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6 Unbeweglichkeit, zu ohnmächtigen ZorneSanmüen und der noth- gedrungenen Fettsucht verurtheilt sah. Ist er glücklich oder unglücklich? Ein zuerst leichtes, dann immer größer wirkendes Verlangen, das schließlich unwiderstehlich wird, ergreift mich, seine Geschichte kennen zn lernen, wenigstens die Hauptpunkte, aus denen ich ersehen kann, was er nicht sagen kann oder nicht sagen mag. Ich sprach mit ihm, während ich daran dachte. Wir hatten einige banale Worte gewechselt, und ich dachte, während ich die Augen auf das Netz richtete: „Er hat also drei Kinder; oie Bonbons sind für seine Frau, die Puppe für seine kleine Tochter, die Trommel und das Gewehr für seine Söhne, die Gänseleberpastete für ihn." Plötzlich fragte ich ihn: „Sind sie Vater?" „Rein," versetzte er. Ich fühlte plötzlich eine große Bestürzung, als hätte ich etwas Unpassendes gesagt und fuhr fort: „Ich bitte um Verzeihung. Ich glaubte es, weil ich hörte, wie Ihr Diener von Spielzeug sprach. Man hört so etwas, ohne recht zu hören, und zieht unwillkürlich seine Schlüsse." Er lächelte und murmelte: „Nein, ich bin nicht einmal ver- heirathet; ich bin bei den .Präliminarien' stehen geblieben." Ich that, als erinnere ich mich plötzlich. „Ach, es ist ja wahr, Sie waren verlobt, als ich Sie kennen lernte . . . mit Fräirlcin von Mandal, wenn ich- nicht irre?" „Ja, mein Herr, Ihr Gedächtniß ist vorzüglich." Ich wurde kühn und fuhr fort: „Ich glaube mich auch zu erinnern; Fräulein von Mandal heirathete Herrn .. . Herrn . . ." Er sprach ruhig den Namen aus: „Herrn von Fleuret!" „Ja, ganz recht ... ja . . . ich erinnere mich sogar, bei dieser Gelegenheit von Ihrer Verwundung gehört zu haben." Ich sah ihm fest ins Gesicht, und er wurde roth. Sein volles, aufgeschwemmtes Gesicht, das der beständige Zufluß des Blutes bereits purpurn färbte, wurde noch röther. Er versetzte eifrig, mit der plötzlichen Leidenschaft eines Mannes, der für eine von vornherein verlorene Sache plaidirt, eine in seinem Geist und in seinem Herzen verlorene Sache, die er aber trotzdem vor der öffentlichen Meinung gewinnen will. „Man thut Unrecht, mein Herr, meinen Namen in Verbindung mit dem der Frau von Fleuret auszusprechen. Als ich aus dem Kriege — leider! ohne Füße — zurückkehrte, hätte ich es nie, niemals zugegeben, daß sie meine Fran würde. War denn das möglich? Wenn man sich verheirathct, so thut mau das nicht, um mit Großmuth zu paradiren, sondern um alle Minuten, alle Sekunden neben einem Manne zu leben, und wenn dieser Mann so entstellt ist, wie ich es bin, so verdammt man sich, wenn mau ihn heirathet, zu einem Leiden, das bis zum Tode andaucru wird! Oh, ich begreife, ich bewundere alle Opfer, alle Ent sagung, wenn sie eine Grenze haben, doch ich dulde nicht den Ver zicht einer Frau auf ein ganzes glückliches Leben, auf alle Träume, alle Freuden, nur um der Bewunderung der Zuschauer Genüge zu thnn! . . . Wenn ich auf der Diele meines Zimmers das Klappen meiner Holzbeine und meiner Krücken vernahm, packte mich eine Wuth, daß ich meinen Diener erdrosseln möchte. Glauben Sie, daß mau von einer Frau verlangen kann, daß sie das duldet, was man selbst nicht ertrügt ..." Er schwieg. Was sollte ich ihm sagen? Ich fand, er halte Recht! Konnte ich sie tadeln, sie verachten, ja ihr auchnnrllnrecht geben? Nein! Aber doch . . . Die der Regel, dem Durchschnitt, der Mehr heit, der Wirklichkeit entsprechende Lösung befriedigte nicht meinen poetischen Sinn; diese heroischen Kämpfe verlangten ein schönes Opfer, das ich vermißte, und ich empfand darüber eine Enttäuschung. Plötzlich fragte ich ihn: „Hat Frau von Fleuret Kinder?" „Ja, eine Tochter und zwei Jungen. Ihnen bringe ich dieses Spielzeug. Ihr Maun und sie sind sehr gnt zu mir gewesen." Der Zug fuhr au St. Germain vorüber, passirte die Tunnels, fuhr in den Bahnhof und hielt. Ich wollte ihm meinen Arm anbieten, um dem versiummelten Offizier beim Aussleigen zu helfen, als zwei Hände sich durch die geöffnete Thür nach ihm ausstreckenk „Guten Tag, mein lieber Revalisire!" „Ach, guten Tag, Fleuret!" Hinter dem Maune stand mit strahlendem Gesicht, noch immer hübsch und lächelnd, die Frau, die ihm mit den behandschuhten Fingern Kußhände zuwars. Ein neben ihr stehendes kleines Mädchen hüpfte vor Freude, und zwei Jungen betraäueten mit gierigen Augen die Trommel und das Gewehr, das aus dem Retz des Waggons in die Hände ihres Vaters gewandert war. Als der Krüppel aus dem Perron stand, küßten ihn alle Kinder. Dann machte mau sich auf den Weg, und das kleine Mädchen hielt in ihrer kleinen Hand den lackirten Griff einer Krücke, während sie neben ihrem großen Freunde dahintrippclte. Im Waarenbaus mmo 2000. Eine Zukunfts-Vision von Eugen Jsolani. (Nachdruck verboten.) war am 20. August des Jahres 2000, als ich mit meiner Frau und meinem Kinde Vormittags in der elften Stunde in den Straßen umherschlenderte und an einem jener großen Waaren- Häuser vorbeikam, die etwa hundert Jahre vordem in Deutschland in Aufnahme kamen, freilich damals noch einen liliputähnlichen Umfang im Vergleich zu derartigen Unternehmungen in jetziger Zeit hatten. Meine Frau erinnerte sich, daß sie zum Abendbrot Milchreis mit Zucker und Zimmet geben wollte und daß sie zu diesem Zwecke Milch und Zimmet ja gleich in dem Müllerschen Waarenhaus ein kaufen könne. „Gut," sagte ich zu Frau und Kind, „gehen wir ins Müller- sche Waarenhaus." Wie jeder Besucher des Müllerschen Etablissements, ob derselbe etwas kauft oder nicht, wurden auch wir am Eingänge sofort photographirt und Jedem von uns ein Dutzend Kabinet-Photo- araphien gratis verabreicht. Diese Bilder haben weniger den Zweck, den Besuchern des Waarenhauses ein Geschenk zu machen, — wer betrachtet denn wohl auch heute noch, wo jeder Bauer Amateur-Photograph ist und seine Kühe beim Weiden und Melken in jeder Stellung zu photographiren pflegt, ein Porträt als ein aufhebenswerthes Geschenk! — nein, diese Bilder werden vielmehr zu dem Zweck verabreicht, den Besuchern des Müllerschen Waaren hauses zum Führer durch dasselbe zu dienen, da auf der Rückseite der Bilder Pläne des Waarenhauses abgebildet sind, ohne welche man sich ja nicht leicht in demselben zurechtfiudet. Da die Eßwaarenräume in der zwanzigsten Etage der ent- gegengesetzten Seite des Waarenhauses sich befanden, bestiegen wir Drei den gerade abgehenden Ballon-Captio, der uns nach den be treffenden Verkaussstätten führen sollte. Da aber durchhallten mächtige Glockcntöue die großen Räume des Waarenhauses. Wir fragten den Führer des Ballon-Captiv nach der Ursache dieses Zeichens, und er bedeutete uns, das dies Glockengetön den Beginn der Cirkusvorstellungen ankündige, welche zweistündig für die Be sucher das Waarenhauses gratis gegeben würden. Natürlich brauchte dieses unser Töchterlein kaum zu vernehmen, als sie uns bat, doch auch dieser Vorstellung beizuwohnen. „Gut", sagte ich zu meiner Frau, „gehe Du mit Trudchen in die Gralis-Cirkusovrstellung, ich werde indessen ins Lese-Kabinet gehen, und nach Schluß der Vorstellung, die in der Regel ja anderthalb Stunden zu dauern pflegt, wollen wir uns an der Milchverkanfsstelle treffen!" Ich ließ also meine Frau mit meinem Kinde in der siebenten Etage, wo sich der Cirkus befindet, aus dem Ballon-Captiv steigen und fuhr weiter nach der zehnten Etage, wo die weiten Räume des Lese-Kabinets den Besuchern gute Ge legenheit zur Erholung vom anstrengenden Geschäfte des Einkaufens bieten. Ich setzte mich in eine gemächliche Ecke des Rauch-Kabinets und ließ mir von einem der Diener eine Anzahl Zeitungen herbei bringen Das ist das Angenehme in dem Lese-Kabinet dieses Waarenhauses, daß man fast zu jeder Zeit jede Zeitung bekommen kann, denn jedes nur einigermaßen gern gelesene und daher viel verlangte Organ wird dort in einer Anzahl von 50 bis 100 Exemplaren gehalten. Und zwar ist das mäst nur mit deutschen Zeitungen der Fall, sondern man findet dort die Zeitungen der ganzen Welt. Täglich werden vom Inhaber des WaarenhanseS füus Eentner Makulatur als Stullenpapier für arme Schulkinder verschenkt. Nachdem ich im Fluge die Zeitungen durchblättert, ging ich noch ans ein Stündchen in den neben den Lesesaal befindlichen Bibliotheksaal, wo täglich die neuesten Bücher und Broschüren zur fxeien Benutzung der Waarcnhaus-Besncher eintreffen. Ich nahm ein soeben erschienenes Werk eines neuen Schriftstellers, Georg Lindau, zur Hand, eitles Ur-Urenkels von Paul Lindau, in welcher Familie sich bekanntlich die Schriftstellers seit über hundert Jahren ! von dem Vater aus den Sohn vererbt. Dann aber mußte ich die Lektüre unterbrechen, weil ich zum Rendezvous mit meiner Frau und Tochter nach dem Milchverkauf eilen mußte. Als ich in der zwanzigsten Etage angelangt war — diesmal hatte ich zur Beförderung die elektrische Spiralbahn benutzt, die mit Blitzesschnelle rings um das große Etablissement bis zur Höhe fährt — kam mir bereits, freudig erregt, mein Töchterlein ent- gegengcsprnngen. Das Mädel konnte mir gar nicht schnell genug von allen den Wundern erzählen, die sie in der Cirkusvorstellung gesehen. Von den fünfundzwanzig Programmnummcrn gefiel ihr am besten ein Deutsch-Chinese, der als Jongleur und Zauber künstler auf ungesalleltem Pferde arbeitete. Als Schlußeffekt seiner Vorführung warf derselbe jedem der im Cirkus anwesenden Kinder eine Düte mit prachtvollen Confitüren in den Schooß, die er in großen Mengen ans seinem Eyliuderhnt hervorzauberte und von dem in rasendem Galopp daherjagenden Pferde mit wunderbarer