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Was heißt es, mit ungenügender Erkenntniß an die Räthsel heranzütreten, in welche die Natur sich hüllt? Das heißt Verblendung — oder Spielerei. Das befriedigt nicht. Woher nahm der Zeuner sein gewaltiges Wissen, sein untrügliches Urtheil? Hilda fragte sich das selbst — sie fragte auch Albert. Albert erwiderte, daß der Zeuner, abgesehen von seiner sonstigen Begabung, ein seltenes Gedächtniß habe; daß ihm alles, was er einmal gelesen, zur unmittelbaren Verfügung stehe, daß er daher über die Erfahrung aller Zeitgenossen geböte, und daß ihm außerdem eine seltene Genialität der Auffassung eigen wäre. Wie sehr er nebenbei in jedem Falle den diagnostischen Hilfsapparat verwerthete, wußte Hilda selbst. Sie unterzog ihr eigenes Gedächtniß einer Kritik. Herr gott — nein, ihr Gedächtniß war nicht scharf. Sie wollte nun besondere Sorgfalt darauf verwenden, es zu stärken. Sie fing an, anders zu lesen, wie sonst, als wolle sie alles fest in das Gedächtniß eingraviren. Die zu bewältigende Literatur erschien ihr nun übermäßig groß. Manchmal er faßte sie Angst, wenn sich die Bücher und Broschüren auf ihrem Tische häuften. „Wirf doch den ganzen Krempel zum Teufel," hatte Albert gerufen, als Hilda ihr Gedächtniß anklagte. „Wozu mußt Du Dich denn mit Unmöglichkeiten herumschlagen? Dein Gedächtniß kannst Du nicht forciren, ohne Deiner Ge sundheit zu schaden, schau Dich nur im Spiegel an, Hilda — seit Du die Klinik besuchst, haben sich Deine Züge ver ändert — Du bist nicht mehr die, die Du vor einem Jahr warst und," fügte er hinzu, „ich bin auch ein Anderer ge worden — ich habe keine Freud' mehr am Leben." In seiner Stimme zitterte die Erregung. „Keine Freud' mehr am Leben —" wiederholte Hilda — „Albert, Du bist der Letzte, der so sprechen darf, Du bist ja glücklich, Du stehst so hoch oben." „Laß das, Hilda, Du stehst auf einem abnormen Stand punkte, Du hast Dich bereits verstiegen, bist für das Leben nahezu unbrauchbar geworden. Du weißt nicht mehr, was Glück ist — weißt kaum noch, daß Du eine Frau bist." „Doch, Albert, das fühle ich täglich, darunter gerade leide ich — gerade das ist mem Unglück. Wäre ich ein Mann, da wäre ich wie Du." Alberts Gesicht bedeckte sich mit plötzlicher Blässe — sein Blick hing starr am Boden, dann, wie von einem Entschlusse erfaßt, verließ er das Zimmer. * * * Sonst war er regelmäßig zur Abendmahlzeit nach Hause gekommen, hatte Hilda von ihrem Schreibtisch abgeholt und sie an den gedeckten Tisch geführt. Er hatte sie auch wohl geneckt, daß sie eine schlechte Hausfrau sei, oder er nannte sie „Kollege". Heute kam er nicht heim. Auf Hildas Lampe ging das Oel zur Neige. Die Flamme verdunkelte sich und begann zu verlöschen. Noch einen schnellen Blick auf die Uhr — es war eins. Hilda knickte die Seite des Buches ein, in dem sie gelesen und tastete sich durch die dunkle Wohnung ins Schlafzimmer. Die Nachtlampe spendete matte Beleuchtung; vor den Fenstern waren die weißen Vorhänge zusammengezogen. Hilda legte sich zum ersten Male allein zur Ruhe. Sie konnte nicht schlafen — eine innere Stimme wiederholte Alberts Worte, daß er keine Freude mehr am Leben habe. Und wie er das sagte — und wie verstört er fortging! Hilda neigte den Oberkörper gegen das andere Bett und legte die Arme und den Kopf auf Alberts Polster. „Gott — Gott! Wen trifft die Schuld?" Es stieg ihr heiß in der Brust hinauf. Das Herz begann zu klopfen — die Gedanken jagten sich in qualvoller Hast durch das Hirn — wollten sich halten und wurden doch ab gestoßen von immer neuen, jäh daher stürmenden Bildern. Riesengewalten rüttelten unbarmherzig an dem Tempel, in dem sie wandelte, zertrümmerten die starken, ragenden Pfeiler, erschütterten den Boden, daß er schwankte, und das Herz pochte vor Angst. Klein — winzig klein lag sie unter der Wucht der daher jagenden Verzweiflung. — Was war sie? — Was hatte sie errungen? Sie drückte ihr Gesicht schluchzend in die Kissen des leeren Bettes — Albert! — Albert! , Hilda schlief nicht, sie lauschte, ob Albert heim käme. Es blieb alles stille — nichts regte sich — Hilda hörte nur das dumpfe Hämmern ihres eigenen Herzens. Wo brachte Albert die Nacht zu? — Gott! Gott! — Endlich kam ein unruhiger qualvoller Schlummer. Früh morgens trat das von Frau Sidonie angeworbene Mädchen ein und machte sich an Alberts Wäscheschrank zu schaffen. Hilda war von dem Geräusch aufgewacht und sah, wie Pepi Kragen, Manschetten und ein reines Hemd zusammen packte. „Was thun Sie?" fragte sie schnell. „Küss' die Hand, Euer Gnaden; der gnädige Herr hat um Wäsche hergcfchickt. Er ist bei Frau von Hochwillcr — die Gnädige ist sehr schlecht, sagt die RFi." Hilda fühlte plötzlich eine erlösende Abspannung durch ihre Glieder rieseln. Sie wußte, wo Albert war — wußte, daß ihn die Pflicht vom Hause fernhielt. Dank! Dank! — Dank schwellte ihr ganzes Herz. „Laß Resi zu mir eintreten," befahl sie dem Mädchen. „Wann ist das Unglück geschehen?" fragte Hilda, nach dem Nesi berichtet hatte, daß Hertha auf dem glatten Parquet- boden ausgeglitten und gegen eine Tischkante gestürzt sei. „So um 6 Uhr, Eier Gnaden. Die Gnädige wollte dem Herrn entgegenspringen, als er aus dem Comptoir kam, da hat sie's zu eilig g'habt und iS nüdcrg'fnllcn. Es is noch ein Glück, daß die Frau Mama noch da war." „Wann habt Ihr meinen Mann geholt?" „I bin gleich herg'rennt und hab' den Herrn Doktor noch auf der Stiegen derwischt, g'rad als er zum Fort- geh'n war." „Ihr hättet mich aber benachrichtigen müssen, Resi — schau, ich hab' nichts davon gewußt uud hab' die ganze Nacht auf meinen Mann gewartet." „Bitt' vielmals um Entschuldigung, Eier Gnaden, i hab' herlaufen wollen, aber der Herr Doktor haben g'sagt, daß es nit nothwendig sei." „Also geh' jetzt, Resi — ich komme gleich selbst zu Euch." Hilda sagte das mit tonloser, angestrengter Stimme. Das kurze Rastgefühl war verschwunden — in ihren Ohren sauste es — der Hals schwoll an — die Gedanken tobten wieder durch ihr Hirn. Albert hatte verboten, ihr Nachricht zu schicken, hatte sie den Qualen dieser Nacht preisgegeben — ließ ihr auch heute Morgen keinen Gruß sagen! Aufstehen — hineilen — zu Albert — schnell — und doch lief Hilda im Nachtgewande ziellos im Zimmer auf und ab. Sie zog sich nicht an — sie wußte nicht, wo an fangen. Das erstickende Gefühl im Halse steigerte sich — mit bloßen Füßen nur immer dasselbe Herumlaufen. Sie schellte. „Pepi, helfen Sie mich anzieheu — ich muß fort. — Stein, nicht waschen, nur einen Schwamm — schnell — schnell." „Keinen Thee? Ein biss'l sollten Euer Gnaden doch nehmen!" „Nein." Die Handschuhe lagen am Boden — Hilda steckte die bloßen Hände in den Muff — fort — der Weg schien endlos. Bei Hochwillers war die elektrische Glocke gedämpft. Resi stand hinter der Thür und öffnete. Sie flüsterte: „Die Gnädige schläft jetzt — die Herr- - schäften sind beim Frühstück." Hilda trat in das Speisezimmer. Frau Sidonie, Rudolf und Albert saßen am Tische. „Hilda!" Frau Sidonie war aufgesprungen, schloß Hilda in die Arme und schluchzte; sprechen konnte sie nicht. Rudolf saß mit verstörtem Gesicht am Tische und würgte die Thränen hinunter.