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Wilsdruffer Tageblatt : 19.04.1933
- Erscheinungsdatum
- 1933-04-19
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-193304198
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19330419
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19330419
- Sammlungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Saxonica
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1933
-
Monat
1933-04
- Tag 1933-04-19
-
Monat
1933-04
-
Jahr
1933
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 19.04.1933
- Autor
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Unterhaltungs - Stunde Sühn«. Skizze von G. W. Deininger. Der Märzsturni heulte um das schweigende Haus. Er rüttelte an den Fensterläden. Er tobte gegen die Mauern. Sie schienen über seine Wut leise zu lachen. Tenn die Wände um schlossen in dieser Nacht ein stilles Glück. Im großen Zimmer war Ruhe. Die Stehlampe warf die Scheibe ihres gedämpsten Lichts auf den Schreibtisch. Vera Oehms stützte den Kopf in die Hand. Eine Weiche Glückseligkeit hielt sie umfangen. Nur einmal zuckte es wie ein huschender Schatten über ihre Augen. Der Mund öffnete sich zaghaft, als wollte er eine Entschuldigung stammeln. Doch dann fuhr die Hand der jungen Frau über die Stirn, als wischte sie lästige Gedanken sort. Vera Oehms hüllte sich wieder in den Mantel glückseligen Sinnens, der wie ein Panzer gegen alles war, was da draußen fein mochte. Sie erwachte plötzlich. Sie öffnete die Mappe auf dem Schreibtisch vor ihr, griff nach der Feder. Sie brauchte nicht nach den Worten zu suchen. Sie flossen aus übervollem Herzen auf das Papier: „Liebster! Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon sitze, tatenlos, nur in Gedanken an die Stunden, die ich heute abend mit Dir erleben durfte. Mir ist es, als wäre oas Haus noch erfüllt von Dir, von Deiner Stimme, von den seltsamen Worten der Liebe, die ich aus Deinem Munde zum ersten Mal hörte. Mir ist es, als habe mein Leben jetzt erst begonnen. Was war es bisher? Das Leben eines reichen ver wöhnten Kindes, dem die Eltern in ihrer Sorge allos boten, alles beschafften, selbst den Gatten. Sie meinten es gut. Sie wollten mich vor einer Wahl beschützen, die vielleicht nicht die Gewähr für das bot, was sie für mein Glück hielten. Ich war gewohnt, den Eltern alle Sorgen zu überlassen, und ich nahm den Mann, den sie mir ausgesucht hatten. Ich glaubte wirklich, glücklich zu sein. Denn ich kannte das Glück ja gar nicht. Ich besaß einen Mann, der mir jeden Wunsch erfüllte, der nie ein Wort des Tadels fand. Ich wußte, daß er mich liebte, ich wußte, daß er stets mein Bild bei sich trug auf seinen langen Geschäftsreisen, um es allen Freunden, allen Bekannten zeigen und sagen zu können: ,Das ist meine schöne junge Frau? Ich hätte glücklich sein müssen. Wunschlos glücklich. Ich war es nicht. Vielleicht mußte ich zu oft allein sein. Vielleicht empfand ich deshalb Plötzlich eine Leere um mich. Ich machte mir Gedanken: Was war ich meinem Manne eigentlich anders als eine Puppe, die er bei der Rückkehr in ein Haus in irgend einer Ecke auf Kissen thronend fand, reundlich lächelnd, bereit, ihm zum Spielzeug und Zeitvertreib u dienen? War das die Aufgabe einer Frau, eines Lcbens- ameraden? Nein, ich wollte Anteil haben an dem Werk, das sem Leben erfüllte, seine Sorgen und Hoffnungen teilen. Er lachte mich aus. Er sagte, Sorgen und Gedanken an geschäftliche Dinge seien nichts Mr eine iunge Frau, die nichts anderes zu tun haben solle, als schön zu sein für ihren Mann. Er verstand nicht, warum ich nun weinte. Er begriff nicht, wie sehr er mich traf. Da lernte ich Dich kennen. Du hast mich im Anfang be stimmt nicht umworben. Du warst nicht einmal sehr höflich ju mir. Doch dann sahst Du zu Deinem Erstaunen, daß ich von Dir keine Schmeicheleien hören wollte, daß ich Anteil nahm an dem, was Dich bedrückte. Da kamst Du meinem Wunsch entgegen, da ließest Du mich Dein Kamerad werden. Und heute — ach, Du weißt ja selbst, was dazwischen lag, weißt, wie alles kam — heute genoß ich mit Dir das Glück! Ich will es in der Erinnerung auskosten. Ich will nicht an das denken, was uns vor den Menschen trennt, an meinen guten Mann. Ich will..." Vera Oehms hielt die Feder an. Sie hatte geschrieben, ohne einen Augenblick überlegen zu müssen. Doch letzt fehlten ihr plötzlich die Worte, „...an meinen guten Mann. Ich will ..." Sie wollte ja nicht an ihn denken und mußte es doch. Sie stützte den Kopf sinnend in die Hand. Sie dachte zum ersten Mal daran, wie dieses Abenteuer enden, nein, wie dieses Glück verlaufen... Plötzlich horchte Vera Oehms auf. Sie glaubte zwischen zwei Windstößen im Nebenzimmer Geräusche gehört zu haben. Ta! Sie wiederholten sich. War ihr Mann unerwartet von der Reise zurückgekehrt? Hastig schlug sie die Mappe über dem Briefe zu, ging zur Tür, öffnete sie. Ein Lichtstrahl fiel ihr blendend ins Gesicht. Sie sah eine Faust im Gummihandschuh, eine Pistolenmündung. Sie schrie auf: „Einbrecher!" Hörte einen Knall. Fühlte einen Schlag gegen die Brust. Sie siel zwischen der Tür zu Boden. Der Lichtstrahl versank. Eine große Müdigkeit senkte sich über Vera Oehms. Die Hand preßte sich auf die Wunde in der Brust, aus der das Blut sickern wollte. Die junge Frau lag ganz still. Sie fühlte, sie durste sich nicht bewegen, mußte liegen bleiben, bis man kam, denn sonst floh das Leben aus ihr. Sie dachte daran, wie man sie sinden uüd ihr helfen würde, wie sie müde in den Kissen liegen und von allen umhegt werden würde wie ein kleines Kind, von allen, am meisten von ihrem Mann. Ihr Mann! Heißer Schrecken fuhr schmerzhaft durch Vera Oehms Brust: Ihr Mann und der Brief dort in der Mappe! Er mußte ihn finden, er mußte ihn lesen, und sein Glück zerbrach. Nein, er durfte ihn nicht finden! Sie mußte den Brief vernichten, bevor man kam. Und ihr Leben? Auf dem Weg zum Schreibtisch, zum Ofen würde das Leben aus der Hand entfliehen, die es jetzt noch halten konnte, aus dem Wunden Körper flüchten, der zu schwach war, um die Qual der fünf zehn, zwanzig Schritte zu überstehen. Und doch wollte sie eher auf ihr Leven verzichten, als den Glauben ihres Mannes an sie zerstören. Das Schicksal forderte diesen Verzicht als Kauf preis für das Glück. „ ? Mit beiden Händen klammerte sich Vera Oehms an ost «Tür, richtete sich empor. Die Wunde schmerzte nur einer Augenblick. Nur einen Herzschlag lang fühlte die Frau das Blut rinnen. Dann stand sie schwankend vor dem Schreibtisch, schlug die Mappe auf, faßte nach dem Brief. Der Weg zum Ofen War unendlich weit. Wo stand der stumme Helfer, der Len Zeugen kurzen Glücks, den Zeugen des Verrats vernichten sollte? Vera Oehms sah ihn nicht mehr. Sie tastete nach ihm, kühlte den warmen Griff der Ofentür, riß daran, warf den Brief in die Glut, die ihre Finger heiß umloderte wie ein letzter Herzschlag. Dann versank Vera Oehms in ein Glück, frei von aller Erdenschwere, in ein Glück, das größer war als jenes kurze, um dessentwillen sie ihr Leben hingeben mußte. Der wassergreir. Aus einem Mexiko-Tagebuch, erzählt von Leo am Bru hl. Jetzt weiß ich auch, daß es nicht zu den angenehmen Dingen des Lebens gehört, eine endlose stockfinstere Nacht hindurch, wenn der Sturm das Wasser tonnenweise herunter kippt, ohne Decke und Mantel auf... Kochsalz zu liegen. Ein bißchen mehr Mut gestern abend, und wir hätten vielleicht doch noch irgendwo Unterschlupf gefunden. Aber Don Jaime, sonst kein Gespensterseher, beschwor mich, diesem geheimnisvollen „Wassergreis" nicht zu folgen. Gegen Morgen hatte es aufgeklart. Heute mußte wohl Sonntag sein; das ließe sich noch nachrechnen. Am Montag trennten wir uns von den anderen, weil sie, vom Fieber geschwächt, nicht mehr weiterkonnten. Ob wohl Lumbsden mein Vorhaben, das „Blinkende" allein zu suchen, als Bukatan-Koller bezeichnete, erklärte er sich doch bereit, vier Tage auf uns zu warten und erst am Freitag das Lager abzubrechen, um nach der alten Mahastadt Tikal zurückzugeheu; er gab mir sogar den Abzug seiner berühmten Flugzeugaufnahme mit, die mitten im Dschungel den seltsam blinkenden Gipfel und den merkwürdigen schwarzen Strich zeigte, den wir alle für eine verfallene Mauer hielten. Unsere Ausrüstung war geradezu Sturmgepäck und sollte es sein: Schiffszwieback, ein paar Konserven, zwei Beile, zwei Spaten, eine Taschenpistole und eine Vogclflinte, mein Photoapparat; dazu allerdings die große Tragkiste mit „Lumbsden-Urwald-Sprenggranaten". Lumbsden sagte beim Abschied nicht: „Auf Wiedersehen". Er würde recht behalten; denn schon hatte uns der Wald ge- sangen, wir zappelten im Netz seiner Geheimnisse. Kurz den Wegbericht: Montag und Dienstag halfen uns die Beile und Sprenggranaten verhältnismäßig rasch durch den von Schlinggewächsen verfilzten Regenwald. Im Laufe des Mittwochs gerieten wir in dichte Man- grovebesiände. Don Jaime verlor sein Handbeil und fand in einein trockenen Bachbett zwei behauene Verschlußsteine. Ausgesprochene Mayabildnerei, unzweifelhafte Mayahiero- glyphen, ein geflügelter Jaguar, das Sonnenzeichen des ge bogenen Hakenkreuzes. — Aufnahme 318,5 sek. Unsere Messungen stimmten, wirerreichten am Donners tag die Bambusdschungel. Tas Beil war nutzlos. Mit den Sprengkörpern mußten wir sparsam umgehen, Umwege ließen sich nicht vermeiden. Die Konserven waren ver braucht. Der Mestize suchte eßbare Wurzeln für mich, Käfer larven für sich. — Wir kamen schlecht vorwärts. Freitag, um Mittag, stießen wir in Kautschukwald; jetzt bahnte Don Jaime, erfahrener Chicle-Gummi-Sucher, schneller den Weg weiter. Er entdeckte als ersterden „schwarzen Strich", den Lumbsdens Flugbild zeigte. Keine Mauer, die zu über klettern war. Ein Graben, süns Meter breit, von Menschen hand mitten in die ansteigende Vergkuppe quer hinein gehauen, an den Rändern mit mächtigen Quadern mörtellos gemauert wie die uralten Tempel drüben in Chitzen-Jtza und Uxmal. In unbestimmbarer Tiefe grünliche Dämpfe, in beiden Mauerwänden mannshohe, mannsbrette Nischen. Türen? Fenster? Barg der Berg mit der rätselhaft blinken den Kuppel die goldenen Schätze des letzten Aztekenherrschers Montezuma? War das der Tempel, den schon Carmichael fand — verlor — solange wiedersuchte, bis er selbst nicht mehr gefunden werden konnte? Ich begann, sein Schicksal zu begreifen. In der Nacht berieten wir, wie über den Graben zu kommen sei, dessen jenseitiger Rand um etwa einen Meter höher lag. Mit den drei Sprengkapseln, die uns geblieben waren, schien jeder Umgehungsversuch aussichtslos. Jaime schlug vor, einen schweren Kautschukbaum mit Lianenstricken zu binden, ihn anzukappen und grabcnwärts abzusprengen. Der Plan gelang, und noch vor Einbruch der Dämmerung rutschten wir auf der schwankenden Brücke über den Maya graben. Nichts mehr hielt uns. Keuchend rannten wir über das eigentümlich morsche Gestein den Hang hinauf, bei jedem Schritt konnte sich das Wunder auftun, konnte das „Blin kende" greifbar vor uns liegen. Die Goldkuppel des Maya- Schatzhauscs? Oder? Wir liefen. Weiter! — Nichts. — Weiter, weiter! — Nichts. Nichts. Auf der Höhe — nichts, — verwitterter grauer staubender Stein. „Ahuehuetl!" schrie da plötzlich Don Jaime und stürzte lang hin. Ich beugte mich über ihn, schüttelte ihn, fragte, schrie, brüllte ihn an. „Siehst Du nicht den Ahuehuetl, den Wassergreis, Herr?" lallte er endlich, „er kommt auf uns zu, der Dämon des Gipfels, der Sturmrufer, der Regenmacher! Sein Mantel ist aus den Blättern der Zypresse gemacht, die selbst ,ahue- huetl' heißt. Wirf Dich nieder, Herr! Der stirbt binnen drei Tagen, dem der Wassergreis ins Gesicht schaut." Und wirklich, von drüben kam etwas auf uns zu, nebel haft und verschwommen, wie in grünlichen Dunst gehüllt. Ein Mann? Ein Mensch hier in der Dschungel? Jahr hunderte wahrte der Wald seine Geheimnisse, und hier sollte ein menschliches Wesen Hausen? — Schreck einer Sekunde: John Carmichael? — Die Pistole. Fort. Sie fiel mir wahr scheinlich aus der Tasche, als ich über den Graben kroch. „Nieder, Herr! Halte Dich!" schrie der Mestize, toll vor Angst. „Der Wafsergreis wendet sich. Die Wolken brechen über uns..." Ich warf mich nicht nieder, der Sturm legte mich um. Wild brach die Regenflut auf uns herab. In einer halben Minute war der Boden unter uns blank wie ein Spiegel and glatt wie Eis — frei liegendes Bergsalz! Ein Salzfeld, das war die Lösung des Rätsels von der „blinkenden Höhe", Sie Lumbsden kurz nach einem Regen ausgenommen haben inußte. Salz! Und kein goldenes oder gläsernes Dach über einem unterirdischen Mayapalast. Es ist nicht angenehm, eine nasse Nacht über auf Salz zu liegen. In der Frühe war Jaime drunten am Graben. Der Sturm hatte unsere Baumbrücke in die Schlucht hinunter geworfen. Gefangen im Reiche des Wassergreises. Wer war, was war der Wassergreis? Zwei Stunden später: ich habe den Ahuehuetl gesprochen! Er kam nebelhaft wie gestern. Jaime fiel auf sein Angesicht. Ich ging dem Gespenst mit der Vogelflinte entgegen: ein Indio, sonst nichts. „Wer bist Du? Was treibst Du hier? Sprich!" fuhr ich ihn an. „Ich gehe meinem Geschäft nach, Herr", antwortete der Dämon, „brauchst Du neue Hosenträger? Billig!" Der grimme Ahuehuetl unterhielt hier oben einen AramMden und verkaufte Fünfundzwanziavkennia-Wareu an ksi^JMMbWöZj7Tä^ aüs hierher kamen, um Salz aus dem alten Salzbergwerk zu holen, dessen Stollen — wie die Nischen in der Grabenmauer — noch zugänglich waren. Und hierher, von der anderen Seite her natürlich, führte ein ausgewachsener Jndranerpfad, den jedes Kind kannte. Der Wassergreis hatte gestern den Regen nicht gemacht, er war vor dem Unwetter nur rechtzeitig gefluchtet. Den tapferen Don Jaime, der den Wald m Bukatan und Campeche wie seine offene Hand zu kennen vorgab, habe ich noch hier oben — aus dem „Blinkenden" — entlohnt. Gin übersinnlich«» Erlebnis. Erzählung von Ramön del Valle-JnclL'n. (Berecht.Uebertrag. aus dem Spanischen von Ines E. Manz.) Aus meiner Kinderzeit ist mir eine alte, adelige Freundin meiner Großmutter unvergeßlich. Man konnte Dona Soledad den ganzen Tag am Balkonfenster ihrer Wohnung, mit der Katze auf dem Schoß, stricken sehen. Ihren freudlosen Zügen sah man an, daß sie niemand hatte, der ihr Liebes erwies. Sie war groß und hager, dichte, weiße Strähnen im dunklen Haar. Immer wußte sie gruselige Geschichten. In der Mitter nachtsstille behauptete sie das Flügelrauschen abgeschiedener Seelen zu hören und im Spiegel die brechenden Augen der Menschen zu sehen, die im Sterben lägen. Wenn sie zu Be such kam, wärmte sie zuerst die dürren Finger über dem Kohlenbecken. Dann holte sie umständlich das Strickzeug aus dem roten Samtridikül, setzte sich neben Großmutter aufs Kanapee und begann unter Seufzern ihre Arbeit. Einmal saß ich schläfrig auf dem Schoß meiner Mutter, als ich den magnetischen Blick der grünen Augen fühlte. Mutter merkte es wohl auch, denn sie nahm mich fester in die Arme. Doüa Soledad unterhielt sich leise mit Großmutter. Mutter atmete kaum. Ich begriff, daß sie verstehen wollte, was ge sprochen wurde. Die Uhr schlug. Großmutter wischte sich die Augen und sagte mit zittriger Stimme zu meiner Mutter: „Bring doch das Kind zu Bett!" Mutter trug mich zu den Damen, damit ich gute Nacht sagte. Doüa Soledad fuhr mir mit ihren Mumienfingeru über das Gesicht. Ich fürchtete mich mehr als je vor ihr. „Wie Du ihm ähnlich siehst!" j Großmutter küßte mich und sagte leise: „Bete für ihn^ Kind!" Sie sprachen vom Vater, der aus politischen Gründen im Gefängnis war. Ich schmiegte mich an die Mutter, die mich an sich preßte. „Wie traurig wir beide daran sind, Kind!" Dann erstickte sie mich fast mit Küssen. Ihre schönen Augen wurden übergroß als sie ganz verzweifelt sagte: „Ich fühle, Saß uns neues Unglück droht." Das Geklapper der Stricknadeln setzte aus. Sibhllen- haft, mit einer Stimme, die weither zu kommen schien, sagte Dona Soledad: „Deinem Manne geschieht nichts." Großmutter mahnte wieder: „Bringe doch das Kind zu Bett!" Ich klammerte mich an die Mutter und schrie: „Ich will aicht zu Bett. Ich fürchte mich allein!" Mutter streichelte mich. Aber ihre Hand war so unruhig, Saß sie mir fast Weh tat. Unter Tränen bat sie: „Quälen Sie mich nicht, Doüa Soledad! Sagen Sie mir, was Sie von meinem Manne wifsen! Ich habe Mut, Sie können es mir jagen." Ein merkwürdiger Blick streifte uns. Die dürren Finger jetzten die Nadeln wieder in Bewegung. In visionärem Ton jagte sie: „Deinem Manne geschieht nichts. Ein guter Geist jchützt ihn. Aber er hat Blut vergossen." Leise, tonlos sprach Mutter es nach: „Er hat Blut ver- zossen..." „Heute abend ist er aus dem Gefängnis geflohen, nach Sem er den Wärter erstochen hat. Ich sah es im Traum." Mutter sank mit einem schwachen Schrei in den nächsten Sessel. Aber in ihrem Blick lag eine traurige Hoffnung. Mit serkrampften Händen fragte sie: „Ist er in Sicherheit?" „Ich weiß es nicht." „Könnten Sie es nicht erfahren?" „Ich will es versuchen." Lange blieb es still. Mich schüttelte das Grauen. Im Zimmer war es fast dunkel. Bon der Straße klang das Geigen- jpiel eines Bettlers herauf, das Nonnenkloster begann eine ueuntägige Andacht einzuläuten. Doüa Soledad stand auf und sing unhörbar zur Hinteren Wand des großen Raumes. Ihre Sunkle Gestalt verschwamm fast mit den Schatten. Nach einer Weile hörten wir sie wie unter einem schweren Albdruck atmen. Ich weinte vor Angst still vor mich hin, aber meine Mutter beschwichtigte mich erregt und ungeduldig: „Sei still! Wir sollen erfayren, wie es Vater geht." Ich nahm mich zusammen und starrte Doüa Soledad an. Mutter fragte scheu: „Sehen Sie ihn?" „Ja, ich sehe ihn... Er ist in Gefahr, aber niemand verfolgt ihn. Er steht am Flußufer und überlegt, ob er hin durchwaten soll. Der Fluß ist breit wie ein D^er." „Heilige Mutter Gottes, hindere ihn!" „Drüben am anderen User ist ein Schwarm weißer Tauben." „Ist er gerettet?" „Ja... ihn schützt ein guter Geist, der stärker ist als der böse Geist des Toten. Aber das vergossene Blut sehe ich auf ein unschuldiges Haupt fallen. Tropfen für Tropfen..." Eine Tür ging. Wir fühlten alle, daß jemand hereinkam. Das Haar stand mir zu Berge. Ein kalter Wind strich mir über die Stirn. Unsichtbare Hände wollten mich von Mutters Schoß zerren. Ich wehrte mich entsetzt, aber ich brachte keinen Ton heraus. Im Spiegel sah ich verschwommen die Augen eines bleichen Gesichts. Im blutüberströmten Hals steckte der Dolch. Mutter sah meine Angst. Sie drückte mich fest an sich. Ich zeigte auf den Spiegel, aber sie sah nichts. Da ließ Doüa Soledad die Arme sinken, die sie bis dahin regungslos über den Kopf gehalten hatte. Wie aus nebel weiter Ferne kam sie vom anderen Ende des Salons auf uns zu. „Nur das Kind hat es zu sehen vermocht. Tropfen für Tropfen des vergossenen Blutes wird über sein unschuldiges Haupt kommen. Der rächende Schatten des Toten umkreist ihn. Während seines ganzen Lebens wird er um ihn sein. Er ist ein böser, unerbittlicher Geist, denn die Seele ist in ihren Sünden dahin gefahren. Eines Tages wird er den Dolch aus der Kehle ziehen und Mu Schuldlosen verwunden." — Lange blieb mir das Grauen dieses Gesichts. Oft glaubte ich den 'Gespensterschritt zu hören, der mich unversöhnlich, verderbenbringend begleitete. In den dreißig Jahren meines Lebens ließ er nie zu, daß mein Inneres sich von dem Druck befreite. Nicht in Stunden ungestümer Leidenschaft und nicht im reinsten Begehren. Jederzeit und selbst jetzt Hore ich den leisen Schritt meines Kerkermeisters,
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