ganz wie wo anders in der Welt. Tschechische Studenten in Dalles (Pelerinen),Mänteln oder Capes; natürlich können sie es nicht unterlassen, in das Innere des ihnen verhaßten Deutschen Hauses zu äugeln. Zwei Polizei beamte, in Schwarz gekleidet, den Federbusch mit schwarzen Hahnenfedern auf dem Filzhut. Der lange und angestrengte Dienst der letzten Zeit hat sie, wie es schein^, recht verdrießlich gemacht. Daneben wandeln zwei kaiserlich-königliche Gendarmen mit Pickelhauben, deren Spitze jedoch nur die halbe Größe einer- richtig ausgewachsenen preußischen hat, mit Gewehr und aufge pflanztem Bajonett, das ebenfalls etwas sehr klein ausgefallen ist. Ab und zu werden einige fragwürdige Gestalten, die den Versuch machen, sich um das Deutsche Haus zu kristallisieren, zum Weiter gehen aufgefordert. Wandelt man, mit historischem Sinn begabt, durch die Stadt, so stößt man überall auf die glänzenden Zeugnisse jahrhunderte langer deutscher Arbeit, und man kann und will es nicht begreifen, daß das Deutschtum hier unrettbar verloren sein soll. Am Standbild Karls IV. vorüber, des großen Königs, der in Prag die erste deutsche Universität gegründet hat und dem das mächtige Aufblühen der deutschen Stadt Prag zu danken ist, gelangt man hinaus zur majestätischen Moldau, dieser eigentlichen Mutter der Elbe. Zahlreiche Brücken aus alter und neuer Zeit überspannen ihr breites Bett. Die älteste und bekannteste ist die Karlsbrücke mit den steinernen Heiligen auf den Bögen zur Linken und zur Rechten, ein Seitenstück zur Würzburger Main brücke. Peter Parier von Gmünd — ein Deutscher also — hat um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts ihren Bau begonnen. Die Brücke selbst mit ihren Standbildern weckt zahlreiche historische Erinnerungen, und je weiter man schreitet, hinüber zur Kleinseite, zum Hradschin mit der Hofburg und zum Dom zu St. Veit, um so reicher wächst deren Zahl. Ein Blick von der Höhe auf die alte vieltürmige Stadt zeigt uns eine große deutsche Vergangenheit in Quadern gefügt. So stößt man in Prag überall auf Zeugen jahrhundertelanger deutscher Arbeit und Geisteskraft. Und angesichts all der Natur schönheiten und edlen Menschenschöpfungen fragt man sich: Ist es denn unmöglich, daß zwei Völker, die doch in allen Beziehungen des täglichen Lebens aufeinander angewiesen sind, nicht in Ruhe und Frieden leben können? Aber freilich, im Leben der Völker gilt wohl nur das Recht des Stärkeren. So boten die wenigen Tage meines Prager Aufenthalts bei rühriger Arbeit eine Fülle des Interessanten. Am erfreulichsten war es, bemerken zu können, daß auch hier der deutsche Buch händler, unbekümmert um den heftig tobenden Streit der Parteien, in reger geschäftlicher Tätigkeit sich seiner Pflicht als Träger der Kultur bewußt ist und nach allen Seiten hin das Ansehen seines Berufes unter den Mitbürgern zu wahren weiß. 377*