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kommen; geben doch gerade diese großen Firmen etwas darauf, so bekannt zu sein, daß es gar nicht nötig ist, bei der Adressierung die Straße und Hausnummer anzu geben. Handelt es sich um Firmen, wie Rudolph Hertzog u. s. w., so wird der Postbeamte wohl mit ziemlicher Leichtigkeit wissen, wo er dieselben zu suchen hat; solcher größeren Firmen hat aber Berlin höchstens hundert, noch sechshundert andre prätendieren, in ebenderselben Weise bekannt zu sein, so daß der Feinsortierer ihre Adressen genau im Kopf haben muß. Wir kehren nach dieser Erläuterung nach dem Sortier regal zurück, vor welchem die Grobsortierer ihre Arbeit verrichten. An der Rückseite des Regals laufen beständig Beamte hin und her, welche länglich-viereckige Körbe in der einen Hand halten, mit der andern die Klappen an der Rückseite des Regals öffnen und den Inhalt der Post sendungen von der geneigten Fläche des betreffenden Faches Herausrutschen lassen. Auch die Rückseite des Regals trägt besondere Bezeichnungen nach Feinsortierstellen und weist die Nummern eins bis siebzehn auf, von denen einzelne Nummern noch in H., L, 0 geteilt sind. Der Sortierer sammelt stets die Sendungen aus den korrespondierenden Klappen in dem betreffenden Regal, und wenn er für die Feinsortierstelle 50 einsammelt, so öffnet er natürlich an der Rückseite der acht Spinden immer nur die Klappen, an denen die Zahl 5 0 angebracht ist. Diese Körbe mit den grobsortierten Briefen bringt er an die Tische, wo die Feinsortierer sitzen, welche nun mit außerordentlicher Ge schicklichkeit die Briefe auf die verschiedenen Postämter ver teilen. Bei besonders großen Postämtern wird auch schon im Stadtpostamt eine Vorsortierung nach Bestellkreisen und Himmelsrichtungen vorgenommen, und zu bewundern ist die manuelle Geschicklichkeit dieser Feinsortierer, ihr blitz artig rasches Denken und die Sicherheit, mit der sie arbeiten. Aus den Fächern, in die sie die Briefe verteilen, werden diese sofort in Beutel gepackt, die Beutel durch eine Lederstulpe mit mechanischem Schloß fest zugemacht und durch den Fahrstuhl in den Hof hinunter befördert, um von da aus nach den.Bestellbezirken gebracht zu werden. Es ist aber dringend notwendig, den Leser aufzu klären, mit welcher Schnelligkeit in diesem Sortiersaal ge arbeitet werden muß. Wir treten in den Saal mittags gegen halb zwölf Uhr. Wir sehen ringsherum an den Wänden an Tischen Beamte sitzen, welche mit einer sehr unangenehmen Thätigkeit beschäftigt sind, aus die wir gleich zu sprechen kommen werden. Da rasseln unten in den Hof drei große Bahnhofswagen, sie bringen die Sendungen vom Kasseler Schnellzug. Im nächsten Augenblick ist alles im Sortiersaal lebendig. Der Fahrstuhl rasselt ununter brochen auf und meder und bringt Briefbeutel auf Brief beutel; diese werden sofort ihres Inhalts entleert, die Briefe werden unter eine mechanische Stempelmaschine ge bracht, die durch eine Kurbeldrehung rasch hintereinander die Briese mit dem Ausgabestempel versieht. Dann wer den die Briefe in Körben den Grobsortierern zugeteilt, und nach zwei bis drei Minuten ist das Sortiergeschäft inner halb des ganzen Saales in vollem Gange. Stellt man sich schräg in der Achse des Saales auf, so sieht man ununterbrochen zuckende Bewegungen der Hände, man sieht weiße und bunte Stücke Papier durch die Luft schwirren und in die Fächer fallen, und an dem Feinsortiertische sieht man ähnliche blitzschnelle Bewegungen der Sortierer, welche die ihnen beständig zugetragenen grobsortierten Sachen innerhalb ihrer Regale verteilen. Der Zug hat zehn- bis zwölftausend Stücke einfache Briefe, Postkarten, Kreuzbänder und Postanweisungen gebracht. Zehn Almuten nach der Ankunft der Briefbeutel ist das ganze Sortier geschäft beendet, die Sendungen sind schon wieder in neue Briefbeutel' gepackt, dieselben werden auf den Fahrstuhl geworfen, dieser rasselt hinunter, im nächsten Augenblick fliegen die Beutel in die unten haltenden Straßenpostwagen hinein, die innerhalb der letzten zehn Minuten mit un heimlicher Präzision, aus den verschiedensten Bezirken kommend, im Hofe vorgefahren sind und jetzt davon ;agen, um den Briefträgern der Bestellbezirke die soeben einge gangene Post des Kasseler Schnellzuges zuzusühren. Es tritt jetzt eine Art Ruhe im Sortiersaal ein, die Thätigkeit der Beamten hat aber keineswegs ein Ende. Jetzt gilt es, die sogenannten „faulen Briefe" zu be arbeiten, d. h. diejenigen, welche mangelhaft adressiert sind. Mögen es sich alle Leser und Leserinnen gesagt sein lassen, daß es geradezu ein Verbrechen ist, Briefe nach Berlin zu adressieren, auf denen weder Straße noch Hausnummer angegeben sind. Ja auf die Gefahr hin, mich ernstlich mit dem Leser und der Leserin zu erzürnen, kann ich nicht umhin zu behaupten, daß es eine Unverschämtheit ist, Adressen zu schreiben, wie „An Herrn Schulze oder Meyer, Berlin." Ein solcher Brief macht der Postver waltung mehr Umstände und verhältnismäßige Kosten, als die Beförderung eines schweren Packeis von Königsberg bis an den Bodensee. Noch mehr aber, durch solche Rücksichtslosigkeit und Nachlässigkeit beim Adressieren wird den mit Arbeit überhäuften Beamten ein Teil ihrer knapp bemessenen Erholungszeit verkürzt und gestohlen, die ihnen jedermann bei ihrer körperlich und geistig aufregenden Thätigkeit gönnen und wünschen sollte. Täglich bleiben sieben- bis achthundert solcher Briefe beim Sortieren zurück, welche nun in der Zwischenzeit, wo die Beamten sich ausruhen sollten, bearbeitet werden müssen. Eine große Anzahl von Berliner Adreßbüchern, von Adreßbüchern von Behörden und Instituten ist vor handen, in denen nachgeschlagen wird, um Straße, Haus nummer und Postamt des Adressaten zu ermitteln. Der geschickteste Nachschlagende kann aber nicht mehr als vierzig Briefe in der Stunde bearbeiten, und man wird sich nun denken können, welche Arbeit täglich achthundert „fauler Briefe" verursachen. Diejenigen Briefe nun, deren Adressen aus den Adreßbüchern hergestellt werden können, gehen mit der nächsten Fahrt in die Bestellämter; die andren Briefe gehen an das Einwohnermeldeamt der Stadt Berlin, und kann auch dieses aus seinen kolossalen Registern und Zettelkasten den Adressaten nicht ermitteln, so werden die Briefe als unbestellbar zurückgesandt. Daß durch solche mangelhafte Adressierungen Verspätungen eintreten müssen, liegt, wie der Lsser sieht, auf der Hand, eventuell wird die Bestellung eines solchen Brieses ganz unmöglich. Eigentlich ist die Postverwaltung viel zu gutmütig und entgegenkommend gegen das Publikum; Briefe, die nach Berlin gehen und nicht (außer bei Behörden und großen Firmen) die Angabe der Straße, Hausnummer und des Postbezirks enthalten, müßten ohne weiteres von der Be förderung ausgeschlossen werden. Man vergesse nicht, welche Arbeitslast durch diese nachlässige Adressierung hervorgerufen wird. Zu Neujahr 1890 hatte das Stadt postamt in Berlin über hunderttausend solcher „fauler" Briefe zu bearbeiten, und von diesen hunderttausend Briefen wurden nur fünftausend als nicht bestellbar nach dem Aufgabeort zurückgeschickt. Man berechne nun, wie viel Beamte beschäftigt sein mußten, um 95 000 „faule Briefe" mit Adressen zu versehen, wenn der geschickteste Beamte nur vierzig Adressen per Stunde Herstellen kann. Man rechne dazu, daß in den Tagen vom 30. Dezember 1889 bis zum 2. Januar 1890 sechs Millionen Briefe in Berlin bestellt werden mußten, und man wird ungefähr den Grad der Rücksichtslosigkeit begreifen, den die Schreiber nachlässig adressierter Briefe gegen die Postbeamten und den ganzen Berliner Verkehr sich zu schulden kommen lassen.