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Aeilage zu Ao. 148 des Wochenblattes für Wilsdruff etc. Tagesgeschichte. Der diesmalige Empfang deö Reichstags-Präsidiums durch den Kaiser ist politisch belanglos gewesen, soweit man das Ereigniß nach den hierüber verbreiteten Mittheilungen be- urtheilen darf. Ueder die Weltlage oder über Fragen der inneren Politik hat sich der Monarch gar nicht weiter ausgelassen, die begonnenen Reichstagsarbeiten streifte er nur mit der Bemerkung, daß dieselben einen guten Fortgang nehmen möchten. Haupt sächlich machte der Kaiser den Herren des Reichstagspräsidiums die Mittheilung, daß er am kommenden 18. Januar zur Feier der 25. Wiederkehr des Jahrestages der Errichtung des deutschen Reiches ein großes Fest im Berliner Schlosse zu geben gedenke, er hoffe, hierbei die jetzigen Mitglieder des Reichstages wie alle jene noch lebenden ehemaligen Abgeordneten, welche dem Hause in jener großen Zeit angehörten, bei sich zu sehen. Da der Reichstags-Vorstand für diesen bevorstehenden bedeutsamen Tag bereits eine festliche Veranstaltung in Gestalt eines Banketts der Reichstagsabgeordneten beschlossen hatte, so wird der Vorstand seine Dispositionen für diesen Tag im Hinblick auf das vom Kaiser angekündigte Fest selbstverständlich wohl ändern müssen. Was im Uebrigen von einem angeblich auffallend kühlen Empsang verlautet, welchen diesmal die Herren v. Buol, Schmidt und Spahn-beim Kaiser gefunden haben soll, so wird diesen Gerüchten von anderer Seite widersprochen. Seit Montag regiert also wieder ein neuer Herr im preußischen Ministerium des Inneren, Freiherr v. d. Recke, der bisherige Düsseldorfer Regierungspräsident ist durch das Vertrauen des Kaisers auf diesen infolge des definitiven Rück trittes Herrn von Köllers auf diesen ebenso schwierigen wie wichtigen Posten berufen worden. In welchem Sinne der neue Minister den seiner harrenden mannigfachen Aufgaben gerecht werden wird, das bleibt allerdings noch abzuwarten, da er sich in politischer Beziehung bislang ziemlich zurückgehalten hat. Herr v. d. Recke gilt indessen als ein äußerst tüchtiger Ver waltungsbeamter und als eine ausgezeichnete Arbeitskraft, so daß man seiner Ministcrthätigkeit immerhin mit einem ge wissen Vertrauen entgegensetzen darf. Die am Montag begonnene allgemeine Etatsberathung im Reichstage hatte an diesem Tage einen im Allgemeinen etwas einförmigen Verlauf genommen, nur gegen Schluß der Sitzung erfuhr die Diskussion durch die Ausfälle des frei konservativen Abgeordneten v. Kardorff auf die Regierung etwas mehr Belebung. Dagegen wies die Debatte vom Dienstag schon größere Abwechslung auf, namentlich infolge der nach verschiedenen Richtungen hin scharf zugespitzten Rede, mit welcher Abg. Richter die Verhandlungen vom Tage eröffnete. Der freisinnige Führer polemistrte gegen die Darlegungen des Schatz sekretärs Grafen Posadowsky zum Etat und griff dann oen letzteren an verschiedenen Stellen selber an, worauf er zu anderen Dingen überging. Er zog die Fragen der vierten Bataillone und der Reform der Miltärflrafprozeßordnung, die Vermehrung der Verabschiedungen namentlich in der Flotte, die Vergrößerung unserer Flotte, die neue Zuckersteuer-Vorlage, die Novellen zu den Justizgesetzen, weiter die Handelsverträge, die Köller-Crisis, die Silberfrage und noch mindestens ein halb Dutzend anderer Themata in den Kreis seiner meist sarkastisch gehaltenen Be trachtungen. Hierbei ebenso häufig Widerspruch, wie heiteren Beifall erntend. Dann folgte der Reichskanzler mit einer be- merkenswerthen Rede, in welcher er zunächst gegen die Be hauptung v. Kardorffs, es fehle der Regierung an Einheitlichkeit und Geschlossenheit, entschieden Verwahrung einlegte. Dann ging Fürst Hohenlohe zur jüngsten Ministerkrisis über und be tonte, Minister von Köller, sei infolge nicht zu beseitigender „Mißhelligkeiten" innerhalb der Regierung zurückgetreten, aber seine Demission habe mit den Maßnahmen gegen die sozial demokratischen Vereinigungen in Berlin nichts zu thun gehabt. Schließlich kam Fürst Hohenlohe auf den Kampf gegen die Sozialdemokratie zu sprechen und erklärte, die Regierung werde denselben fortsetzen. Der Kanzler versicherte indessen, die Re gierung wolle zu diesem Behufe dem Reichstage kein neues „Umsturzgesetz" unterbreiten, sondern zunächst versuchen, an der Hand der bestehenden Gesetze den sozialdemokratischen Aus schreitungen entgegenzutreten. Schließlich führte der Reichs kanzler noch der sozialdemokratischen Partei ihr cynisches Ver halten bei der Jubelfeier der großen Erinnerungstage von 1870 scharf zu Gemüthe. Nach dem Reichskanzler sprach als General redner der Nationalliberalen Abg. Ennecerus, der sich in der Hauptsache einerseits gegen den Antrag Kanitz, wenigstens gegen seine Verwerthung als agitatorisches Kampfmittel, andererseits für die Finanzreform plaidirte und daneben besonders warm für Genehmigung des Entwurfs des bürgerlichen Gesetzbuchs im Ganzen eintrat. Den Beschluß in der Reihe der Redner vom Dienstag bildete Staatssekretär v. Bötticher, welcher be stätigte, daß eine Reform der sozialpolitischen Gesetzgebung im Anzuge sei und außerdem sein Bedauern über die indiscceten Veröffentlichungen des Inhalts amtlicher Schriftstücke aus drückte. Die Weihnachtsferien des Reichstages sollen nach einem Beschlusse des Seniorenkongresses am 17. Dezember be ginnen und bis zum 7. Januar dauern. In Sachen des Vorgehens der Polizeibehörde zu Berlin gegen die sozialdemokratische Parteiorganisation hat sich die Beschlußkammer des Berliner Landgerichts I auf die Seite der Behörde gestellt. Die Kammer beschloß, Anklagen gegen die betheiligten sozialdemokratischen Vorstände zu erheben und die vorläufige Schließung der betreffenden Vereinigungen aufrecht zu erhalten. Der neue österreichische Ministerpräsident Graf Badeni hat die Generaldebatte des Abgeordnetenhauses über den Etat zum äußeren Anlaß genommen, nochmals sein Regierungspro gramm darzulegen. Graf Badeni betonte da in seiner Diens tagsrede besonders folgende Punkte: Festhalten an der Erneuer ung des Ausgleiches mit Ungarn, möglichst Beseitigung der nationalen Gegensätze in Oesterreich, speziell Herstellung des nationalen Friedens in Böhmen, thunlichstes Entgegenkommen gegen die südtyroler Autonomistenpartei und gegen diesüdslavi- schen Volksstämme, unter Wahrung des Staatsinteresses, Wah rung des religiösen Moments. Im Einzelnen berührte der Ministerpräsident noch die Angelegenheit des böhmischen Statt halter Grafen Thun und läugnete entschieden das Bestehen einer Crisis im Prager Statthalterposten. Zuletzt kündigte Graf Badeni die Einbringung des Wahlreform-Entwurfes für Februar an. Er wurde wegen seiner Rede von vielen Seiten beglückwünscht. Wien, 9. Dezember. Im Abgeordnetenhause begann heute die Budgetdebatte vor halblceren Bänken, doch brachte die Rede des Antisemiten Schlesinger bewegte Zwischenfälle. Schlesinger brachte derartige Angriffe gegen Ungarn vor, daß der Präsident auf diese zurückkommend sagte: Ich habe zwei Aeußerungen Schlesingers zu meinem lebhaften Bedauern nicht sofort gehört, sonst hätte ich ihm das Wort entzogen. Schlesinger hat, von Ungarn sprechend, gesagt: „Mit einer solchen Bande von Leuten, die von Unrath triefen, sollen wir einen Ausgleich schließen". (Stürmische Entrüstung im ganzen Hause.) Präsident (fort fahrend): Weiter hat »geäußert: „Es ist unmöglich, mit einer jüdisch-magyarischen Kanalräumermeute zu paktiren, die von der Regierung in Schutz genommen wird." (Erneuerte Entrüstungs stürme.) Ich kann nicht selbst genug bedauern, daß ein Abge ordneter es unternimmt, solch einen unerhörten Ton sanzuschlagen. Wohin soll es hinkommen, wenn Vertreter des Volkes (Rufe links: ein Professor!) es wagen, durch solche Ausdrücke das Ansehen des Hauses in der Oeffentlichkeit herabzusetzen. (Bei fallssturm.) „Ich rufe den Abgeordneten Schlesinger zur Ord nung und wiederhole den Ausdruck des Bedauerns, daß ich diese Aeußerungen nicht sofort gehört, weil ich ihm dann sofort das Wort entzogen hätte." (Lebhafter Beifall.) Im weiteren Verlauf der Sitzung hielt der neugewählte Abgeordnete des Jeschner Städtebezirks, Dr. von Demel, eine scharfe Rede gegen die Antisemiten. Er sagte: Millionen Leute seien geradezu empört, daß das Parlament Zeit vergeude mit der Erörterung über Lueger und die Wiener Bürgermeisterfrage. Die Anti semiten terrorisirten das ganze Haus, trotzdem sie nur zehn seien. Wer nicht mit ihnen gehe, werde, mag er auch das Beste anstrcben, erbarmungslos in den Koth getreten und be sudelt. Die Antisemiten hätten eine Schreckensherrschaft ohne gleichen begründet. Die Antisemiten unterbrachen den Redner fortwährend, der sich aber nicht irre machen ließ. London, 11. Dezember. Aus Clay-Croß wird gemeldet