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brechen und verarbeiten iollte. Er war einer der ersten und der letzten auf dem Bruche. Wer freudig tat er seine Arbeit, und für jedermann hatte er ein freundliches Wort. Das hatte ihn bald zur beliebtesten Person in dem Orte gemacht. Im Drange der Geschäfte war ihm die Zeit rasend schnell vergangen. Nun war der Sommer mit all seiner Pracht gekommen. In den Gärten blühten die ersten Rosen, lange schon hatte der Flieder seine Wohl gerüche gespendet. Thieß, voller und stattlicher geworden, saß in seinem Arbeitszimmer und sah sinnend in den Garten hinaus. Nur noch ein Vierteljahr, dann ging sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung, dann konnte er sein Lieschen ganz die Seine nennen. Was sie wohl jetzt auf ihrer großen Reise beginnen mochte? Daß sie ständig sein gedachte, davon legten die vielen Briefe und unzählige Ansichtspostkarten beredtes Zeugnis ab. Ob sich das junge Mädchen auf dieser Reise wohl sehr geändert hatte? Thieß ließ den Blick vom Garten nach dem Bilde gleiten, das auf seinem Arbeitstische stand. Nachdem er das Bildnis eine Zeitlang bettachtet, erhob er sich seufzend. Die Trennung währte ihm schon zu lange. Jetzt weilten Baumanns in Ägypten, und dann sollten Algier und Marokko besucht werden. Es konnte also der August herankommen, ehe er die Braut wiedersah. Nun, dann wollte er schon dafür Sorge tragen, daß nie wieder eine so lange Trennung einttat. Wer auch in anderer Hinsicht wäre ihm eine baldige Rückkehr der Baumannschen Familie lieb gewesen, drückte doch die Last der Geschäfte gar sehr. Es gab da vieles mit dem Chef mündlich zu verhandeln, das sich schriftlich nicht erledigen lassen konnte. Es hieß also, sich in Geduld fassen. Thieß klappte seine Bücher zu, begab sich durch die Kontorräume und be sprach mit dem ältesten Buchhalter verschiedene Einzelheiten. Darauf verließ er das Verwaltungsgebäude und begab sich nach dem Schieferbruche. Überall war die Arbeit in vollem Gange. Befriedigt von seinem Rundgang durchschritt Thieß darauf die Ver arbeitungsräume und verweilte dort längere Zeit. Schon wollte er den letzten Raum, in dem mehrere Arbeiterinnen Griffel sortierten, verlassen, als sein Blick auf Therese Walther fiel. Das junge Mädchen war ernst und schweigsam in seine Arbeit vertieft. Um das Ge sicht hatte sich ein leidender Zug gelegt, der ihm etwas ungemein Rührendes gab. Thieß, der die Leidensgeschichte des jungen Mädchens kannte, mußte unwillkürlich stehen bleiben. Sein Mitgefühl mit fremdem Leid litt es nicht, kalt an anderer Unglück vorüberzugehen. Teilnehmend be ttachtete er die Arbeiterin, die ihn gar nicht zu beachten schien. Wie hart sie doch vom Unglück verfolgt war, dachte Thieß. „Therese", redete Thieß sie an, „Sie sollten sich mit Gewalt aufraffen und nicht mehr an den Unwürdigeu denken. Für Sie wird und muß ja auch endlich wieder einmal die Sonne scheinen." Therese hatte den Sprecher mit tiefttaurigem Blick an gesehen: „Ja, Herr Thieß, wenn ich genau wüßte, daß Günsche den Mord wirklich begangen hätte, dann würde ich ihn vergessen. Wer trotzdem ihn das Gericht schuldig gesprochen, glaube ich noch nicht, daß er es war, der den scheußlichen Mord begangen hat." „Wer niemand als Günsche kann der Mörder sein", bemerkte Thieß. „Wer sollte die Tat hier wohl anders ausgeführt haben?" Ja, wer sollte die Tat wohl ausgeführt haben, das hatte sich das junge Mädchen zu wiederholten Malen schon selbst gefragt, und niemals hatte sie eine Antwort darauf gefunden, bis vor kurzem auch zu ihren Ohren das Ge rücht gedrungen war, daß der Mörder den Verdacht auf Baumann gelenkt hatte. Und warum konnte dieser die Tat nicht vollbracht haben, war es denn unmöglich, daß er im Walde mit dem Forstwärter zusammenttaf und ihn vielleicht im Streite niedergeschlagen und dann erschossen hatte? Ausgeschlossen war das keineswegs. Trotzdem hütete sich das junge Mädchen, diesem Gedanken Worte zu geben. Es entgegnete seufzend: „Ja, wenn ich in die Herzen Ler Menschen sehen könnte, dann würde ich es wissen. So bleibt mir nur der Zweifel, und der ist eS der sicher und langsam alle Lebensfreudigkeit hemmt unl stört." „Armes Ding", murmelte Thieß vor sich hin, laut aber setzte er hinzu: „Sie tun unrecht, Therese, daß S« sich von aller Welt abschließen. Da kommt der Schmerz erst recht zum Durchbruch. Suchen Sie Geselligkeit im Kreise gleichgesinnter Kameradinnen, und bald werden Sie merken, daß ihre Zweifel nicht nur behoben werden, sondern auch die Welt noch ein anderes Glück für Sie aufgespart hat." Ungläubig schüttelte die Arbeiterin den Kopf. „DaS wäre ein vergebliches Beginnen. Für mich gibt es kein Glück mehr. Selbst wenn ich mit den anderen Mädchen größeren Umgang pflegen wollte, würden diese mit ihrer Spottlust die Wunde in meiner Brust immer wieder auf reißen, denn ich bin für alle gezeichnet, daS Mädchen des Mörders. Man würde sich über mich lustig machen, und das würde meinen Schmerz noch vergrößern. Wie sollte ich auch jetzt Geselligkeit suchen, wo ich noch nicht einmal weiß, was aus Günsche wird. Wäre er übrigens zehnmal ein Mörder, die Treue halte ich ihm, kann ich ihn doch nicht vergessen. Wer ich weiß, daß er kein Mörder ist." Ergriffen von dem tiefen Schmerze, der aus den Worten des jungen Mädchens sprach, wandte sich Thieß ab. Er wußte, daß hier jedes Trostwort vergeblich sein und nur die alte Wunde noch schmerzlicher gestalten würde. In den nächsten Tagen war Thieß diese kleine Episode fast ganz aus dem Gedächtnis gekommen. Dann fuhr er mit dem Oberförster nach Nestel, um an einem Essen, das aus Anlaß des Geburtstages des Landesherrn veranstaltet wurde, teilzunehmen. Er war in Uniform und sah in dieser sehr schmuck aus, so daß mancher Blick der Dorfbewohner dem Leutnant nachfolgte. Auf dieser Fahrt erfuhr Thieß, daß die Hinrichtung Günsches unmittelbar bevorstehe. Er erinnerte sich nun des Ge sprächs mit dem jungen Mädchen und erzählte dem Ober förster davon. „Ja", antwortete der in seiner rauhen Art. „Ver liebte und Narren glauben das, was sie für wahr halten, selbst wenn ihnen das Gegenteil klipp und klar bewiesen wird. Ich habe der Verhandlung beigewohnt, und für mich steht es fest, daß der Lump den armen Kerl hinter rücks erschossen hat. Denken Sie nur, daß der freche Patton sogar die Dreistigkeit hatte, Ihren zukünftigen Schwiegervater zu verdächtigen." „Ja, ja, so ist es", fuhr der Oberförster, den er staunten Blick bemerkend, fort, „der Lump erzählte, daß er neben der Leiche ein Messer Raumanns gefunden und auch ganz deutliche Fußabdrücke von dessen Stiefeln gesehen hätte." „Na, da wäre sein Verhalten ja gerade das aller verkehrteste gewesen, das er einschlagen konnte", entgegnete lachend Thieß, „denn dann mußte doch mein Schwieger vater in den Verdacht des Mordes geraten." Und dieser Gedanke war für ihn so absurd, daß er trotz des Ernstes des Gesprächs laut auflachen mußte. „Eine dümmere Er findung konnte Günsche meiner Ansicht nach gar nicht vor bringen", setzte er hinzu. „Das schien selbst dem Verteidiger zu dumm, denn mit keinem Worte kam er darauf zurück", bestätigte der Oberförster. „Was aber auch zur Genüge zeigt, daß Günsche ein ganz gefährlicher Bursche ist, dessen Strafe noch viel zu milde ausgefallen ist." Das Essen war vorüber, und die Mehrzahl Ler Teil nehmer atmete erleichtert auf, denn so lange wie heute hatte es sich in keinem Jahre hingezogen. Die Anzahl der Trinksprüche schien unerschöpflich zu sein, aber es hatte sich auch der letzte der vielen Redner sein Sprüchlein vom Herzen geredet, die Zeit aber war rastlos entronnen. Nachdem Thieß mit mehreren Referendaren und einem Rechtsanwalt, sämtlich Reserveoffiziere, in einem Neben zimmer bet einem Glase Bier Platz genommen, fühlte er sich wohler. Nach einiger Zeit fanden sich auch einige ältere Herren, darunter der Oberförster, dort ein. Die Stimmung wurde bald eine gehobene, da manche- Glas auf den Landesvater geleert worden war. Im Laufe der Unterredung kam das Gespräch auch auf den Reserveoffizierstanü. „Ich bin mit Leib und Seele Soldat!" rief flammenden Auges Thieß aus. „Daran zweifelt niemand, Herr Thieß", entgegnete einer der älteren Herren. „Wer ich meinte vorher, daß doch Situationen im Leben vorkommen können, die jemand Swingen, gegen seinen Willen für immer Abschied davon zu nehmen." „Gegen seinen Willen wohl kaum", erwiderte Thieß. „Wer seine Ehre rein und unbefleckt erhält, den kann niemand zwingen, des Kaisers Rock auszuziehen. Wer seine Ehre allerdings befleckt, nun der muß ihn aus ziehen." „Das geschieht doch eigentlich auch nicht gegen seinen Willen", fuhr Thieß fort, „denn der Betreffende kennt die Folgen. Weicht er nun vom Pfade Ler Ehre, dann be kundet er damit ja klar genug, daß er auch die Konsequenzen tragen wolle." „Und doch behaupte ich, daß Fälle eintteten können, denen der einzelne machtlos gegenübersteht, die den Ab schied als Offizier wider den Willen des davon Be ttoffenen nach sich ziehen", entgegnete der andere. „Nehmen Sie einmal den Fall an, daß in der engeren Familie eines Reserveoffiziers irgendein Glied eine Dummheit be geht, oder einen anderen Fall, der Vater, die Mutter der Frau, deren Brüder oder Schwestern kommen mit dem Strafrichter wegen eines ehrenrührigen Vergehens in Konflikt und werden verurteilt. Was meinen Sie wohl, Herr Thieß, was der Betreffende da zu tun hätte?" Wer Augen waren auf Thieß gerichtet, der frei mütig bekannte: „Ich gebe Ihnen recht, Herr Frank. Der Betreffende müßte allerdings gegen seinen Willen Ab schied nehmen. In den letzteren Fällen könnte er sich allerdings helfen, wenn er das Band, das ihn an seine Frau bindet, mit starker Hand zerschneidet. Ich wenigstens würde mich keinen Augenblick besinnen, auf das glücklichste Familienleben zu verzichten, wenn meine Ehre in Gefahr käme." Während die unverheirateten Herren zustimmend dazu nickten, schüttelten die älteren mißbilligend die Köpfe. Der Oberförster konnte ein spöttisches Lächeln nicht ganz verbergen. Was wußte der junge Feuerkopf und Schwärmer eigentlich von der Ehe, er, der Oberförster, war mit den letzten Worten gar nicht zufrieden. Hätte er nicht gewußt, welch gutmütigen, edlen Charakter Thieß besaß, er würde ihn für einen kaltherzigen Egoisten ge halten haben. So konnte er gut reden, denn das Glück an der Seite des herzigen Lieschen Baumann war ihm sicher. „Sie wollten dann also nicht nur Ihr Glück opfern sondern vielleicht auch Ihrer Gattin, vorausgesetzt, daß Sie in glücklicher Ehe lebten, den Todesstoß versetzen?" fragte er und setzte hinzu: „Wie intensiv Frauen lieben, das haben Sie mir ja erst heute auf der Fahrt nach hier beweisen können. Glauben Sie da nicht, daß es besser wäre, wenn Sie trotz aller Soldatenliebe eher den bunten Rock aus ziehen, als der treuen Gefährtin das Ärgste antun, was man der Frau nur zu tragen zumuten kann? Wir wissen ja, daß dieser Fall bei Ihnen nicht eintteten kann, ich aber wollte ihn nur anführen, damit Sie sehen, daß ein solcher Entschluß unmöglich ist." Thieß hatte erstaunt zugehört, er konnte sich ein solches Bild gar nicht ausmalen und mußte es sich gewaltsam vor seine Seele zaubern. Ja, das würde harte Kämpfe kosten, denn seine Liebe zu seiner Braut war rein und echt, sie war durch die lange Trennung noch gefestigt worden. Nein, er konnte sich von dem geliebten Mädchen nicht trennen und würde, selbst wenn der Vater ein Verbrecher sein würde, Lieschen die Treue halten. Ein Verbrecher, sagte er sich erschreckt, und es fiel ihm dabei ein, was der Oberförster von den Angaben Günsches erzählte. Nein, setzte er aber sofort in Gedanken hinzu, das kann nicht sein. Und wenn es doch der Fall wäre? mußte er sich wiederum fragen. Dann muß ich auf mein Glück ver zichten, denn über alles die Ehre. „Uber alles die Ehre!" sagte er laut, aber mit gepreßter Stimme. „Doch gebe ich zu, daß man hier von Fall zu Fall entscheiden muß, denn eines schickt sich nicht für alle. Ich würde ja schwere Kämpfe mit mir zu bestehen haben, aber schließlich würde ich mich doch auf den Standpunkt stellen: über alles Lie .Sbre!" „So reden Sie jetzt", antwortete ernsten Tonet Ler Oberförster. „Ich aber, Ler ich Ihren offenen Charatter kenne, sage Ihnen, daß Ihr gutes Herz über StandeS- vorurteile sich frei und stolz nach heftigen Kämpfen mit sich selbst hinwegsetzen würde. Die Liebe zu Weib und Kind überwindet und trägt alles, und wenn Sie dermal einst selbst glücklicher Familienvater sind, dann werden Sie mir vollkommen recht geben." „Das letztere mag sein", entgegnete Thieß, „das erstere aber glaube ich nicht. Doch wer will das entscheiden. ES ist nur gut, daß ich nicht Gelegenheit habe, mit mir selbst in Zwiespalt zu geraten." Nur zu bald aber sollte Thieß in schrecklicher Weise in diesen Zwiespalt gestürzt werden. In heiterster Laune mit dem Oberförster am späten Wend nach Äärenwalde zurückgekehrt, begab er sich in seine Wohnung. Sorglos überdachte er das geführte Ge spräch heute. Es war wirklich zum Lachen, daß er sich so ereifern konnte. Seine Zukunft lag ja sonnenklar vor ihm, sein war das "Mück, an der Seite seiner herzigen Braut. Kaum hatte er sich der Uniform entledigt und eS sich bequem gemacht, als ein Schreiber aus dem Bureau nach erfolgtem Anklopfen in die trauliche Wohnstube trat und Thieß ein Telegramm überreichte, das kurze Zeit vorher eingelaufen war. Darauf entfernte sich der junge Mann wieder, während Thieß in nervöser Hast das Telegramm erbrach. Kaum aber hatte er die wenigen Zeilen gelesen, als er schmerzlich die Hände vors Gesicht nahm und heftig zu weinen begann. Nochmals aber raffte er sich energisch auf. Es konnte ja nicht wahr sein, was da mit Blaustift geschrieben stand, nein, er mußte irgend etwas anderes ge lesen haben. So las er nochmals die entsetzliche Botschaft. Da brach er völlig zusammen. Ausgettäumt war der sonnige Glücksrausch, mit kalter Hand hatte das Schicksal ihn zerstört. „Vater, lieber Vater!" entsetzt rief die Tochter daS auS, der Vater taumelte und wäre gefallen, wenn nicht die Tochter und einer der Begleiter hinzugesprungen wären und den Fallenden aufgefangen hätten. In einer kleinen Gesellschaft hatten Vater und Tochter einen Ausflug auf dem schönen Nildampfer „Germania" nilaufwärts unternommen, während die Mutter im Hotel in Kairo zurückgeblieben war, sie fühlte sich ermüdet von dem Herumreisen und wollte einmal ordentlich -er Ruhe pflegen. Die alte Unruhe des Vaters hatte ja nirgends längeren Aufenthalt zugelassen. Vergebliche Hoffnung war es, daß die am Gardasee gezeigte Heiterkeit im Wesen Baumanns anhalten würde. Sowie er sich unbeobachtet glaubte, starrte er finster vor sich hin. Dann hatte er wieder Tage, da er selbst für Frau und Tochter nicht zu sprechen war. Einsam saß er dann in seinem Hotel zimmer. Seit einigen Tagen weilten Baumanns im Lande der Pharaonen, und fast schien es, als ob sich die in letzter Zeit bei Baumann zeigende Schwermut ganz gehoben hätte, denn er selbst drängte zu verschiedenen Ausflügen, so auch zu dem heutigen. Auf der Rückfahrt orach er auf dem Promenadendeck des Dampfers plötzlich besinnungslos zusammen. Zwar erholte er sich nach einiger Zeit wieder von dem tiefen Ohnmachtsanfall, aber es hatte sich seiner eine so schwere Mattigkeit bemächtigt, daß er bei der Landung in einen Wagen getragen werden mußte. Er war schwer erkrankt, das sahen Frau und Tochter sofort. Der hinzugerufene Arzt schüttelte ernst mit dem Kopf, konnte er sich den Fall -och gar nicht erklären. Nach einiger Zeit war er in Begleitung eines Kollegen wieder am Krankenlager erschienen. Nochmals wurde der Kranke gründlich untersucht. Reibe erkannten nur zu klar, daß daS Leben des Erkrankten zusehends dahinfloh, wechselten doch tiefe Ohnmächten mit ganz kurzen lichten Augenblicken in steter Folg«. tFortsetzmlg t ?