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3 „Aber George Willert, der Präsident der Great Western Railroad —?" „Ist ein Danker, wenn seine Wiege auch in Deutschland gestanden hat, ein hartgesottener, rücksichtsloser Dankee, der, wenn es sein Vortheil erheischt, sich den Teufel darum kümmert, ob er andere zu Grunde richtet oder nicht. Uebrigens, es kann ja auch sein, daß das Interesse der Bahn und der Aktionäre gebot, von dem ursprünglich entworfenen Plan ab zuweichen. So viel steht fest, daß die Bahn nicht an Lincoln vorbeiführt, daß infolge dessen Lincoln eine sterbende Stadt ist, verlassen von seinen Einwohnern, und daß wir, Sie und ich, über Nacht zu Bettlern geworden sind." Dem armen jungen Deutschen, der seit einer Stunde von einer Ueberraschung in die andere fiel, war ganz wirr zu Muthe. Das alles, was er erlebte, was er hörte, war so ungewöhnlich, so wunderbar, daß er es noch immer nicht recht fassen konnte, und daß er sich verstohlen ins Ohr und in den Arm kniff, um sich zu überzeugen, daß er auch wache und nicht alles nur geträumt habe. „Ich sage Ihnen," begann Adolf Suter von neuem, „das waren Tage, so furchtbar, wie ich sie noch nie erlebt habe und nicht zum zweiten Male erleben möchte. Der Lärm, die Entrüstung, der Aufstand, der losbrach, als die Nachricht eintraf: die Great Western Railroad kommt überhaupt nicht nach Lincoln — es war entsetzlich. Die armen Betrogenen gebärdeten sich wie die Wilden, rauften sich die Haare, zer schlugen sich die Brust mit den Fäusten und jammerten und schrieen. Und Aller Unwillen richtete sich gegen mich. Alle machten mich verantwortlich, als ob ich — ich nicht ebenfalls zu Grunde gerichtet wäre, wie sie alle, alle, ausgenommen Mister Cunningham, der Schuft!" Des Sprechenden Züge nahmen einen Ausdruck heftigen Abscheues, wilden Hasses an, und seine Hände ballten sich un willkürlich. „Mister Cunningham?" wandte sich Fritz Hammer fragend an seinen Freund. „Was ist's mit ihm?" „Der Halunke! Ich schrieb Ihnen doch, daß Mister Cunningham uns seinen Antheil an der Lincoln Land Company zum Ankauf anbot und daß ich alle unsere Baarmittel, die Ihrigen und die meinigen, zusammenraffte, um das vermeint- lily gute Geschäft zum Abschluß zu bringen. Arglos, wie ich war, ging ich in die Falle. Der schlaue Fuchs wußte natür lich damals schon, daß die Eisenbahn gar nicht nach Lincoln kommen würde. Möglich, daß er überhaupt hinter der ganzen Geschichte steckt und den smarten George Willert dazu ver anlaßt hat, die ursprüngliche Route abzuändern, denn denken Sie nur, kaum war es bekannt geworden, daß die Haupt station der Great Western Railroad vier Meilen nördlich von Lincoln verlegt worden war, als der spitzbübische Mister Cunningham eine große Reklame begann, gerade wie damals bei der Gründung Lincolns. Der Kerl hatte nämlich das ganze Terrain, aus dem die neue Hauptstation der Eisenbahn sich erheben wird, bereits in aller Stille an sich gebracht. Und nun beginnt er das Städtegründen zum zweiten Male und heimst zum zweiten Male ein Vermögen ein. Wir Beide aber haben das Nachsehen." Fritz Hammer zuckte mit den Achseln. Er war so verwirrt und betäubt, daß er sich nur zu dem trivialen Trost: „Wie gewonnen, so zerronnen," aufzuschwingen vermochte. Welch ein Wechsel! Vor wenigen Tagen noch inmitten des glänzenden, blendenden Getriebes des fashionablen Bade ortes, umgeben von allen Annehmlichkeiten einer raffinirten Kultur, heute in der Wildniß, in trauriger Verlassenheit, von Mangel und Entbehrungen umdroht. Nur in diesem Wunderlande, in dem sich zuweilen noch ein unausgegohrenes Gemisch von Kultur und wilden, halb barbarischen Zuständen zeigte, waren so schneidende Kontraste möglich. Sie standen vor dem Hause, das sie gemeinsam bewohnt hatten. Noch einmal ließ Fritz Hammer forschend seine Augen umherschweifen. Am fernen Horizont zeigte sich noch immer die wunderbare Erscheinung, die schon vorher sein Staunen, sein Grauen erweckt hatte: die wandelnden Häuser. „Was — was ist das?" fragte er lallend, mit der aus gestreckten Hand in die Richtung deutend. „Das halbe Lincoln auf der Reise," war die prompt ge gebene Antwort. „Wie?" Fritz Hammer riß seine Augen weit auf und bewegte den Kopf, wie Jemand, der etwas Märchenhaftes, Unmögliches zu hören glaubt. „Ja, ja," bestätigte der Techniker. „WaS Sie da in der Entfernung sehen, ist das wandernde Lincoln. Haben Sie noch nie gehört, daß man in Amerika Häuser von einer Straße in die andere überführt? Man schiebt die Häuser auf Rollen oder Walzen und bewegt sie auf diese Weise gemächlich vorwärts, ohne daß an der inneren Einrichtung irgendwie gerührt wird. Ein großer Theil unserer Mitbürger hat sich Bauplätze in der neu entstehenden Stadt gesichert, und um sich die Mühen und Kosten des Einreißens und Neuaufbauens zu sparen, begeben sie sich mit ihren Häusern einfach auf die Wanderschaft, was auf der ebenen Prärie und bei der leichten Bauart der Häuser übrigens gar kein so schwieriges Unter nehmen ist. Zwei Monate schon dauert diese Auswanderung von Lincoln. Da — das ist der letzte Theil, gleichsam der Nachtrab der wandernden Stadt." Sie traten in das Haus ein, setzten sich jeder in einen Winkel und ließen trübselig die Köpfe auf die Brust hängen. „Was nun?" stammelte Fritz Hammer endlich nach einer langen Pause beiderseitigen Stillschweigens und sah fragend nach feinem Freund hinüber. Dieser zuckte die Achseln resignirt. „Ja," gab er zur Antwort, „es wird nichts weiter übrig bleiben, lieber Hammer, als irgend eine größere Stadt auf zusuchen und wieder von vorn anzufangen. Zum Glück habe ich aus dem Zusammenbruch noch ein paar hundert Dollar übrig behalten. Mein Vorschlag ist, wir gehen zunächst nach Chicago. Das ist auf dem halben Wege nach New Dork. Hoffentlich finden wir da Arbeit, ich als Schlosser oder Ma schinenbauer, Sie — na in irgend einer anderen Branche. Wählerisch werden Sie freilich nicht sein dürfen." Der junge Oekonom stöhnte laut. Auch Adolf Suter begann zu seufzen, und es war eine ganze Weile in dem Zimmer nichts hörbar, als das Aechzen und Stöhnen der so grausam in ihren Hoffnungen betrogenen jungen Leute. Plötzlich sprang Fritz Hammer lebhaft in die Höhe. „Aber ich habe ja noch die dreitausend Dollar, die ich an meine Eltern nach Deutschland geschickt habe. Die werde ich mir einfach kommen lassen." „Das werden Sie nicht, lieber Freund," gab der andere mit Entschiedenheit zurück. „Aber warum — warum denn nicht?" fragte der junge Oekonom kleinlaut. Der Gefragte schüttelte lebhaft mißbilligend mit dem Kopf und antwortete: „Wollen Sie Ihre alten Eltern, die da glauben, es geht Ihnen gut, von neuem Ihretwegen in Sorge und Kummer stürzen? Und was wollen Sie mit dem Gelde anfangen? Es aufzehren, wie ein Rentier und die Hände müßig in den Schooß legen? Nein, lieber Freund, solch ein Charakterarmuthszeugniß sollten Sie sich vor den Ihrigen und vor sich selbst nicht ausstellen." Fritz Hammer nickte, erst ein wenig kleinlaut und beschämt, dann aber trat er plötzlich an den Freund heran, ergriff dessen Rechte und drückte sie herzlich. „Sie haben recht," erklärte er mit Ueberzeugung. „Es wäre erbärmlich gewesen von mir. Habe ich nicht genug ge bummelt und geschlemmt? Jetzt heißt es arbeiten!" Sie legten sich sehr bald zu Bett. Am andern Morgen wollten sie sich frühzeitig auf den Weg machen und dem todten Lincoln für immer den Rücken kehren. Aber schon um Mitternacht wurden sie durch ein Geräusch geweckt. Die Thür bewegte sich knarrend, und ein Heller Lichtschein fiel auf das Bett der Schlafenden. Erstaunt rieben sie sich die Augen. Drei Kerle standen mitten im Gemach, alle drei die Gesichter mit primitiv aus geschwärzter Leinwand selbst verfertigten Masken bedeckt. Adolf Suter machte eine hastige Bewegung nach seinem Revolver hin, der unweit des Bettes auf einem Stuhle lag. Aber noch rascher als er hatte der vorderste der Räuber seinen Revolver in Anschlag gebracht. Die Mündung