Suche löschen...
Wilsdruffer Tageblatt : 07.02.1933
- Erscheinungsdatum
- 1933-02-07
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-193302071
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19330207
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19330207
- Sammlungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Saxonica
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1933
-
Monat
1933-02
- Tag 1933-02-07
-
Monat
1933-02
-
Jahr
1933
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 07.02.1933
- Autor
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Anterhaltungs-Stunde An der Wildfntternng. Was der heimlich beobachtende Heger erlebt. Von Wilhelm Hochgreve. Durch meierhohen Schnee stapfe ich hinauf nach bei großen Hauptfütterung. Das Heu ist aus den Raufen heraus gerissen und größtenteils aufgeäst, von den Kastanien ist nich eine mehr vorhanden, während die Eicheln etwa zur Hälft! verschwunden sind. Ich lege meinen Rucksack auf den großer Stein, der als Tritt bei der Füllung der Raufen dient, unt warte hier das Erscheinen des Jagdhüters ab. Langeweili gibt's nicht. Drei Eichelhäher sorgen für meine Kurzweil Da ich ziemlich gedeckt unter überhängendem Heu sitze, streichen die frechen Burschen, immer einer nach dem andern bis vor meine Füße und klauen jedesmal eine Eichel, dn sie verschleppen. In zehn Minuten sind sämtliche Eicheln fortgetragen. Da erscheint der Jagdhüter. Wir füllen die Raufer frisch und geben eine tüchtige Beigabe von Kastanien, Eicheln und Rüben. Die Hartfrüchte lassen wir in den Kästen rasseln, bevor wir sie ausschütten. Das Wild kennt diese- Zeichen. Tann setzen wir uns im Heuschober vor einen Beobachtungsspalte an, d. h. wir legen uns zunächst lang auf das über vier Meter hoch geschichtete Hsu, um ausruhent der kommenden Dinge zu harren. Mein Ohr, so scharf wn beim Jagdhüter das Äuge, muß uns die Annäherung jeg lichen Wildes verraten. Noch zehn Minuten lang tragen du drei bunten Zigeuner Eicheln fort. Das bedeutet eine Mah nung für uns, diefe Früchte immer erst kurz vor Beginn der Dämmerung zu streuen, damit sie ganz dem Wilde zu gute kommen. Wieder mache ich mich im Heu lang. Die Häher haben ihre Schlafbäume in der Dickung bezogen und träumen wohl von ihren reichen Eichelschätzen, die wer weiß wo stecken mögen. Im Gebälk über uns beginnt die Schleier eule zu „schnarchen", bei ihrer Sippe das Zeichen des Munterwerdens. Da höre ich Wild hcranziehen. Ich werde hoch und sehe ein Kalb die Kastanien annehmen, während das Alttier immer länger werdend nach dem Stein windet, auf dem vor über einer halben Stunde mein Rucksack als Sitzunterlage für mich lag. Immer wieder ruckt das Tier zusammen; verdächtig war dem feinen Windfang die dem Stein noch anhaftende schwache Witterung. Bald aber krachen die ersten Kastanien auch im Geäse des Alttiers. Ich stoße den eingedösten Jagdhüter an und richte mich höher auf. Das Alttier mit Kalb naschen mit einer Gier, die an- zusehcn ein schöner schneller Lohn für unsere heute geleistete Hegearbeit war. Und von allen Seiten ziehen sie letzt rudel weise heran, von unten sechs Stück, von oben vier, sechs, acht Stück und von der Seite drei geringe Hirsche. Zuerst an die Kastanien! Ist das ein Krackten und Gnurpen, ein futterneidisches Hin und Her wobei die Hirsche ihre Stangen ausgiebig benutzen um namentlich die geringen Stücke abzuschlagen oder wenigstens beiseite zu drängen. Neunzehn Stück Wild kann ich zählen. Auf einmal gibt's ein Poltern und Brechen, und alles flüchtet. Mit Aus nahme eines vorwitzigen Sechserhirsches, der sich durch die Schutzstangen der nur für Kahlwild bestimmten Fütterungs abteilungen hindurchgezwängt hat und beim Zurücktreten sich gefangen glaubt. Seine Befreiungsversuche verursachen einen Lärm, daß alles übrige Wild erschreckt in langen Fluchten davonstürmt. „Oeu, — — au — u!" schreckt ganz nahe im Verhoffen ein Alttier. Der Sechser befreit sich und trollt kopfschüttelnd dem Rudel nach. Aber schon nach wenig mehr als fünf Minuten ziehen mehrere Kälber wieder an die Fütterung, denen die älteren Stücke, nur zum Teil vorsichtig und sichernd, folgen. Wieder geht's über die Ka stanien her, und die Stücke, die beiseite geschoben wurden, nehmen die Eicheln und Rüben an. Da — was ist los? Alles Prescht davon. „Sauen", meint der Jagdhüter. Höchst gespannt und zum Schüsse auf einen groben Keiler trotz der Heiligkeit dieser Stätte entschlossen, schiebe ich die Büchsenmündung durch die Scharte. Schwere Tritte, unter denen das Randeis des über der Fütterung rieselnden Bächleins zerkracht, kommen näher. Ich sehe einen mächtigen Körper durch die Stangen sich aus die Fütterung zu bewegen, zaghaft, nach jeder Schrittlänge sichernd. Und nun steht in einer freien Lücke, vierzig Schritt von meinem Auge entfernt und noch im „Büchsenlichte" ein Hirsch, so stark, wie ihn die Bergwälder meiner Heimat nur selten zu zeigen vermögen. Ich zähle ungerade vierzehn Enden an massigen Stangen. Lautlos ziehe ich die Büchse zurück. Wortlos staunen wir den stolzen König der weiten Wälder an. Dreißig Schritt ist er von uns entfernt, wie er an der Fütterung steht und hastig die Kastanien annimmt, beim wiederholten Aufwerfen mit den Enden des mächtigen Kronengeweihs das Dach der Fütterung streifend. Wir haben einen Hirsch zu Gast, von dem wir in der Feistzeit nur die starke Fährte sanden, den wir in der Brunft nur einmal einen Zehner m jähen Fluchten vom Rudel sprengen sahen. Das heisere Gekläff eines Fuchses schauert durch den Wald. Die Schleiereule geistert aus ihrem Flugloch. Der erste Hunger des alten Herrn ist gestillt, die letzten Kastanien und Eicheln zerkrachen in seinem Geäse. Würdevoll wie ein Herrscher wechselt der Alte zurück, er wird Wohl erst bei Nacht die Fütterung noch einmal aufsuchen. Und bevor die Rudel der anderen wieder herangetreten sind, mache ich mich mit dem Jagdhüter auf die Beine. „Oe—u!" gröhlt die Alte am Berge, aber unser absichtlich lautes Sprechen und das Gerassel der Kastanien und Eicheln, von denen wir noch einen Posten ausschütten, beruhigen das Wild. Wir sind kaum hundert Meter unterhalb der Fütterung, als wir mit dem Glase ein dunkles Gewimmel um die Raufen wahrnehmen können. Ein köstlicher Winter jagdtag geht zur Neige. Erst als der Mond voll und rund über dem Berge steht, denken wir an den Heimweg. Aruß aus dein Jenseits. Skizze von G. W. Deininger. Es war ein seltsames Paar, das eines Tages in dem kleinen, abseits der großen Straße liegenden kalifornischen Seebad auftauchte. Anfangs wußte niemand so recht, was man davon halten sollte. Die Frau hatte schneeweiße Haare, der Mann war jung, viel jünger als sie. So mutzten sie wohl Mutter und Sohn sein. Aber warum gingen sie dann Arm in Arm am Strand, warum saßen sie eng neben einander wie zwei Liebende auf den Felsen und sahen wie verloren in ihrem Glück dem Spiel der Brandung zu ihren Füßen zu? Es dauerte lange, bis zwischen dem ungleichen Paar und den ständiaen Bewohnern des kleinen Ortes die Brücke ge schlagen würde. Eine Familie gewann durch einen freundnach barlichen Dienst das Vertrauen der Frau und erfuhr eines Tages aus deren Munde eine Geschichte: „Ich weiß, man zerllricht sich den Kopf über uns, lächelt und sagt, wir seien ineinander verliebt, ich, die alte Frau, und der junge Mann. Wir haben Grund dazu, doch es ist nicht Liebe, wie die Welt sie versteht. Verliebt und glücklich war ich vor dreißig Jahren. Wir hatten eben geheiratet, Jim und ich. Es geschah gegen den Willen seiner Eltern, denn sie waren reich und wollten von einer armen Schwiegertochter nichts wissen. Sie kümmerten sich nicht um mich, schnitten mich und machten mir doch das Leben schwer, als der erste Taumel des Glücks verebbt war. Und nun kämpfte Jim einen schweren Kampf zwischen seinen Eltern und mir. Es war vielleicht meine Schuld, daß seine Liebe zu mir nicht siegte. Ich glaubte, er hielte nicht fest genug zu mir, und seine Liebe sei im Schwinden. Lange suchte icy nach einem Mittel, seine Neigung wieder ganz für mich zu gewinnen. Ich hoffte, am Ziel zu sein, als ich ihm einen Jungen schenken durfte. Doch dann fürchtete ich, mich getäuscht zu haben. So kam ich auf einen verzweifelten Gedanken. Ich wollte ihn eifersüchtig machen. Ich lächelte anderen Männern zu und wurde unglücklich, tief unglücklich. Denn Jim verstano mich nicht. Er glaubte wirklich, ich sei das leichtfertige Ding, als das seine Eltern mich bezeichneten, und er zerriß unsere Ehe mit einem Schlag. Als ich eines Tages vom Einkäufen nach Hause kam, fand ich weder Jim noch das Kind. Ein Zettel lag auf dem Tisch. Ich habe seinen Inhalt damals auswendig gelernt, so oft las ich ihn wieder und immer wieder, in der unsinnigen Hoffnung, ich könnte mich getäuscht haben und die Zeilen würden plötzlich einen anderen Sinn annehmen: Meine Eltern hatten recht, als sie sich unserer Ehe widersetzten. Jetzt ist alles zu spät. Ich schäme mich, zu meiner Familie zurück zukehren, und gehe dorthin, wo mich niemand kennt. Das Kind soll nicht bei Dir bleiben, und ich will auch nicht, daß meine Eltern es erziehen und Deine Schuld büßen lassen. Es ist versorgt, und Du brauchst keinen von uns beiden zu suchen.' Wenn ich damals nicht meinen Verstand verlor, so war es nur die Hoffnung auf ein Wiederfinden, die mich aufrecht erhielt. Doch ich suchte vergeblich, und Jims Eltern sagten, sie wüßten auch nichts von den beiden, ließen mir die Tür weisen. Dann kam ein Jahr später eine Nachricht. Es war die Zeit, da sie in Klondike Gold fanden und Tausende vom Fieber gepackt wurden. Da brachte mir die Post von dort oben ein Päckchen ins Haus. Ick fand eine Pistole darin und einen Brief vom Kommando der kanadischen Nordwest-Polizei. Sie schrieb mir, der Konstabler Jim Person habe gebeten, mich davon zu benachrichtigen, wenn ihm einmal etwas zustoßeu sollte. Und nun sei es soweit, denn eine unbekannte Kugel habe Jim auf einem Patrouillengaiig getroffen. Alles, was man bei ihm gefunden, gehöre der Polizei, nur die Pistole nicht. Sie sprachen mir ihr Beileid aus, und das war alles, was ich erfuhr. Vom Kind war mit keinem Wort die Rede. Ich warf die Pistole zur Seite wie heißes Eisen, schleuderte sie in irgend eine Ecke und begann Jim über das Grab hinaus zu hassen. Fünfundzwanzig Jahre lang schlug ich mich allein durchs Leben. Mancher Mann wollte mich haben. Doch ich schreckte sie ab, wies alle mit harten Worten zurück, und mein Haß machte mich noch unglücklicher, bis ich gleichgültig wurde und d»s Lsben mit der Not und den Einschränkungen, die meine Lage mir brachte, nur noch als lästige, unvermeidliche Bürde trug. Es war Wohl nur ein Zufall, daß ich vor einem Jahr in alten Dingen kramte, und plötzlich lag die Pistole vor mir. Die Wunde war nicht mehr offen, und ich fühlte keinen Ab scheu mehr vor der Waffe. Ich nahm sie in die Hand. Der Griff mit dem Patronenlager erschien mir so schwer. Ich löste durch einen Druck den fast eingerosteten Haltestift, und der Rahmen fiel heraus. Er war nicht mit Patronen gefüllt, sondern mrt mattgelben Körnern, von grünlichen Flecken durch setzt. Gold! Bestürzt schüttete ich alles auf den Tisch. Und dabei fand ich noch ein anderes: Ein zusammengefaltetes Papier. Es warf mich aus dem gewohnten Geleis, es riß die alte Wunde wieder auf, und gleichzeitig brachte es mir das Glück. Denn ich las ein paar Zeilen von Jims Hand, ich las seinen Gruß aus dem Jenseits: ,Der Weg ist zu Ende. Ich verblute an der Kugel Pierre Rastagneaus, den ich vor einem halben Jahr auf fremdem Claim überraschte und zur Anzeige brachte. Ich stecke meinen letzten Gruß an Dich, Mary, in meine Pistole, oie man Dir schicken wird. Ich weiß nicht, ob ich recht tat, Dich zu verlassen. Ich hätte vielleicht geduldiger sein sollen. Ich durfte Dir sicher nicht das Kind nehmen. Ich will gutmachen, was ich noch gutmachen kann. Das Kind habe ich fremden Leuten gebracht und ihnen genug Geld gegeben, um seine Existenz zu sichern. Hol es Dir jetzt, Mary! Es ist in Van couver bei Betsy O'Neill, Regent Street. Leb wohl und denke ohne Groll an mich!' Unter seinen Namen hatte er noch eine Zeile gesetzt: ,Das Gold ist alles, was ich habe. Es wird Dir genügen, um nach Vancouver zu kommen.' Wozu soll ich Ihnen erzählen, wie der letzte Gruß des Toten mich aufwühlte? Wie ich nur Gedanken hatte an unser Kind, das längst erwachsen sein mußte, wenn — es noch lebte, wenn ich es überhaupt fand. Sie wissen nun: Ich habe Jim, den Jungen, gefunden. Es war ein langer Weg, den ich zu verfolgen hatte, denn ich kam ja fünfundzwanzig Jahre zu spät. Doch nicht spät genug, um nicht noch glücklich zu werden. Vor einem Monat fanden wir uns drüben im Osten, fast am gleichen Tag, da ich von der Nordwestpolizei die Nachricht erhielt, sie hätten auf meine Anzeige hin Pierre Rastagneau, den Mörder, festgenommen. Wundern Sie sich nun, wenn Jim, mein Junge, und ich wie Verliebte sind?" Humoristische Umschau. „Eigentlich bist du ja eine ideale Gattin, meine geliebte Emma!" meinte der junge Ehemann drei Wochen nach der Hochzeit, „llch habe bis jetzt nur einen Fehler an dir entdecken können: Du durchstöberst niemals meine Taschen!" „Aber Schatz", erwidert die junge Frau erstaunt, „daß ist doch eine Tugend und kein Fehler!" „Kann ich nicht finden", lautet die Antwort, „wenn du nämlich meine Taschen durchstöbertest, würdest du finden, daß alle zerrissen sind." Nastjenkas Lied. Historische Skizze von Josef Robert Harrer-Wien. Unaufhörlich fiel der Schnee. Wie ein dichter Vorhang. Nur mühsam kam man auf den Straßen weiter; es war, als sei man auf einer anderen Welt. Soviel Schnee hatten die Franzosen noch nie in ihrem Leben gesehen. Und dabei war es in den ersten Dezembertagen. Moskau lag hinter ihnen. In diesem beginnenden De zember 1812 war unsagbares Elend über das Heer des Franzosenkaisers gekommen. Der frühe Winter m dem fremden Lande, Schüsse aus dem Hinterhalt, Kälte und Sturm machten aus dem flüchtenden Heere armselige Haufen, die sich auf den verschneiten Wegen drängten. Geschütze blieben wie Leichen am Rande der Aecker liegen. Ermattet sanken die Soldaten nieder; sie starben, sie verdarben. Seit Wochen strebte das Heer in Auflösung dem Westen zu. Am vierten Dezember bekam Leutnant Grigorij Rakusow den Auftrag, mit dem besten Pferde des Regimentes nach Wilna zu reiten, sich dort mit einer verborgenen Abteilung russischer Soldaten zu vereinigen und den Kaiser der Fran zosen gefangen zu nehmen. Man hatte durch Spione und Beobachter erfahren, daß er allein in einem Schlitten vor seinem Heere auf der Flucht war. Er konnte bereits am sechsten Dezember Wilna passieren; denn seine Pferde waren ausgezeichnet. Leutnant Rakusow mußte schneller sein; er kannte die Wege und die Abkürzungen. Er war dcer tollste Reiter des Regiments. Der General umarmte und küßte ihn und sprach: „Du stehst vor der größten Aufgabe Deines Lebens. Wenn es Dir gelingt, den Korsen zu fangen, bist Du der berühmteste Offizier Rußlands, der Welt!" Und Leutnant Rakusow ritt in den niedersinkenden Abend des vierten Dezembers. Der Schnee wehte. Einsam war der Weg. Der Leutnant starrte vor sich hin. Nichts sah er als bisweilen Spuren von Wölfen. Er ritt die Nacht hindurch. Am Morgen, der trüb auf stieg, machte er bei einem Bauerngehöft Rast. Aber wenige Stunden später ritt er wieder nach Westen. Nun war die Gegend bekannter geworden. Er näherte sich seiner Heimat. Und während sich sein starkes Pferd durch Schnee und Wind dahinkämpfte, dachte Rakusow lächelnd seiner jungen Frau Nastjenka und seines kleinen Sohnes Iwan. Was sie Wohl zur Stunde machten, ob sie eben an ihn dachten, ob sie für ihn beteten, ob Iwan nach dem Vater fragte und ob Nastjenka vielleicht eben das Lied sang, das kleine, einfache Liedchen, bei dem sich Iwan immer an die Mutter schmiegte und bat: „Mütterchen, sing es nochmals!".., Leutnant Grigorij Rakusow fühlte plötzlich unendliche Sehnsucht nach Frau und Kind. Er flüsterte seinem Pferde Kosenamen ins Ohr. Das Tier wieherte auf und sprengte schneller dahin. Am Abend ritt der Leutnant in Wilna ein. Er meldete sich bei dem Hauptmann der Abteilung. Der lachte: „Napoleon soll durch Wilna kommen? Ausgeschlossen! Meine Beobachter sehen auf viele Meilen keinen Franzosen, Es wird noch Tage dauern, bis sie kommen." Der Leutnant ereiferte sich: „Der General weiß genau, daß Napoleon weit vor seinem Heere flieht. Wenn auch keim Franzosen zu sehen sind, er wird kommen, er, der Kaiser dei Franzosen." Der Hauptmann schüttelte mißmutig den Kopf. diesem Hundewetter erfrieren meine Soldaten, wenn ich sie auf Posten und Patrouillen schicke. Der Kaiser kommt frühestens in drei Tagen." Nachts sammelte Leutnant Rakusow einige Freiwillig« um sich und ritt in das Dunkel. Der Sturm sauste über die Ebene; der Schnee schnitt in die Gesichter. Rakusow achtete nicht darauf; er mußte Napoleon gefangen nehmen... Er verteilte die wenigen Soldaten auf die Wege. Er selbst ritt mit zwei Reitern gegen Norden. Ein sicheres Gefühl sagt« ihm, daß Napoleon den geraden Weg nach Wilna vermeiden werde. Die Nacht war einsam; die Stunden schlichen dahin. Gegen Morgen näherte sich Rakusow seinem Schlosse. Sein« Sehnsucht nach Weib und Kind wurde wieder wach, so daß er fast den Kaiser vergaß. Plötzlich stutzte er. Aus dem tiefen Grau des dämmern den Wintermorgens leuchtete ein Lichtschein. Das Licht kam aus seinem Schloß. Rakusow lauschte. Die Welt war stumm. Da wurde er schwach. ,Drei Minuten nur oder fünf! Ich muß Nastjenka und Iwan sehen'... Er schärfte seinen beiden Begleitern größte Wachsamkeit ein und ritt allein auf das Schloß zu. Das Licht kam aus Nastjenkas Zimmer. Der Leutnant sprang vom Pferd, eilte auf das Fenster zu und sah klopfenden Herzens ourch die Scheiben. Da sah er seine Frau, die am Bette des kleinen Iwan saß und sang. Er preßte das Ohr an die Scheiben... Und nun vernahm er das Liedchen, das Iwan so sehr liebte. Rakusow schwindelte. Seine Finger zuckten. Dann klopfte er mit jähem Entschluß an die Scheiben. Nastjenka erschrak, aber dann näherte sie sich dem Fenster, öffnete und schrie: „Grigorij! Grigorij!" Der kleine Iwan lauschte, lachte und rief: „Väterchen, Väterchen!" .Nur drei Minuten!' schrie es in Rakusow. Er eilte in das Haus, umarmte Nastjenka und Iwan; in seinen Augen standen Tränen, als er fragte: „Du schläfst nicht, Iwan?" „Ich träumte von Dir, Väterchen. Da wurde ich plötz lich wach und weckte Mutter. Aber weil Mutter befahl, ich solle weiterschlafen, bat ich um das Liedchen. Mutter sang es mir. Ach, Väterchen, bleib jetzt bei uns!" „Das Lied, es verfolgt mich seit zwei Tagen, Nastjenka. Sing es nochmals, ehe ich gehet" 'Nastjenka sang, das Fenster stand noch offen, Schnee wehte ins Zimmer... Da sielen Plötzlich einige Schüsse. Leutnant Rakusow sprang auf, löschte das Licht, küßte Nast jenka und Iwan und stürzte aus dem Zimmer. Er schwang sich auf sein Pferd und sprengte die Straße zurück. Zwei reiterlose Pferde standen im Dämmerlicht des Morgens. Seine beiden Begleiter lagen im Schnee. Einer war bereits tot. Rakusow hob den Kopf des zweiten Reiters und sah in seine matten Augen. „Was ist los? Wer hat geschossen!" Mühsam stammelte der Schwerverwundete: „Ein Schlitten kam. Ihr müßt ihn ja gesehen haben. Ihr müßt an ihm vorbei geritten sein... Wir hielten den Schlitten an. Einer schrie aus dem Inneren des Schlittens: ,Eill zum Schloß! Dort ist Euer Offizier in Gefahr!' Es war kein Russe, der das ries. Ich merkte es sofort an der Aussprache. ,Wer seid Ihr?' fragte ich. Da hieb der Kutscher auf di« Pferde ein, ich legte mein Gewehr an; da tauchte aus dem Schlitten eine Hand auf, eine Pistole, eine zweite Hand, ein» zweite Pistole. Ich sah das Gesicht: Nastoleon... Ehe ich schießen konnte, krachten zwei Schüsse. Oh, ich sterbe..." Er schloß die Augen. So war das kleine Lied Nastjenkas die Rettung Napo leons. Das Schicksal hatte seinem Wege noch kein Ziel ge setzt. Napoleon kam am 6. Dezember 1812 durch Wilna. Ein kleiner Leutnant wäre beinabe uniterblick aeworden...
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)