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Wilsdruffer Tageblatt : 21.06.1933
- Erscheinungsdatum
- 1933-06-21
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-193306211
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19330621
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19330621
- Sammlungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Zeitungen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1933
-
Monat
1933-06
- Tag 1933-06-21
-
Monat
1933-06
-
Jahr
1933
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 21.06.1933
- Autor
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Unterhaltungs-Ztunäe. Meister Schiffer; großes Los. Skizze von Frank Stoldt-Berlin. Der Kleinbahnzug zuckelte bedächtig auf die Küste zu. Aus einem Abteilfenster beugte sich ein aller Herr und ließ keinen Blick von dem schmalen, Hellen Streifen am Horizont. Das Meer, das Meer! Hierher gog es ihn seit seiner Jugend. Fremde Völker hatte er sehen wollen, Abenteuer erleben, in Stürmen seinen Mann stehen. Aber es war nichts daraus ge worden. Ein still ablaufendes Leben in einer Mittelstadt im Binnenland führte mählich zu einsamem Alter und einem kleinen Ruhegehalt. Die Seefahrt... Ein kleines Schmunzeln flog um den Mund des pensionierten Werkmeisters. Er hatte es nicht weiter gebracht, als daß ihn Kollegen und Vorgesetzte wegen seiner Vorliebe für blaues Tuch und seemännische Ausdrücke „Kapitän" riefen. Manche wußten nicht einmal, daß er Schiffer hieß. „Neuenhafen! Alles aussteigen!" Der kleine spitzbärtige Herr mit der altmodischen Reise tasche wunderte sich, als ihm auf dem fast menschenleeren Bahnsteig eine Gestalt in feierlichem Gehrock gegenübertrat, ihm die Hand schüttelte und freudig ausrief: „Gestatten Sie: Kurdirektor Brandes! Wir begrüßen Sie herzlich in unserem schönen Badeort, Herr Kapitän. Möge Ihr Aufenthalt dazu beitragen, unserem Städtchen das wirkliche Gepräge eines ruhigen Hafens zu geben, Herr...?" „Schiffer!" antwortete der soeben Angekommene verblüfft. „Aber erlauben Sie, ich weiß wirklich nicht, was mir die Ehre Dieses Empfanges verschafft." Der andere lächelte geheimnisvoll. „Wir würdigen Ihre Zurückhaltung vollkommen, lieber Herr Kapitän. Es war ja «uch unsere Absicht, in durchaus unauffälliger Weise unserem Seebad jenen letzten Hauch von Ursprünglichkeit zu geben, den »das Publikum nun einmal verlangt. Wir haben Sie daher auch -nicht im Kurhotel untergebracht, sondern in einer wunderschön «gelegenen Fischerhütte hinter dem Bollwerk. Sie werden sich -ort sehr Wohl fühlen. Da sind wir schon!" Die beiden Sprechenden waren eine kurze Strecke Wegs nm Hafen entlang gegangen, und der Direktor öffnete jetzt die «Pforte zum Garten eines efeuberankten, niedrigen Hauses. Er «zog die altertümliche Schelle. Eine Frau mittleren Alters Wnete die Tür und knixte freundlich. „Frau Hartmann, hier ist Ihr neuer Mieter. Machen Sie ihm das Leben gemütlich! Auf Wiedersehen, mein lieber iKapitän! Alles Weitere finden Sie drinnen. Bis heute nach mittag!" „Auf Wiedersehen, Herr Direktor!" antwortete Schiffer Kopfschüttelnd und trat in einen hohen, halbdunklcn Flur, an -dessen Wänden allerlei ausländische Raritäten hingen. Hai- sischgebisse, eine Gallionsfigur, Südseemasken, ein ausgestopfter Alligator und Kästen mit tropischen Schmetterlingen gaben sich ein buntes Stelldicbein. „Frau Hartmann, ich war gar nicht auf einen solchen Empfang vorbereitet. Mein Koffer ist noch an der Bahn." „Ach", sagte die Wirtin, „das besorgt alles die Kurver waltung. Hier rechts ist Ihr Zimmer, Herr Kapitän. Alles in Ordnung." Der rundliche, alte Herr sah auf die gerahmten Schiffs bilder an den Wänden, auf d:e blütenweißen Gardinen, die bunten Blumen im Erker und auf die Behaglichkeit des ganzen Raumes. Er strich gedankenvoll über seinen weißen Spitzbart und murmelte betrübt: „Aber ich bin gar kein Kapitän, Frau Hartmann." Die Wirtin lachte. „Aber das tut doch nichts. Seemann bleibt Seemann, ob Steuermann, Kapitän oder Schiffer. Wünschen Sie jetzt etwas zu trinken oder zu rauchen? In diesem Schranke liegen die Kalkpfeifen, und hier rechts steht Ler Rum. Aber nicht zu nördlich, Herr Kapitän! Man weiß ja, wie Seeleute sind. Ich bringe gleich heißes Wasser und Zucker." Sie nickte schelmisch und schloß hinter sich die Tür. Meister Schiffer sah auf dem geschnitzten Schreibtisch einen offenen Briefbogen liegen und las mit immer größer wer denden Augen: „Sehr geehrter Herr Kapitän! — Wir bitten um möglichste Innehaltung folgender Vorschriften. Bei schönem Wetter begibt sich der wachhabende Kapitän vor mittags zum Bollwerk und beobachtet die Segelboote am kleinen Hafen. Kautabak oder kurze Pfeife. Morqengrog im .Goldenen Anker'. Nachmittags Spaziergang auf der Kur- prominade, abends auf der Terrasse. Zigarren bei der Kur verwaltung! — Bei schlechtem Wetter ist es erwünscht, daß bei Besuchen von Kurgästen im Hause eine seemännische At mosphäre herrscht. Schnitzmodelle, Werkzeug, Karten und Globen bei Frau Hartmann. Uniformröcke und Mützen eben daselbst. — Die Kurdirektion." Schiffer setzte sich, ihm wurde schwach in den Knien. Er dachte nach. Sollte er dies Geschenk, das ihm das Schicksal offenbar in den Schoß warf, auffangen oder abweiscn? Die wiederkehrende Wirtin fand den alten Herrn beim Besichtigen der Uniformen. Nachmittags wandelte Meister Schiffer in großer Gala zum Kurhaus. Es war, als ob er nur heimgekehrt sei. Man grüßte ihn von rechts und links. Di rektor Brandes enipfing ihn mit ausgestreckter Hand: „Nun, Kapitän, einverstanden?" Schiffer schlug ein. „Ein echter Seemannsschlag", lobte sein Gegenüber, „also alles im Lot. Kost und Wohnung frei, dazu Tabak und starke Getränke. Bleiben Sie lange bei uns! Wo haben Sie unsere Anzeige gefunden: ,Seriöser Seemann gesucht für Vertrauens stellung'? — Wie? Die haben Sie gar nicht gelesen und kom men hier angereist, der Kapitän, wie er im Buche steht? Welch glückliche Fügung! So, wie Sie aussehen, etwas behäbig, rundes, sonnenverbranntes Gesicht, weißer Schnauzbart, blaue Augen, so hatten wir uns Sie gedacht." „Aber ich bin doch gar kein Kapitän." Der Direktor klopfte ihm begütigend auf die Schulter. „Lieber Herr Schiffer! Wenn ma ' so echt aussieht Wie-EM, braucht man keine Zeugnisse und Referenzen. Für unsern Neuenhafen sind Sie nicht nur Kapitän, sondern ,der' Ka pitän. Gefällt es Ihnen bei uns?" „Großartig!" — Im frischen Morgenwind sieht man am Bollwerk in Neuenhafen bedächtig einen alten Herrn durch das Fernrohr über das Meer schauen. Mädels und Jungens fragen den alten Seebären nach Abenteuern und Seeromanlik, und man muß Kapitän Schiffer gesehen und gehört haben, wie er bei Windstärke 12 um Kap Horn segelt! Die Augen leuchten, und mit Handbewegungen zeigt er, wie wilde Seen über das Deck stürzten und knallend das Großsegel fortflog. Er glaubt es bald selbst, daß er das alles erlebt hat. Er träumt den schönsten Traum seines Lebens, spät, aber im Abendglanz friedvoller Beschaulichkeit. Ser Amerikaner und die Rösche- Humoreske von Otto Boris. Christoph Möller hatte die Pferde abgefüttert und ließ sich auf der Bank unter den alten Eichen nieder. Er schielte yeimlich nach seinem jungfrischen Weibchen hinüber, das noch mit dem Milchgerät hantierte. Der Sommerabend war lau, Sarum setzte sich die Bäuerin zu ihrem Manne. Der flüchtete sich in sein Piepengerät, um nicht zu verraten, wie verliebt kr war. Sie fing an zu plaudern: „Was mag das für einer sein, der Onkel Möller aus Amerika? Ob er Millionen hat? Die Großmutter sagt, er sei ein rechter Vetter von ihr. Vielleicht ist er kinderlos. Das wäre etwas für unser Mädel und den Fungen!" Christoph fühlte sich verpflichtet, ihren Optimismus zu dämpfen: „Nachher ist's womöglich ein Ströper, nnd wir können ihn noch durchsüttern." Sie wollte Einspruch erheben, aber da gings' los. »Breckereck—kek—kek! Breckereckkeck—kek!" Hub der Vorsänger m, und der Chor stimmte ungeduldig ein: „Arre—arre— irre." Es war kein Wort zu verstehen.' Frau Lisbeth war ungehalten. „Dies Ungeziefer!" cief sie empört und schritt dem Hanse zu. Stoffel aber streckte behaglich seine unendlich langen Reine, schmökte und lächelte mild, als wenn friedlicher Mond schein seine Züge verklärte: „So'n Poggensang an'n Fier awend paßt wie Rum in den Grog." „Eenem sin Uhl is dem andern sin Nachtigall", gab Lisbeth gehässig zurück. — Der nächste Abend kam. Unter den Eichen saß zwischen den Eheleuten ein langer, hagerer, faltiger Mann. Er war die amerikanische Ausgabe des Stoffel Müller. Die Männer rauchten und schwiegen. Allein Lisbeths flinke Zunge be lebte die Gesellschaft. Der Onkel fühlte sich endlich bemüßigt zu sagen: „Well, hier ist gut für einen Lebensabend. Hier ist still, angenehm für mein Leberleiden. Ich werde bleiben. Gut ist es auf dem Friedhof zu schlafen, wo der Vater liegt." „Frau, Kinder oder andere Verwandte hast Du nicht?" fragte Lisbeth. „Aounggeselle", war die knappe Antwort. Lrsbeth durchzuckte ein freudiger Schreck: „Soll ich dir ein Gläschen Grog machen, Onkelchen?" „Oh, sehr gern. Es ist wonderfull hier", lächelte der Onkel, denn er hatte sich das deutsche Gemüt bewahrt. Die Unterhaltung riß ab; denn es ging los: „Breckkereck —keck—keck—" Und: „Arre—arre—arre!" siel der Chor ein. Der Onkel stutzte: „Woher sein das?" schrie er Stoffel ins Ohr. „Jä", schmunzelte dieser, „so wat habt Ihr dort drüben nicht. Dort lewt nur de grausliche Ochsenfrosch." Der Onkel betrachtete den glücklichen Besitzer des Poggen pfuhls mit Blicken, wie man einen Geistigminderwertigen anzufchauen Pflegt. Dann stand er wortlos auf, raffte einen Armvoll zertrümmerter Ziegelsteine zusammen und schritt entschlossen hinter das Haus. Man hörte mehrfach plumpsen. Das Konzert war abgerissen. Schweigend rauchte der Onkel weiter. Lisbeth sah nicht ohne Besorgnis die Moorspritzer aus dem Hellen Anzug und im Gesicht des Alten. Schon wollte der Amerikaner sein Gesicht zu einem friedvollen Lächeln verziehen, da meldete es sich schüchtern: „Brecke—reck-keck—keck." Der Chor schien auf diesen ersten Ton gespannt gewartet zu haben. Er setzte mit gesteigerter Heftigkeit ein. Lisbeth war entsetzt, um so mehr, als Onkels Schlafgemach dem Tümpel zugekehrt lag. Der Alte erhob sich schweigend. Dann sammelte er soviel Steine und andere Wurfgeschosse, wie er erreichen konnte, und trug sie in sein Zimmer. Sie hörte mehrfach Steine ins Wasser plumpsen und zuweilen leise Flüche. Am nächsten Tage streichelte der Onkel ihr verkatertes Gesicht: „Oh, ich Weiche nicht vor Frösche.. Ich laß mich nicht von diese Untiere verdrängen! Sie müssen nachgeben, aus ziehen müssen sie, wenn sie nicht singen können." Stoffel war anderer Meinung: „Wat een rechten Poog is, de blifft unverbesserlich", meinte er und behielt recht. Nach zwei Tagen schaffte der Onkel bereits seine Wurfgeschosse schwitzend aus dem Felde auf einem Schubkarren heran. Frau Lisbeth lag ihrem Mann in den Ohren, er solle einschreiten, der aber lehnte recht möllersch jede Einmischung ab. Ebenso verzichtete der Onkel auf ein Quartier bei Be kannten im Dorfe. Er blieb dabei, daß er den Fröschen nicht Weichen wolle. Eines Nachts fehlten ihm die Wurfgeschosse. Er ging im Nachthemde zum Angriff über und schlug mit einem langen Brett ins Wasser. Dabei bemerkte er, daß seine bloße Erscheinung die Frösche verstummen machte. Sie mochten die lange, Weiße, spindeldürre Gestalt für einen Riesenstorch gehalten haben. Nun kam er auf den Gedanken, Frosch scheuchen aufzustellen. Der Tümpel sah seitdem recht wunder lich aus. Eine einzige Nacht hals das Wohl, dann aber siegte die Sangcslust wieder über alle Bedenken. Nun begann der Onkel, die Frösche zu speeren. Er fertigte sich sogar eine Angel mit einem richtigen Fischhaken an und köderte die Feinde mit Grashüpfern. Auch kam er auf den sinnreichen Gedanken, die Grünröcke, die am Tage ihre Nase in die Sonne streckten, mit einer Schlinge aus Pferdehaaren zu Haschen. Aber es nützte alles nichts. Da brachte er aus der nahen Großstadt einen Riesen- zuber lebender Hechte. Diese Tat bewies Lisbeth, daß der Onkel wirklich reich sein müsse. Das half. Die Sänger wurden rasch derart dezimiert, daß der Chor nur recht mäßig besetzt werden konnte. Als er ganz verstummt war, trieben die Hechte aufgedunsen an Land. Sie hatten sich nach dem langen Fasten im Fischladen überfressen und waren ein gegangen. Der Chor lebte wieder aus. Anscheinend nahmen Nach barfrösche sich des vereinsamten Teiches an. Der amerikanische Möller wurde quittengelb vor Aerger. Er ging nun Stoffel zu Leibe: „Du wirft lassen diese Tümpel zuschütten. Und ich werde bezahlen 500 Dollar. Macht für jede Frosch 2)4 Dollar. Außerdem hast du noch ein Stück Neuland." Stoffel lehnte das Anerbieten ab. Er ließe sich nicht be stechen, log er. Bei sich aber dachte er: „Ja, wat een deutscher Pogg is, de läßt sik von einem Amerikaner nich dal kriegen." Der Onkel zog aus. Dachte Stoffel nun aber seine Ruhe zu haben, so irrte er sich. Die schönen Feierabende mit seiner Lisbeth unter den Eichen waren endgültig vorbei. Sie konnte nun die Frösche ebensowenig hören wie der geflüchtete Onkel. Heim lich weinte sie den Millionen nach. Ost sah Stoffel ihre ge röteten Augen, ihr verhärmtes Gesicht. Jetzt begann es auch in ihm zu kribbeln. Er fand das Froschlied bei weitem^ nicht mehr so schön wie sonst. Ja er warf eines Tages einen Klumpen Erde in den Teig und knurrte: „Hol ji dat Mul!" Mehrfach versuchte er mit seinem Weibchen Frieden zu schließen: „Kiek mal, Lisbeth, de Pogge hab' ich vom Groß vater geerbt, un da darf kein Amerikaner mir in den Kram fuschen, un wenn er auch Millionen hat. Zuschütten, dat fehlte grab' auch noch. Wo bleiben denn unsere Enten? Ja, un von wo willst du das Wasser für das Gemüse holen?" Das Weibchen war weitaus Praktischer: „Wem: du auch an die Millionen nicht glaubst, so zahlte der Onkel doch zwei Dollar täglich. Er unterhielt nicht nur uns alle, sondern wir konnten auch noch sparen. Du bist ein Esel." Stoffel machte einen ungeschickten Versuch, sie um die Taille zu fassen, aber da spreizte sie ihm die Finger wie Krallen entgegen. Er sah eine neue, ihm bis dahin un bekannte Wut in ihren Augen funkeln. Nun war das Faß auch bei ihm leck: „De verfluchte Pogge! Dat fehlte grab' auch noch, dat sie sich in mine Ehe einmischen!" Kurz entschlossen schritt er zum Schrank, nahm einen von Onkels Dollars, holte aus dem Kramladen zehn Liter Petroleum und entleerte sie mit einem Gefühl, gemischt aus leisem Bedauern und Rachedurst in den Teich. Der Chor war endgültig verstummt. Auf solch einen stinkigen Angriff hatten die Frösche nichts mehr zu erwidern. Und als ob er es ahnte, fand sich auch der Onkel ein. Lang, hager und grau stand er eines Abends unter den Eichen: „Ich will Dir geben zehntausend Dollars, wenn Du den Teich läßt zuschütten. Ich Weiche nicht einem Frosch!" Er lauschte, vernahm aber keinen der verhaßten Töne, da umarmte er Stoffel, küßte Lisbeth und die Kinder und lächelte glücklich: „Nun werde.ich bleiben." Sie W der Milden. Kriminalskizze von Kurt Miethke. Frau Mark richtete sich im Bette auf. Es war der Blin den, als habe sie ein Geräusch in ihrer Wohnung gehört. Draußen auf dem Gang ließ sich ein leichter Schritt ver nehmen. Nun hörte sie, wie die Klinke vorsichtig herunter gedrückt wurde und die Tür sich öffnete. Der nächtliche Eindringling kam auf ihr Bett zu. Sie spürte, wie eine kräftige Mannerhand zupackte und ihr einen Knebel in den Mund schob. Sie versuchte sich gegen den brutalen Besucher zu wehren, aber sie mußte bald einsehen, daß es ein vergebliches Bemühen war. Sie wurde an Hän den und Füßen gefesselt. Die ledernen Riemen schnitten in ihr Fleisch, und ein dumpfes Stöhnen entpreßte sich ihrem Munde, in dem der Knebel saß. Sie sank zurück, wie be täubt, aber nur einen Augenblick. Sie beschloß, sich zu weh ren, ja, sie, die arme, gefesselte alte Frau, hatte noch eine Waffe übrig behalten, und das war ihr Gehör. Sie horchte gespannt auf die Dinge, die sich in ihrem Zimmer abspielten. Der Eindringling ging mit sicheren Schritten zu der Truhe, die in der Ecke des Zimmers stand, und brach sie ans. Dann hörte die Frau, wie er darin herum wühlte, wie er das Blechkästchen fand, in dem ihr ganzes Geld lag, ein paar tausend Mark, die sie sich von ihrer kärglichen Rente in langen Jahren zusammengespart hatte. Sie hörte auch, wie das Kästchen geöffnet wurde und wie ihm raschelnde Scheine entnommen wurden. Dann entfernte sich der Dieb, auf den Zehenspitzen hinausschleichend ... Am nächsten Morgen um acht Uhr kam die Aufwartefrau wie alle Tage, fand Frau Mark gefesselt im Bett vor, stieß einen Schrei des Entsetzens aus, löste die Riemen, nahm ihr den Knebel aus dem Mund und holte die Polizei. Eine Viertelstunde später war Kommissar Kay zur Stelle. Er untersuchte das Zimmer genau, sand jedoch keinen Anhaltspunkt für den Täter. Da fiel sein Blick auf die Wanduhr. Die Uhr zeigte auf halb fünf. „Wann ist die Uhr stehen geblieben, Frau Mark?" „Gestern nachmittag. Mein Neffe Edgar war da, hat mich besucht. Die Uhr blieb immer etwas zurück: da bat ich ihn, sie richtig zu stellen. Er zog sie bei dieser Gelegenheit auf, und dabei ist Sie Feder gebrochen." „Hm. So daß Sie also außerstande waren, am Schla gen der Uhr festzustellen, um welche Zeit die Tat geschah?" „Ja." Kay ließ sich die Adresse des Neffen geben und schickte einen Beamten zu ihm. Der junge Mann erschien nach einer halben Stunde, sehr erregt, und "fragte mit erstauntem Ge sicht, was denn geschehen sei. „Hier fragen nicht Sie, sondern das ist meine Sache", erwiderte Kay. „Wo waren Sie gestern abend?" „In der Konditorei Beermann." „Das ist ja ganz hier in der Nähe. Versuchen Sie, einen oder zwei Bediente der Konditorei hierherzubekommen!" be fahl Kay seinem Beamten. Ein Kellner wurde nach kurzer Zeit vorgeführt, der aussagte, daß der Neffe in der Tat gestern in der Konditorei gewesen sei. Er kenne den Herrn genau und irre sich nicht. „Den ganzen Abend?" erkundigte sich Kay. „Ja, das heißt — genau kann ich es nicht sagen. Eine Zeitlang habe ich Herrn Edgar nicht gesehen." „Wann haben Sie ihn nicht gesehen?" „Ich glaube, es war so zwischen elf und Zwölf. . ." Da aber richtete sich Frau Mark auf und sagte mit leiser, fester Stimme: „Und um elf Uhr zweiundzwanzig ist der Dieb in meine Wohnung gekommen!" Kay telephonierte. In der Wohnung des Neffen fand eine Haussuchung statt, bei der das gestohlene Geld gefunden wurde. Nur ein Hundertmarkschein fehlte. Edgar brach zu sammen. Er gestand, daß er der Räuber war. Er hatte Wett verluste gehabt, aus der Geschäftskasse Summen entnommen und nun, da eine Revision bevorstand, das Geld wieder auf bringen müssen... „Und nun sagen Sie mir, Frau Mark", fragte Kay, als man den Dieb abgeführt hatte, „wie Sie die Zeit des Dieb stahls bis auf die Minute feststcllen konnten, ohne daß Sie eine Uhr im Zimmer hatten, die ging. Denn daß Ihr sau berer Neffe sie mit Absicht beschädigte, um seinem Alibi eine Grundlage zu geben, ist Ihnen doch klar?" Frau Mark lächelte: „Als Blinde war ich von jeher auf mein Gehör angewiesen. Als der Bursche mich gefesselt hatte, erwachte meine ganze Energie in mir. Ich horchte aufmerk sam — draußen ging ein Stadtbahnzug vorüber. Und dann schuf ich mir meine Uhr, Herr Kommissar. Ich zählte vier zehn Stadtbahnzüge. Alle sieben Minuten fährt einer vorüber. Vierzehn Züge, das macht 98 Minuten. Da um ein Uhr nachts der letzte Zug fährt, ist der Dieb 98 Minuten vor eins bei mir eingedrungen, also um 11 Uhr 22. Er konnte Wohl meine Wanduhr außer Betrieb setzen, der Spitz bube — aber die Stadtbahn konnte er nicht abstellen."
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