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Wilsdruffer Tageblatt 2. Blatt Nr. 222 / Freitag, den 22. September 1933 Tagesspruch. Sei zum Geben stets bereit, miß nicht kärglich deine Gaben! Denk: In deinem letzten Kleid wirst du keine Taschen -haben. Paul Heyse. ReiGWbmMmrizch lung die Kelten abgenommen waren, wird wieder ge fesselt und mit den anderen Angeklagten abgeführt. Die wiedereröffnete Verhandlung befaßt sich weiter mit der Vergangenheit van der Lübbes. Van der Lubbe widerlegt das „Braunbuch^. s Es gilt festznstellen, ob die Behauptung wahr ist, van der Lubbe sei einmal auf seiner Reise durch Deutsch land von nationalsozialistischen Dienst stellen beherbergt worden. Pan der Lubbe selbst stellt das in Abrede und auch die Parteigenossen in Brock witz, wo diese Übernachtung stattgefundcn Haven soll, ver neinen das. Bei der Vernehmung des Brockwitzer Orts gruppenleiters Sommer fragt Rechtsanwalt Dr. Sack „mit Rücksicht auf das „Braunbuch" Seite 58/59," Seginn des Leipziger Zochverraisprozeffes. Das Reichsgericht, in dem der von der ganzen- Welt mit Spannung erwartete Reichstagsbrand- stifterprozeß gegen van der Lubbe und Genossen er öffnet wurde, bot äußerlich kaum ein anderes Bild, als man es sonst bei früheren großen politischen Prozessen im Reichsgericht zu sehen gewohnt war. Den Reichsgerichts platz umsäumten seit den frühen Morgenstunden schon kleinere Gruppen von Fußgängern, die offenbar daraus warten, die Anführung der Angeklagten zu sehen Patrouillierende Posten der Schutzpolizei sorgten für dik Aufrechterhaltung der Ordnung und verhinderten jede größere Ansammlung. Im Reichsgericht selbst werden die einzelnen Besucher strenger als je auf den Besitz von Waffen untersucht. Auf den Emporen des Verhandlungs- faales sind umfangreiche Maßnahmen für eine Ton - Filmaufnahme der Verhandlung getroffen worden. Das Postamt im Reichsgericht befindet sich in vollem Betrieb. , Die Anfahrt -er Angeklagten vollzieht sich ohne jedes Aufsehen. Dreimal fährt der Gefangeneniransportwagen, gefolgt von einem mit Karabinern bewaffneten Schutzpolizeiaufgebot in den Hof. Die Einbringung der Angeklagten leitet der Kom mandeur der Leipziger Schutzpolizei, Oberst Höfer, per sönlich. Eine bedeutsame Erklärung Or. Büngers. Der große Sitzungssaal füllt sich nur langsam, da die Prüfung der Personalausweise geraume Zeit in Anspruch nimmt. Punkt 9 Uhr werden die Angeklagten in den Sitzungssaal geführt. Auf der vorderen Bank nimmt, ge fesselt und flankiert von zwei Polizeibeamten, der Haupt- »ngeklagte Marinus van der Lubbe, ein blasser junger Mann in blauer Gefangenenkleidung, Platz. Ihm folgen in Zivilkleidung die Mitangeklagten Bulgaren Schriftsteller Georgi Dimitroff, der Student Blagoi Popoff und der Schuhmacher Wafil Taneff. Als letzter erscheint, ebenfalls in bürgerlicher Kleidung, der ehemalige kommunistische Abgeordnete Ern st Torgler. Gleichzeitig haben auch die Sachver ständigen sowie der Verteidiger Torglers, Rechtsanwalt Dr. Sack, und in der roten Robe der beim Reichsgericht zugelassenen Anwälte der Verteidiger van der Lübbes, Rechtsanwalt Dr. Seuffert, den Saal betreten. Van der Lubbe macht einen völlig verstörten, teilnahmslosen Eindruck. Er sitzt in sich zusammengesunken und starrt in die Luft. Auf den Bänken für die Regicrnngsvertreter bemerkt man auch den Reichsjustizkommissar Dr. Frank. Hinter der Angeklagtcnschranke sitzen die Dolmetscher für die ausländischen Angeklagten. Um 9.15 Uhr betritt der Gerichtshof unter Führung des Senatspräsidenten Dr. Bünger, mit dem deutschen Gruß empfangen, den Saal. Senatspräsident Dr. Bünger erklärt alsbald folgendes: „Ich eröffne die Hauptverhandlung gegen den Maurer Marinus van der Lubbe und Genossen." Dann nimmt er das Wort zu einer besonderen Erklärung: „Das ungeheure Ausmaß des Ereignisses, das den Hintergrund dieses Verfahrens bildet, hat dazu geführt, daß der Gegenstand der Untersuchung in der Presse aller Länder leidenschaftlich und mit aller Eindringlichkeit er örtert worden ist. Man hat sich vielfach bemüht, das Er gebnis des noch schwebenden Verfahrens vorweg- zunehmen. Es geht aber nicht an, daß man mit einer vorgefaßten Meinung in ein solches Verfahren ein greift. Das war bisher niemals Übung in der deutschen Presse und niemals auch in der Presse der an deren Länder. Das entscheidende Gericht hat der Streit der Meinungen nicht berührt. Eine Verurteilung wird lediglich erfolgen auf Grund des Ergebnisses der Hauptverhandlung. Nur was in diesem Saal zur Verhandlung kommt, hat Bedeutung für die Ent scheidung des Gerichts. Es ist ja nicht nur die Öffentlich keit aller Länder ohne Beschränkung zugclassen, nein: auch die Verteidigung der Angeklagten ist unbedingt frei. Wenn die Zulassung eines ausländischen Ver teidigers nicht erfolgte, so ist dazu zu bemerken, daß nach dem Gesetz nur in Äusnahmcfällcn eine solche Zulassung stattfindcn soll, und das Gericht hat in vorliegendem Fall keine Veranlassung, im Rahmen seiner unbeschränkten Er- mcssungsfreihcit gehabt, die Zulassung zu verfügen, denn in diesem besonderen Fall sollte nach Überzeugung des Gerichts nicht ausschließlich den Interessen der An gehörigen gedient werden. Nachdem diese Ausführungen mit atemloser Stille angehört worden waren, erfolgte der Aufruf der An geklagten durch einfache Namennsnennung. Die Anklage. Den Angeklagten wird durch die Dolmetscher der Er öffnungsbeschluß mitgetei.lt. Anschließend läßt Präsident Bünger die Anklage verlesen. Sämtlichen An- geschuldigten wird vorgeworfen, es unternommen zu haben, die Verfassung des Deutschen Reiches gewaltsam zu ändern, ferner das Reichstagsgebäude in Brand gesetzt zu haben in der Absicht, unter Begünstigung der Brandstiftung einen Aufruhr zu erregen. Van der Lubbe wird weiter beschuldigt, versucht zu haben, das Wohlfahrtsamt in Berlin-Neukölln in Brand zu setzen, sowie das Rathaus und das Stadt- 1 chloßin Berlin. Präsident Bünger verliest sodann eine Erklärung van der Lübbes, daß er auf das Angebot der holländischen Verteidiger Pawels nnd Stumm auf Verteidigung wiederholt und endgültig verzichtet habe. Van der Lubbe versichert, daß er diese Erklärung ohne jeden Zwang aus eigenem Antrieb abgegeben habe. Wer ist van der Lubbe? Einen breiten Raum nimmt die nunmehr beginnende Vernehmung van der Lübbes ein. Er ant wortet auf die Fragen des Vorsitzenden in deutscher Sprache. Van der Lubbe ist am 13. Januar 1909 in Leyden in Holland geboren. Sein Vater betreibt in Dortrecht ein Manufakturwarengeschäft. In seiner Jugend war van der Lubbe in einer Erziehungsanstalt in Hertogenbosch. Auf der Volksschule sei er ein guter Durchschnittsschüler gewesen. 1927 kehrte er nach Leyden zurück und lernte das Maurerhandwerk. Zu einem festen Arbeitsverhältnis ist es aber nie gekommen, wie er sagt: da wenig Arbeit war. 1928 hat er durch einen Kalk spritzer eine geringfüngige Augenverletzung erlitten. Van der Lubbe bezog eine Rente, die ihm bei seinen vielen Reisen auch ins Ausland nachgeschickt wurde. 1928/29 war er zum erstenmal in Deutschland, danach vorübergehend in Frankreich. Damals wollte er über den Kanal schwimmen. Im folgenden Frühjahr, im April 1931, plante er gemeinsam mit einem Freunde eine „Weltreise" zu Fuß. Damals bekam er in Leyden einen Paß für Europa und Asien. Ansichts postkartenverkauf sollte das Unternehmen finanzieren. Auf dem Bilde, das mit dem Sowjetstern versehen ist, grüßt sein Wandergenosse mit erhobener Faust, den Kommunistengruß. Die Einreiseerlaubnis nach Sowjetrußland wurde van der Lubbe damals nicht be willigt. Präsident Bünger stellt dann gegenüber der Be hauptung, der Angeklagte wäre gar nicht identisch mit van der Lubbe, fest, daß das Paßbild vom Angeklagten eigenhändig unterschrieben sei. Auf Befragen bestätigt van der Lubbe, daß er vom Gefängnis aus mit seiner Familie in Holland korre spondiert habe, wobei er wiederholt auf Familienverhält nisse eingegangen sei. Die Behauptungen kommunistischer Flugschriften, daß das Paßbild van der Lübbes gefälscht sei, sind damit als Lügen gekennzeichnet. ob der Zeuge in der Amtshauptmannschaft erklärt habe, van der Lubbe habe bei ihm übernachtet. Sommer ver neint das. Zu dieser Frage wird weiter als Zeuge Wohlfahrts- Pfleger Lindner aus Meißen gehört. Ihm hatte Bürgermeister Liebschner aus Sörnewitz erzählt, er habe sestgestellt, daß der Reichstagsbrandstifter in Sörne witz einmal über Nacht gewesen sei. Ich hatte den Verdacht, so erklärt der Zeuge, daß es sich um den Mann handelte, der bei unserem Ortsgruppenführer Sommer um Unterkunft nachgefucht und sich als Nationalsozialist ausgegeben hatte. Das mußte im März am Tage vor der Wahl gewesen sein. Es handelte sich aber um eine andere Person, einen gewissen Barge, der auch bestraft worden ist. Der Zeuge Sommer, der Ortsgruppenleiter von Brockwitz, stellt den Betrugsfall, der sich im August letzten Jahres ereignet hatte, im einzelnen dar. Van der Lubbe kommt dafür nicht in Frage. Die Sache kam so auf, daß der Bürgermeister Keil mir vorhielt, der Neichstags- brandstifter hätte wahrscheinlich zwei Tage bei mir ge wohnt. Tatsächlich bin ich auf den Namen Barge nicht gekommen. Ich habe die Möglichkeit zugegeben, es handle sich um van der Lubbe. Durch eine Reihe weiterer Zeugenvernehmungen wird der Fall einwandfrei als eine Verwechslung erklärt. Es werden dann die Wanderungen van der Lübbes weiter besprochen, insbesondere die letzte Wande rung im Februar 1933, die ihn nach Berlin führte. Zum Schluß der heutigen Verhandlung wird die politische Gesinnung des Hauptangeklagten erörtert, der kommunistischer Jugendführer in Holland gewesen ist, aber wieder holt aus der Partei austrat, weil er keinen führenden Posten bekam. Van der Lubbe äußerte sich auch weiter hin nur sehr zögernd und mitunter widersprechend. Wiederholt mutzte der Vorsitzende ihn wegen seines un motivierten Lächelns verwarnen. Dann schloß der Vorsitzende die Sitzung und vertagte die Weiterver handlung auf Freitag. Der Hmlptang<h.xtte van der Lubbe sagt aus. Ein Bild von dem Reichslags brandstifter Marinus van der Lubbe während seiner Aussage vor den Richtern. Van der Lübbes Vorstrafen. Die Verhandlung dreht sich nun zunächst um die Frage, Wie van der Lubbe nach Deutschland gekommen ist. Das führt zur Vernehmung des Kriminalkommissars Heitzig, als ersten Zeugen, der die Nachforschungen nach dar Richtung betrieben hat, wie der Patz van der Lübbes in Holland ausgestellt worden ist. Er erklärt, datz der Reisepaß amtlich ausgestellt worden sei, datz aber der betreffende Beamte in Holland mit aller Sicherheit sagte, er habe zwei Striche über das „u" bei dem Namen Lubbe unter keinen Umständen gemacht. Diese Striche mützten nachträglich zugefügt worden sein. Der Beamte hat sich über van der Lubbe auch dahin geäußert, datz er das Bild vorsorglich mit vier Klammern festgemacht habe, weil van der Lubbe als sehr gefährlicher Kommunist bekanntgewesen sei und weil man alles habe tun wollen, um einer Fäl schung vorzubeugen. Hierzu hat der Angeklagte van der Lubbe nichts zu erklären. Der Vorsitzende kommt dann auf die zahlreichen Vorstrafen van der Lübbes zu sprechen. Da van der Lubbe selbst eine erschöpfende Antwort nicht gibt, muß ein Bericht des Polizeiamtes in Leyden verlesen werd«;, in dem die Person van der Lübbes und seine Strafen er schöpfend beschrieben sind. Darin heißt es insbesondere, daß er gegen Polizeibeamte stets rücksichtslos und brutal gewesen sei. Auch wird darauf hingewiesen, daß van der Lubbe ein geradezu unbeschreibliches Gel tungsbedürfnis habe und sich für den geborenen Führer halte. So hoffte er auch Kommunistenführer zu werden und suchte sich besonders unter den Arbeits losen Anhänger zu werben. Anfang 1931 ließ sein Ein fluß unter den Arbeitslosen nach. Er hat dann die Kom munistische Partei verlassen und ist angeblich auf eine Weltreise gegangen. Nach Holland zurückgekehrt, schloß er sich den „Internationalen Kommunisten" an, zu denen auch der Student van Alberta gehörte. Er wurde wiederholt wegen Hausierens, Bettelns zu Haftstrafen verurteilt. Der Vorsitzende läßt nunmehr eine Pause eintreten. Van der Lubbe, dem während der Verhand Gerechie Würdigung ^es Leipziger Prozesses in England. Die Leipziger Verhandlungen werden von der Presse und der Öffentlichkeit Englands mit un geheurem Interesse verfolgt. Van der Lubbe wird mit dem englischen Guy Pawkes verglichen, der vor einigen hundert Jahren das englische Parlament in die Luft sprengen wollte. „Die Kritik des Präsi denten des Reichsgerichts in der bisher noch nicht dagewesenen Art und Weise, wie man im Auslande sich ein Urteil zu bilden versuchte, war sicherlich — so schreibt der „Evening Standard" — voll gerecht fertigt. Wie würde sich Wohl ein englischer Richter im umgekehrten Falle verhalten haben, und wie würde er einem ähnlichen Dokument, wie es jetzt der „Internationale Rechtsausschutz" nach Leipzig sandte, irgendwelche Aufmerksamkeit schenken, wenn dieses ausBerlinbei ihm eintreffen sollte?" — Der liberale „Star" meint, wenn man die feste Überzeugung gewinne, daß in Deutschland die Justiz unparteiisch und gerecht gehandhabt werde, dann werde dies auch un ermeßliche politische Vorteile sür Deutsch land mit sich bringen. * Paris zum Leipziger Prozeß. Die Pariser Blätter bringen spaltenlange Bericht« ihrer Sonderkorrespondenten von der Eröffnung des Leip ziger Brandstifterprozesses. Die Berichterstatter beschrän ken sich vorläufig darauf, den Verlauf der ersten Sitzung wiederzugeben und enthalten sich jeder persönlichen Steh lungnahme. Eine Ausnahme davon bildet lediglich die all gemeine Anerkennung des großen Entgegenkom mens, das die ausländischen Berichterstatter von seitev der Behörden erfahren haben. ltOO OOO-Mark-Gpende für -as WinierhilfsweM Die im Deutschen Sparkassen- und Giro-Verband zu- fammengeschlossenen Girozentralen haben sich mit einem Betrage von 100000 Mark an dem Winterhilss werk beteiligt.