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der Anwendung von Strafen besteht, so machen sich diese doch gerade unter solchen Verhältnisse» am ersten noth- wendig. Denn jene überschwengliche Liebe lockt, gleich einem schwülen März, die Triebe dcö kindlichen Hcrzenö zeitig hervor und die Klage wird nicht selten gehört, daß die gütigsten Eltern die unartigsten Kinder haben. Nicht trotzdem, daß du ihnen immer so gütig warst, liebe Mut ter, sondern weil du cö warst, sind deine Kinder aus der Art geschlagen. Heißt cs nicht: „Welchen der Herr lieb bat, den züchtigt er?" Wer cS nicht über daS Herz brin gen kann, ungehorsame Kinder zu strafen, dem werden sie zu Kopfe wachsen. Steigert sich die Nachsicht der Eltern gegen dcö Kin- dcö Fcblcr noch durch die Sorge über seine schwächliche Gesundheit; ist cö vielleicht daö einzige, das ihnen ver liehen worden oder nach schmerzlichen Verlusten noch ge blieben ist; werden Vater oder Mutter selbst durch an dauernde Krankbcitcn heimgcsucht, dann vermcbrt sich auch vic Gefahr der Verziehung. Man will beschwichtigen, Auf regung vermeiden,'Acrgcr ersparen und drückt zu den be denklichsten Dingen die Augen zu. Gewiß ist die Erzieh ung unter solchen Umständen doppelt schwierig; umsomehr soll aber die Liebe dabei den Verstand zu Nathe nehmen. 3) Verziehung wird endlich noch ans mancherlei Abwegen bewirft, die wir unter dem gemeinschaftlichen Ge sichtspunkte der Einseitigkeit zusammcnfasscn können. DaS nur unter einer harmonischen Entwickelung der kindlichen Anlagen, geistiger wie körperlicher, eine gedeihliche Erzieh ung stattfindcn könne, ist eine in allen ErzichungSschriftcn gepredigte, aber in den Familien und den übrigen Bildungs stätten der Jugend leider nicht immer beherzigte Wahrheit. Begegnen wir nicht häusig den schroffsten Einseitigkeiten? Bald einer schreienden Vernachlässigung der Gesundheit und körperlichen Kräftigung zu Gunsten der geistigen Bildung, bald einer verderblichen Begünstigung der niederen Triebe auf Unkosten der höheren Anlagen; hier der überreizten Phantasie, da der Uebcrbildung deö Verstandes, dort der Verschrobenheit des Charakters? Daß solche Resultate von falschen Richtungen herrühren, welche man dem Kinde gegeben hat oder die wider Willen auf sie cingewirkt haben, ist kein Zweifel, wenn wir dieselben auch keineswegs allein auf Rechnung der Eltern setzen dür fen. Eins aber liegt fast ausschließlich in der Eltern Hand: Vic Entwickelung der niederen Triebe in der Natur dcS jungen Menschen im Verhältniß zu seinen höheren Kräften, durch welche „dem Geiste die Herrschaft über daö Fleisch" gewonnen wird. Wie diese Triebe, welche auö den natürlichen Bedürf nissen nach Nahrung, Bewegung, Wärme rc. entspringen, von Jugend auf gereizt, geregelt und gemäßigt werden, davon wird es abhängcn, ob daö Kind in Gesundheit, Frische und Munterkeit zu höherer Entfaltung cmporwachse, oder ob sich in ihm die verderblichen Neigungen der Nasch haftigkeit, Unmäßigkcit und Trägheit mit ihrem schlimmen Gefolge erzeugen. Wird dem Leibe mehr geboten als das natürliche Bedürfnis) erheischt, so nimmt die gcsammte Entwickelung eine vorwiegende Richtung nach dem Niederen, Leiblichen, Thicrischcn an, wodurch daS Geistige, höher Menschliche zurückgedrängt wird. Schon daö llcbcrmaß an Speisen und die Regellosigkeit im Genüsse derselben, mehr noch die Ucbcrreizung des Geschmacks durch allerlei Naschwcrk und Leckereien verdirbt den Kindern außer dem Magen auch die Lust zum Lernen und zu jeder edleren Beschäftigung als Kauen und Verdauen. ES ist, nach Beneke, die erste Tugend des Kindes, daß cö daö Schcn und Hören dem Schmcckcn vorzichc. Ja jene niederen Gelüste sind eine Quelle moralischer Abweich ungen, welche noch in der späteren Erziehung sehr verderb lich wirken können. Denn bald wird die leckere Zunge die Hand in ihre Dienste nehmen, daß sic nach dcm Verbotenen greife und den Mund, daß er cö mit Lügcn vcrdccke, und den Verstand, daß cr auf Listen sinne. Hüten wir uns daher, die Kinder durch Darreichung von allerlei Gaumenkitzel zu verwöhnen und sie dadurch ekel, wählerisch, genußsüchtig, lüstern und näschig zu machen; gewöhnen wir sie vielmehr von früh auf im Genüsse an Einfachheit, Maß und Ordnung: so werden wir in der Zügelung und Einschränkung ihrer niederen Sinne den Weg für eine günstigere Entwickelung der höheren und der geisti gen Kräfte bahnen. Auch hierbei ist ein Abweg zu Vermeiden, auf welchen eine herrschende Zeitrichtuug hinzudrängcn droht: die Uebe» schätzung deö Wissens, der VcrstandcSbildung, ja des bloö äußerlichen Bildungöglanzcö gegen die moralische Tüchtig» leit, in welcher doch allein der Schwerpunkt wahrer Er ziehung rubt. Denn nicht waö der Mensch weiß und scheint, sondern waö er leistet und ist, daö gilt cr. Fasscn wir hier nur die weibliche Erziehung inö Auge, so machen wir allerdings die erfreuliche Wahrnehmung, daß viele Eltern wünschen, ihren Töchtern eine möglichst gute Bildung angcdcihcn zu lassen; aber wir können unS auch nicht verhehlen, daß der Begriff dieser Bildung hie und da zu oberflächlich gefaßt wird. Ganz abgesehen von der Ver irrung, sic in cincr Art Dressur für daö gesellschaftliche Leben zu suchen, bei welcher die Feinheit immer über die Echtheit den Prciö gewinnt, so berücksichtigt man doch auch bei einer reelleren Bildung nicht immer genug den praktischen Werth derselben, nämlich ihre Bedeutung sür daö innere Gcmüthölcbcn wie für die äußeren Lcbcns- vcrhältnisse. ES handelt sich darum, den-Verstand, daö Urthcil, die Vernunft durch wahrhaft wissenöwürdige Kenntnisse zu bilden, damit unsere Mädchen denken lernen und einst verständige Frauen werden. Einfachheit-, Gründlichkeit, Tiefe deö Unterrichts mit Auswahl dcS für daö Geschlecht besonders Notbwcndigcn ist die Hauptsache dabei. Aber alles gelehrte Wissen ist hier Ucbcrfluß und meist schädlich. Geschmack und Kunsttalcntc sollen auögebildct werden, aber nicht für den Salon, um damit zu glänzen, sondern als edle Zierden deS häuslichen LcbcnS und zur Hebung der sittlichen Gefühle.. Vor allem aber handelt es sich um eine solide mora lische Grundlage der Bildung, welche selbstverständlich ohne das religiöse Element ihres innersten Kcrncö ent behren würde. In diesem einen Brennpunkte, im sittlich- religiöscn Gcmüth, sollen alle Strahlen der Bildung sich sammeln. WaS nicht von dieser Grundlage auSgcht und auf sic zurückführt, alles nur dem Glanze Dienende, Zer- streuende und nicht Sammelnde, der Eitelkeit, dem Dün kel und Schcinwcsen Vorschubleistcnde, widerstrebt dem Zwecke der Erziehung und wirkt also verziehend. ES läßt sich nicht verkennen, daß diese Grundsätze sich immer allgemeiner geltend machen, daß ein geläuterter pä dagogischer Geist, der dcm Unwcscn dcr Ucbcr- und Schcinbildung stcucrt, immermchr in dcn bessern Familien cinzicht. „Es erfüllt," ruft ein geistvoller Beobachter unseres ErzichungswcscnS aus, „mit Freude und Hoch- achtung, wenn Väter und Mütter dcr gcbildctcn Stände mit gesundem, unbefangenem Sinne und ungefärbter El ternliebe die höchsten Aufgaben dcr Erzichnng scharf cr- fasscn und gewissenhaft verfolgen, um ihre Kinder mit dcn köstlichsten Juwelen zu schmücken, die nicht vor sinnlichen Augen glänzen, aber drinnen im Gcmüthc eine göttliche Klarheit verbreiten." Aber angesichts dcr Gefahren, welche auS dergleichen einseitigen Richtungen entspringen, thut cö auch noch immer noth', warnend auf sie hinzuwciscn. So viel Gutes eine verständige Erzichnng bcwirkcn kann, so viel Schaden kann durch jede Art der Verziehung angcri'chtct werden, bestehe sie in der an einigen Beispielen