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MnM fm WilsSrE Beilage zu Nr. 86. Dienstag, den 23. Juli 1901. Ais dkMAl Ffaüm im Krieiit. Reisebriefe von Paul Lindenberg. (Nachdruck verbaten.) XV. Zurück nach Eskischehir. — Nächtlicher Kamps! — Nach Angora. — Bunte Bilder während der Fahrt. — Die Rückkehr der Meikapilzer. — Türkisches Volksleben. Ankunft in Angora. Nach zwölfstündiger Fahrt, zu früher Stunde in Koma begonnen, langten wir am Spätnachmittage wieder in Eskischehir an, wo es nach einem letzten gemeinschaft lichen Trunk ans Abschiednehmen ging, da die anderen Theilnehmer unserer bisherigen Fahrt nach Konstantinopel zurückkehrten, ich aber noch Angora, den zweiten Endpunkt der Anatolische» Bahn, besuchen wollle. Das Zimmer in meinem Hotel machte einen netten Eindruck und schien die Lobsprüche zu rechtfertigen, die ich über den Gasthof und dessen rundliche Wirthin gehört, aber im inneren Orient ist bei jeder,Lagerstätte ein „Trau-schau-wem" und eine gehörige Dosis Insektenpulver nöthig, was ich auch dies mal wieder befolgte und nicht zu bereuen hatte! Man muß freilich mit einem gewissen taktischen Talent ausge rüstet sein und des Engländers stolzen Spruch etwas um- modelu in: „Mein Bett ist meine Burg"; letztere muß man mittelst energischer Linien des gelben Pulvers in Vertheidigungszustand setzen und hierbei besonders oie Hauptangriffspunkte des Feindes, der mit Vorliebe von der Kopf- und Fußseite heranrückt, berücksichtigen — — befolgt man dies, verfügt man über einen festen Schlaf und ist man auch sonst nicht sehr empfindlich, so wird man die Nacht ganz gut überstehen! Nur muß man bei dem Pulver beachten, daß es nicht gar zu frisch aus Persien bezogen wurde; ist dies der Fall, wie bei mir, so fängt der Burginsasse zu niesen an, und zwar nicht zu knapp, der Feind wird sofort munter, er schickt seine Vor posten aus, um zu erkunden, wer in sein Reich einge drungen, ein leichtes Scharmützel entspinnt sich, der Burg herr macht einen Ausfall und tödtet ein paar der Kühnen, die übrigen entfliehen, sie verkünden dem Heerbann die Frevelthat, und da bei diesem Feinde in erster Linie die Blutrache gilt, nimmt er den Kampf mit allen Listen und Tücken orientalischer Grausamkeit auf, und meist bleibt er Sieger auch bei mir, trotz der Zwölfzahl, die ich zur Strecke gebracht. Sonst aber schläft sich's im Orient ganz hübsch!! Um die achte Morgenstunde ging's nach Angora, diesmal im fahrplanmäßigen Zuge, und ich gestehe offen, ich vermißte den „Spezialtraiu" mit all' seinen Bequem lichkeiten und seinen reichen Küchen- wie Kellerschätzen nicht; im Gegentheil, begleitet von einem liebenswürdigen, unterrichteten Ingenieur, der dienstlich in Angora zu thun hatte und der von Beginn der Bahn an in deren Diensten steht, fühlte man sich so recht behaglich und fern jedes geselligen Zwanges in unserem Abtheil, in welchem die vorsorgliche Gattin meines Begleiters mehrere wohl gefüllte Körbe, aus denen nengierig einige Flaschenhälse guckten, untergebracht hatte, denn nur auf wenigen Halte punkten zwischen Haidar Pascha und Eskischehir ist für die leibliche Erquickung der Fahrgäste gesorgt, auf den übrigen Linien muß jeder selbst zusehen, wie er seinen Nia gen zufrieden stellt. Die Bahnhofswirthschaften würden auch schlechte Geschäfte machen; es ist selten, daß europä ische Reisende diese Gegenden besuchen, und da sie unter richtet sind, bringen sie das Nöthige mit, ebenso die ein heimische Bevölkerung, die übrigens an den meisten Stationen Brod, Zwiebeln, Früchte rc. von fliegenden Händlern einkaufen kann. Die Wagen sind sehr bequem und sauber, in Italien, Frankreich, Spanien bin ich viel schlechter gefahren, die Abfahrts- und Ankunftszeiten werden trotz der bedeutenden Entfernungen pünktlich ein gehalten, der ganze Betrieb ist musterhaft geregelt. — Welch' buntfarbiges Völkergemisch enthält solch' ein Zug, weich' fesselnde Bilder entrollen sich auf den einzelnen Haltepunkten. Da giebt's Turkmenen, deren Frauen viel fältige Gewänder und schwere Männerstiefel tragen, Tscher- kessen in Schafpelzen und hohen Fellmützen, Lasen mit braunen, baschlikartigen Kopfbedeckungen, Kurden in dunklen, verbrämten Mänteln, Türken, welche um den rothen Fez golddurchwirkte Tücher gewunden, verhüllte Schöne in blauen wie grünen Oberkleidern und weißen Pumphöschen, darunter Hirten und Bauern in prachtvoller, kräftiger Er scheinung in bunten Jacken, blauen, kurzen Hosen, die Beine mit bunten Strümpfen umhüllt, im breiten, braunen Leibgurt Messer und Tabakspfeife, Soldaten in abge tragenen Uniformen mit Brodbeutel und Wasserflasche, Gensdarmen in Husarenröcken mit Flinte und Patronen gürtel, fäbelrasselnde Offiziere und würdevolle Beamte, die im ernsten gemessenen Wesen das alte Türkenthum vertreten, auch an hübschen, oft allerliebst gekleideten Kindern fehlt es nicht, die ebenso lustig umherspringen und ebenso greulich quaken können, wie Jung-Deutschland bei uns. In unserem Zuge fuhr eine Schaar Mekka-Pilger mit, die nach langer, gefährlicher Wallfahrt in ihre Heim stätten zurückkehrten. Feierlich wurden sie von ihren Dorf- und Stammesgenossen an den verschiedenen Haltestellen empfangen; ein Priester mit grünem Turban, einen langen Stock mit grünumwundener Spitze in der Hand, stimmte in getragenen Tönen einen religiösen Gesang an, den Zug > abschreitend, bis er die Erwarteten gefunden, die mM Sack und Pack, mit Teppichen, Bündeln, Krügen, mit dem in verlötheten Blechröhren befindlichen heiligen Wasser herauskletterten, von den Ihren erst mit ehrfurchts vollem Handkuß, dann mit Umarmung und mit Küssen auf die Wangen begrüßt. Auch hier zeigte sich wieder die ruhige Vornehmheit des unteren türkischen Volkes, die jeden Fremden sympathisch berührt; nie Lärmen, nie Vordrängen, nie ein Belästigen der Fremden oder Bekannten, stets ein bescheidenes und doch vornehmes Auftreten, sowie ein inniger Verkehr untereinander. Das konnte ich auch bei einem Hochzeitszuge beobachten. Auf einer größeren Station harrte eine Zahl weißgeklei deter und weißverschleierter Frauen der Gäste, einige Männer hielten rothe Fahnen mit dem weißen Halbmond, die Musikkapelle bestand aus einem Paukenschläger, der gleichzeitig zwei rasselnde Metallplatten und einen Dudel sack in Bewegung setzte. Prächtige bunte Seidenkleider trugen die der Bahn entsteigenden weiblichen Gäste, eine formvolle und doch anmuthige Bewillkommnung, und nach der Richtung des Dorfes zog paarweise der Zug ab, ohne daß auch nur ein lautes Wort gesprochen worden wäre. Natürlich hatte ich von meinem geschützten Fensterplätze aus den Photographenkasten — ich führte einen sehr em pfehlenswertheu, treffliche Ergebnisse liefernden Ernemann- schen Apparat „Bob Folding" mit, ebenso bewährten sich die Hesekiel'schen Seceo-Vilms, wogegen unterwegs gekaufte englische Kodak-Vilms fast völlig versagten — auf die Schönen gerichtet, sie spannten jedoch sogleich die Sonnen schirme auf und wandten sich ab, obwohl ich diesmal sicheren Erfolg erwartet hatte: „Und wenn Du denkst, Du hast'n, so springt er aus dem Kasten", konnte ich elegisch brummen. Ja, ja, 's ist nicht leicht, eine Türkin einzu fangen, nicht 'mal auf photographischem Wege! Häufig liegen die Stationen weit ab von den Dörfern, den Verkehr vermitteln ungefüge, mit einem Plantuche überdachte und mit starken Büffelkühen bespannte Wagen, während Kameel und Esel das Getreide wie die sonstigen Frachten heranbringen. Hin und wieder sieht man einen mächtigen Chan, eine Ausspannung und Herberge, meist vor laug er Zeit in plumpem Viereck erbaut, mehr einem Kastell ähneln) und wohl auch als solches früher inkrie gerischen Zeiten oder gegen räuberische Ueberfälle benutzt. Gelegentlich bemerkt man die Zelte umherziehender Zi geunerhorden, die auch hier vom Pferdehandel leben, oder verlassene Ansiedlungen, deren Bewohner theils am Fieber gestorben, theils der ungesunden Gegend wegen fortge zogen sind. Malerisch heben sich vom Horizont die langen Kameelskarawanen ab, rother Behang schmückt die Thiere, die gemessen dahintrotten, selbst der Ton ihrer Glocken hat etwas Getragenes, Schweres, und an ihnen vorbei saust der Zug — dort die alte, hier die neue Zeit, und die letztere kommt schneller vorwärts! Die Gegend, durch welche sich die Bahn zieht, bietet in landschaftlicher Beziehung nichts Reizvolles dar; von Bergzügen in ver Ferne begrenzt dehnt sich die Steppe aus, zunächst vom grünumsäumten Pursak durchflossen. Nur ein verschwindend kleiner Theil der endlos weiten Felder ist mit Gerste und Weizen bebaut, beides üppig gedeihend, denn der Boden ist vorzüglich, noch ungezählte Tausende von Menschen könnten in die Bannlinie der Bahn angesiedelt werden. Früher war das Land stark bevölkert, manch' Hügel, den einst eine Festung oder ein Tempel gekrönt, kündet von einer verschwundenen Stadt, und reiche Schätze jeder Art sind hier zu heben, wie es unseren gelehrten Landsleuten, Gebrüder Körte, gelungen, die kürzlich in dem von der Bahn aus deutlich zu er kennenden Gordium Ausgrabungen veranstalteten. Aber noch unter mohammedanischer Herrschaft muß das Land weit reicher an Einwohnern gewesen sein, davon berichten große Friedhöfe mit durcheinander geworfenen Steinen, während nichts mehr von den Dörfern, die einst die hier Begrabenen beherbergt, zu sehen ist, oder man trifft auf die Grundmauern von Häusern und Reste von Moscheen: Kriege und Seuchen mögen hier oft gründlich aufgeräumt haben. M Mm m KMiiW. (12) (Nachdruck verboten.) (Fortsetzung.) Die ganze Gestalt Cornels zittert im ersten wilden Jammer seines Lebens, der sich jetzt endlich Bahn bricht in einem Aufschluchzen aus tiefster Brust heraus. Und der Vater stört ihn nicht. Geduldig wartet er. Dann sitzt er am Bett des Sohnes und bewacht dessen Schlummer. Der Freund kann den Freund nicht verlassen in diesen Stunden bittrer Qual. Als Cornel am Morgen die Augen aufschlägt, fällt sein erster Blick auf den treuen Hüter an seiner Seite. Da neigt er sich vorwärts und seine Lippen auf des Vaters Hand pressend, sagt er leise: „Um Deinetwillen muß ich vergessen!" Frau Doktor Marx hat noch mehr als sonst zu thun. Grünberg ist seit Monaten Garnison und ihre gute Stube an einen Leutnant vermiethet. Erft hat der Doktor heftig dagegen protestirt, nun aber ist er mit dem Banquier recht bekannt geworden. Derselbe führt ein wahres Ein siedlerleben und entzieht sich, wenn er irgend kann, aller Geselligkeit. Bei dem Ehepaar weilt er augenscheinlich gern, und wenn Adeltraut zu Besuch ist, fehlt er nie. — Cornel van der Straaten hat sich nach Grünberg versetzen lassen, weil sein Vater es wünschte. Und schon fühlt er, wie sein Gemüth im Verkehr mit den guten theil nehmenden Menschen ruhiger wird. Er ahnt freilich nicht, daß der Banquier kurz entschlossen an Adeltraut geschrieben und sie wegen einer Wohnung um Rath gebeten hat, und daß die Beiden seitdem brieflich in Verbindung stehen. Annchen ist schwesterlich besorgt um ihn, und mit dem Doktor läßt sich so Manches besprechen. Cornel begleitet Adcltraut eine Strecke hinaus nach Schwanthal. Er meint, ein kleiner Spaziergang würde ihm gut thun. Merkwürdig, diesem Mädchen könnte er sein ganzes Inneres offenbaren und sie ist doch die Schwester jener — jener Anderen! „Sind Sie morgen beim Obersten zum Essen, Onkel Cornel?" fragt Adeltraut freundlich, den Offizier seinem Sinnen entreißend. Der steife Herr van der Straaten ist längst zwischen ihnen verbannt. „Ich weiß nicht - ich möchte nicht hingehen." „Aber Sie sollten es thun," bittet Fräulein von Weidlingen. „Zn große Abgeschlossenheit taugt nichts. Es sind gewiß viele nette, lustige Menschen da." „Alles Lüge und Heuchelei!" „Es ist eigentlich sogar Ihre Pflicht. Ein Absagen würde Ihren gütigen Vorgesetzten beleidigen." „Wenn Sie noch dort sein könnten oder Doktors!" „Man muß seine Freunde auch einmal entbehren, dann schätzt man sie nachher desto mehr." „Also — Sie meinen, ich muß hingehend" „Gewiß, Onkel Cornel. Und vergessen Sie nicht, diesmal gehören die Knallbonbons-Ueberraschungen Heinz und Hertha!" So leitet Adeltraut wieder und immer wieder den zum Träumen geneigten einsiedlerischen Cornel in das fluchende Leden zurück und beichtet das seinem Vater ehrlich. Sie haben sich in ihren Briefen stets so viel zu sagen, es ist das erste Geheimniß, welches Adeltraut hat. Mehrmals ist Herr van der Straaten schon zum Besuche seines Sohnes erschienen und jedesmal ist er länger ge blieben. Auch Schwanthal empfing ihn als Gast. Sogar der alte Freischütze lernte ihn kennen, denn sein Neffe ließ ihn natürlich herzlich grüßen. Nur die seltene Pflanze und das Moor mußten sich noch gedulden. Aber im Sommer hatte der Banquier verheißen, wiederzukommen und nicht eher zu ruhen, als bis er seinen Willen durch gesetzt und das Kraut gefunden hat. Die Bangigkeit, das Zagen ist längst aus Adeltrauts Herzen gewichen, ja, zuweilen will ihre stolze starke Seele in selige Träume versinken. Aber nein, nein — es soll und wird Freundschaft bleiben, was sie mit diesem Mann verbindet. Wie kann sie so thöricht sein, an etwas an deres zu denken! Aber schon Freundschaft ist süß — o so wonnig süß! Der Geburtstag der rothen Friede ist gekommen, jener Tag, ans welchen die Großmutter so viele Hoffnungen ge setzt hat, an den das Mädchen selbst kaum gedacht hat. Der alte Biermann ist ungewöhnlich ernst gestimmt, ihm ist so beklommen, so ahnungsvoll, er fürchtet sich beinahe vor den nächsten Augenblicken. Schon naht der Lenz! Wie ein duftiger grüner Schleier liegt es über Garten und Wald, das schlummernde Leben erwacht vom Winterschlaf! Immer wieder em pfindet der alte Mann diesen Frühlingszauber und schaut ihn doch schon viele Jahre lang. — Da kommen die beiden Alten vom Moor, und nun steht Friede vor ihm und reicht ihm zutraulich die Hand. Sie scheint ihm noch schöner und größer geworden, als da er sie zum ersten Mal gesehen. Etwas in ihrem Gesicht aber ist ihm neu und auffallend. „Willkommen, Kind!" Er halt ihre Rechte fest. „Komm' mit den Großeltern hier nebenan in die Stube!" Friede folgt wortlos. Sie steht auf der Stelle, wo sein Fuß gestanden, sic befindet sich in den Räumen, welche er durchwandelt — er — er — an den sie ge dacht hat all' die Zeit unter Schmerz und Zagen. Der alte Freischulze von Schwanthal entnimmt einem eingelegten Holzkästchen einige versiegelte Papiere und erbricht sie. Dann erhebt er sich und liest mit lauter deutlicher Stimme Folgendes: „Noch einmal komme ich zu Dir, mein alter, getreuer Freund. Ich weise ein Wesen an Dich und Deine Recht- lichkeit, welches auf meine Fürsorge ein Recht hat. El- friede Minna Mahlers Kind ist meine Tochter. Ich kann ihr vor der Welt nicht meinen Namen geben, aber sie soll zu gleichen Theilen, also 10000 Thaler wie meine an deren Kinder erben, und zwar befehle ich ausdrücklich, daß dieselben ihr nach ihrem Wunsch und zu jeder Zeit anstandslos ausgezahlt werden sollen. Bis zu Elfriedes Mündigkeit bestelle ich Dich zu ihrem Vormund und Berather. Meiner Tochter meinen Segen und Dir mein letztes Lebewohl und meinen Dank für alle Treue.