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MWlatt fiir WilskH Beilage zu Nr. 137. Dienstag, den 19. November 1901. Die sibirische Eisenbahn, die größte Aeberlanbbahn der Welt. Nachdem soeben die Eisenbahnlinie Kaidolowskoje— chinesische Grenze, welche die sibirische mit der mandschu rischen Bahn verbindet, fertig gestellt worden, ist sie dem Verkehr übergeben und damit die größte Ueberlandbahn der Welt eröffnet. Dies Ereigniß ist in Telegrammen Mischen dem russischen Finanzminister Witte und dem Zaren öffentlich gefeiert, da es eine der bememerkens- werthesten Abschnitte in der Entwickelung des russisch asiatischen Reiches bezeichnet. Es ist somit die Schicnen- leguno auf einer Gesammtstrecke von 2400 Werst beendet, nachdem der Zar im Mai 1891 den ersten Spatenstich zum Bau der russischen sibirischen Bahn in Wladiwostock ^zog. Wir geben unsern Lesern beistehend eine Karte oer Bahnlinie, welche durch Einfügung der durch die Mandschurei führenden ostchinesischeu Eisenbahn die russischen Kriegshäfen am Großen Ocean, Wladiwostock und Port Arthur, in unmittelbarer Verbindung mit dem Herzen des europäischen Rußland bezw. mit Petersburg bringt. Man kann jetzt also sagen, daß der Schienenweg, welcher das europäische Rußland, und durch dieses auch ganz Europa mit dem großen Ocean verbindet, fertig ist. Nur eine kleine Strecke der Sibirischen Bahn — die Baikal- Ringbahn — ist noch nicht gebaut, so daß sich diese längste Bahnlinie noch nicht ununterbrochen hinzieht; der Verkehr wird hier zunächst durch den Baikal-Dampfprahm vermittelt. Wenn aber diese kleine Unterbrechung, die ohne Zweifel binnen kürzester Zeit beseitigt sein wird, es noch nicht er laubt, den neuen Weltweg des Handels und der Kultur, welcher den schnellsten Verkehr zwischen dem Atlantischen und Großen Ocean durch die Länder der alten Welt ver mittelt, als vollstänig beendet anzusehen, so schmälert das doch nicht die Bedeutung des in Rede stehenden Ereignisses. Mit der Erbauung der sibirischen Bahn schließt sich das ganze bisher unerschlosseue sibirische Binnenland an Welt und Weltmarkt an, denn in ununterbrochener Fest lands-Linie verbindet sie den Stillen Ozean und seine aus veralteter orientalischer Kultur sich langsam emporrin genden Völkerschaften mit dem fernen Atlantische« Meere, an dessen Gestaoe die moderne Menschheitscntwickelung ihre Triumphe feiert. Der Bau wurde uuter der Regierung Alexanders lii. am 19. Mai 1891 an zwei Punkten zugleich in Angriff genommen. Die Reiseroute verbindet Hamburg, Berlin, Alexandrowo, Warschau, St. Petersburg, Moskau, Tula, Ssamara, Tscheljabinsk, Wladiwostok. Fügen wir noch die europäische Linie Havre, Paris, Köln, Berlin, so haben wir eine Gesammllängc von 11950 Km, von der 10240 Km auf russischem und sibirischem Boden liegen, indeß der Rest von 1710 Km Europa durchkreuzt. Durch die jetzt geschehene Angliederung der chinesischen Ostbahn an die Stammlinie der sibirischen Bahn und Abzweigung der ostchinesischen Bahn nach Port Arthur und Wladiwostok hat man die unserer Karte durch besonders starke Signarur hervorgehobene Gesammtline geschaffen. Die chinesische Ostbahn fährt durch die Mandschurei über Chardin nach Nikolks und von hier eine Abzweigung nach dem Haken Port Arthur und eine zweite nach Wladi wostock am Japanischen Meer. Die chinesische Ostbahn, 1536 Km lang mit einer südlichen Zweiglinie von 1050 Km wurde 1897 in Bau genommen. Oberflächliche Schätzungen hatten s. Z. die Aulage- (Nachdruck verboten.) kosten der sibirischen Bahn auf 350 Millionen Rubel — 700 Millionen Mark veranschlagt; jetzt muß man bei der vollständigen Ausgestaltung des Schienenstrangs auf eine Milliarde Rubel rechnen, das ist die Summe, die ein Viertel des Betrages ausmacht, den Preußen auf den Ankauf und Ausbau seines Staatsbahnnetzes verwendet hat. Dieses Kapital von rund einer Milliarde Rubel zum Zinsfuß der russischen Staatsobligationen zu 4 pCt. erfordert eine Reineinahme von etwa 4000 Rubel für jeden Km Betriebslänge, ein Erträgniß, das noch abzuwarten bleibt, so daß der russische Staat für die nächsten Jahre jedenfalls aus die Bewilligung bedeutender Zuschüsse ge- faßr sein muß. Folgende Zahlen mögen eine Anschauung von der in Asien zu bewältigenden Arbeit zu geben. Allein für die Strecken der sibirischen Bahn, die mandschurischen Linien nicht eingerechnet, sind bei einer Länge von 5500 Km über 90000 Hektar an Grund und Boden erforderlich, 15000 Hektar Wald müssen ausgerodet werden; 90 Millionen ckm Erdarbeiten sind an etwa 19 Millionen Arbeitstagen auszuführen; 50 Km Brücken mit 50000 t Eisentheilen und 450000 cbm Steinmauerung führen über die größeren Flüsse; die Bettung der Schienen er fordert 7000000 ckm Kies und 8400000 Schwellen und 350000 t Schienen und Schienenbefestigungstheile sind zu beschaffen. Ferner sorgen 5 Km Eisenröhren und 150000 ckm Steinröhren für den Wasserdurchlaß. Der Raumgehalt der anzulegenden Wasserbehälter ist auf 30000 KI bemessen. Und vollends, welche Schwierigkeiten des Klimas und der Bodenbeschaffenheit waren zu über winden: ein eisiger, jede Arbeit verhindernder Winter, eine hart gefrorene Erdkruste, sumpfige Urwälder, berg iges Gelände, reißende Flüsse. Und doch konnte sich das sibirische Komitee in seinen Jahresberichten rühmen, daß auf der asiatischen Bahn rund 600 km Schienen jährlich gelegt werden. Während Rußland durch den Bau der sibirischen Bahn das chinesische Reich vom Norden und Nordosten umfaßte, hat es gleichzeitig eine ebenfalls äußerst wichtige Bahnlinie im Westen von China vom Kaspischen Meere aus vorgetrieben, welche mit einer Zweiglinie über Sa markand nach Andischan die chinesische Grenze entlang lauft und mit einer kürzeren, aber viel wichtigeren Linie sich von Merw nach Süden auf afghanisches Ge biet begiebt und hier vorläufig in dem Grenzorte Kuschk endet. Auch diese zweite, namentlich strategisch wichtige Linie, welche auf eine Bedrohung Britsch-Jndiens hin weist, finden unsere Leser auf beistehender Karte verzeichnet. Sie steht mit dem europäischen Eisenbahnnetze Rußlands über den Kaspischen See vermittelst Schiffsverkehr in Verbindung, so daß es möglich ist, wie auch bei Ausbruch der chinesischen Wirren seitens Rußlands gezeigt wurde, in verhältnißmäßig kurzer Zeit aus dem Süden Ruß lands Truppen nach der afghanischen Grenze zu werfen. In unserem Karten bilde sind die durchgehenden Eisen bahnlinien Europas durch stärkere Signaturen hervorge- hobeu; sie führen einerseits nach St. Petersburg, anderer seits nach Deutschland hinein und über Berlin nach Hamburg, wodurch die Bedeutung der russisch-astatischen Bahn auch für die europäischen Wirthschaftsverhältnisse augenfällig gemacht wird. Ans ^«lianenhsh. Roman von Emilie Heinrichs. (22) (Nachdruck verboten.) (Fortsetzung.) Als der Physikus sich entfernt hatte, — der Kranke lag in einem tiefen, ruhigen Schlummer — meinte Dr. Eilers, daß er das Anerbieten des Rentners im Grunde nicht ernst nehmen könne. Was ihm doch nur einfiele, den Krankenwärter zu spielen, das wäre nicht so leicht wie das Coupon-Abschneiden. „Ach, Herr Doktor," meinte Wohlfart, „das wird auch mit der Zeit langweilig. Ich versuche mich gern in Allem, wozu ich Anlage besitze, zu vervollkommnen, das ist mein Sport." „Sie sind ein sonderbarer Schwärmer!" bemerkte der junge Arzt kopfschüttelnd. „Ja, lieber Himmel, jedes Thierchen hat sein Pläsir- chen und jedes Korn seine Hülse, mein verehrter Herr Doktor!" versetzte der wunderliche Rentner lächelnd. „Wenn Sie mir nun einige Verhaltungsregeln geben wollen, dann könnte ich mein Amt ja sofort antreten." „Das wird der Herr Physikus wohl noch selber be sorgen," sagte der Arzt etwas anzüglich. „Uebrigens werde ich doch darauf bestehen, daß der Krankenwärter den Nachtdienst übernimmt," fügte er hochmüthig hinzu, „Sie können sich ja in dieser Weise am besten in Ihrem Sport vervollkommnen." Wohlfart verbeugte sich ernsthaft, worauf Dr. Eilers ihm einige Verhaltungsregeln gab und dann den Sohn des Kranken aufsuchte, der mit gutem Appetit frühstückte. „Na, wie steht's, Herr Doktor!" fragte er mehr neu gierig als besorgt, „ist die Operation gelungen?" Der Arzt betrachtete ihn halb erstaunt, halb erschreckt. War das der leibliche Sohn jenes Mannes, der sich vorhin in tödtlichster Gefahr unter dem ärztlichen Messer befunden hatte? „Welche wunderliche Menschenspecies dieses Haus doch birgt," dachte er und sagte dann mit Nachdruck: „Ja, die Operation ist gelungen, Dank der ärztlichen Kunst, Herr Jonas! Ich hatte wenig Hoffnung auf seine Rettung, und bewundere nur Ihre beneidenswerthe Ruhe." „Das Gegentheil hätte meinen Vater keinen Deut genutzt," erwiderte der hoffnungsvolle Sohn, „natürlich hat der Physikus die Operation ausgeführt, das wird mein Vater Ihnen sehr verübeln. Trauten Sie sich die Geschichte nicht zu, oder hatten Sie keine Kourage?" „Dafür fehlt Ihnen das Verständniß, junger Herr!" rief Eilers gereizt. „Ich komme nur, um Ihnen milzu theilen, daß Herr Wohlfart sich der Pflege Ihres Vaters annimmt, da dieser noch lange nicht außer Gefahr ist. Absolute Ruhe im Hause ist die erste Bedingung. Es wird auch noch ein Krankenwärter kommen, dessen An ordnungen strikt befolgt werden müssen." „Herr Gott, zwei Medizinmänner und noch ein unter geordneter Tyrann, das ist etwas viel für einen Kranken," meinte das brave Karlchen. „Gott sei Dank, daß mein Freund Wohlfart sich unserer annimmt, er soll mein Haus marschall sein. Na, Herr Doktor, sprechen wir lieber von etwas anderem. Frühstücken Sie mit mir, das hält Leib und Seele zusammen; ich hab' hier ein feines Weinchen, einen famosen Tropfen, der Sie stärken wird nach der schweren Arbeit, brr — ich möchte kein Arzt sein. Aber gedacht hab' ich doch an Sie und ein zweites Couvert mit auflegen lassen." Dr. Eilers war zwar ein gewissenhafter Arzt, wie es sein Interesse erforderte, aber sonst ziemlich skrupellos. Dieser Sohn jedoch war ein Unikum, der sein Entsetzen erregte; für so nichtsnutzig gefühllos hätte er ihn doch nicht gehalten, obwohl er sich zugleich sagen mußte, daß Vererbung und Erziehung von väterlicher Seite die Haupt schuld au dieser Herzens-Verrohung trugen. Er dankte sür's Frühstück, trank jedoch ein Glas des ganz vorzüg lichen Rheinweins und verließ den jugendlichen Selbstling und Feinschmecker, um sich sofort nach der Apotheke zu begeben und die Mixtur für den Kranken hier selber an- zuordnen. Erst als er sich von der raschesten Ausführung seines Receptes überzeugt hatte, begab er sich nach seiner Wohnung. Dr. Eilers war, wie schon bemerkt, als Arzt ein höchst pflichtgetreuer Mann, weil er unablässig nach oben strebte, weshalb die Lehren seines Freundes Jonas hinsichtlich einer reichen oder, was noch besser, einer einflußreichen Heirath einen günstigen Boden bei ihm gefunden hatten. Seine Verlobte war Erzieherin in einem vornehmen Hause, ein schönes, feingebildetes, aber vermögensloses, junges Mädchen aus guter Familie, von festem, energischem Charakter. Sie wartete als seine Braut nun bereits sechs Jahre auf den Tag, wo er sie heimführen, ihr als sein Weib den ihr gebührenden Platz am eigenen Herde bieten konnte. Diese „übereilte" Verlobung, wie er sie jetzt in Gedanken nannte, war ihm nun ein Stein des Anstoßes, ein Hemmniß in seiner Karriere geworden, und es gab Stunden, wo er die einst so Heißgeliebte tödtlich haßte und sich selber ob einer solchen Jugend-Eselei hätte ohr feigen mögen. Dieser Gedanke nahm auch heute, als er seiner Wohn-