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MMatl fi'ir WilsillE Beilage zu Nr. 35. Donnerstag, den 21. März 19V1. Diskretion Von L. Glöckner. Es ist ein gewaltiger Jrrthum, den Ausdruck „Dis kretion" in seiner Bedeutung durch das deutsche „Ver schwiegenheit" übersetzen zu können. Auch nicht annähernd wird sein Begriff dadurch gedeckt. Diskretion bezeichnet keineswegs blos das Schweigen, das wir gelobt baben und die Pflicht uns gebietet, es drückt vielmehr jene freiwillige, durch Klugheit, Zartgefühl und Herzensgüte vorgeschriebene Zurückhaltung aus, welche in allen Formen des gesellschaftlichen Verkehrs das einzig zuverlässige Kennzeichen eines erzogenen Herzens ist. Diskretion ist jene nervöse Feinfühligkeit, die uns schützend davor bewahrt, in der Unterhaltung Gesprächs stoffe zu wählen, welche einen Anderen schmerzlich oder verletzend berühren können, die uns vermeiden lässt, auch für allgemeine Wahrheiten eine schroffe Form zu wählen. Wir brechen am Kaffeetisch den Stab über einen pflichtvergessenen Gatten, wir verdammen lieblos einen verlorenen Sohn, und merken erst an dem peinlichen Aus druck der Frau des Hauses, daß eine verrathene Frau, eine arme, gebeugte Mutter neben uns sitzt, deren Herz unter unseren Worten blutet. In wegwerfendem Tone spricht ein Anderer von Juden, Komödianten, nur aus Gewohnheit und Gedankenlosigkeit, und verletzt damit vielleicht ahnungslos ein allgemein beliebtes und geschätztes Mitglied der Gesellschaft, nur weil er sich seiner Anwesen heit nicht erinnerte. Vergebens bemühen wir uns, den Mißklang durch Entschuldigungen zu beseitigen; ist die Harmonie einmal gestört, weicht die Verstimmung nicht so leicht. Die Diskretion verbietet uns, auf vertrauliche Be kenntnisse zurückzukommen, zu denen sich Freunde in der Erregung des Augenblicks, im Drang, sick mitzutheilen, Hinreißen ließen. Heftige und mißtrauische Naturen äußern sich oft in momentaner Verstimmung anklagend über An gehörige, denen sie in inniger Liebe zugethan sind, um es, wenn ihre Aufwallung vorüber ist, bitter zu bereuen. Besonders was ein Gatte über den anderen dem Freunde klagt, sollte von dem Vertrauten nie berührt werden, da es entweder die Verstimmung verschärft oder den Freund in die Verlegenheit eines Selbstvorwurfs bringt. Die Diskretion verbietet uns auch, Urtheile Anderer über uns nahe stehende Personen diesen mitzutheilen, selbst wenn wir uns in freundschaftlicher Entrüstung noch so sehr dazu gedrängt fühlen. Ist es doch hauptsächlich die Jugend, die ihre Freund schaft am besten zu bethätigen glaubt, wenn sie uns ihre feurige leidenschaftliche Parteinahme gegen erfahrene An griffe auf uns wissen läßt und damit oft Lappalien halber unter Bekannten Mißstimmung und Entfremden schafft, die zuweilen in Jahren nicht wieder beseitigt werden können. Ist sie aber beseitigt, hat man sich über den Grund der Verstimmung ausgesprochen und versöhnt, bann ist Tausend gegen eins zu wetten, daß sich die Ge trennten einmüthig gegen denjenigen wenden, der durch seine Indiskretion unnützen Unfrieden stiftet. Wer durch Erfahrung klug wurde, weiß, welch undankbares Unter nehmen Freundschaftsdienste solcher Art sind. Ist doch der Mensch gegen ein seine Person be treffendes mißliebiges Urtheil so empfindlich, weil er in seiner Eigenliebe nie annehmen mag, daß unsere Be kannten in unserer Abwesenheit gerade so über uns sprechen, wie sie es in der Unterhaltung mit uns über Andere thun. Schmeicheln wir uns doch jederzeit damit, daß unsere Freunde uns für das halten, was wir in ihren Augen zu scheinen wünschen, und vergessen, daß fte für unsere Fehler dieselben scharfen Augen haben, wie wir für diejenigen anderer Leute. Gerade die indis kretesten und rücksichtslosesten Menschen sind bekanntlich auch immer die empfindlichsten. Eine diskrete Frau wird sich jedem gewöhnlichen Klatsch gegenüber immer ungläubig und ablehnend verhalten und dessen Weiterverbreitung zu verhindern suchen. Ist der selbe doch, je plumper oder pikanter er ist, um so schwerer aus der Welt zu schaffen. Gerade die unglaublichsten Dinge werden mit Vorliebe weiter erzählt. Nichts aber ist verächtlicher als jene Frivolität, welche, um einem Sen- sationsbedürfuiß zu genügen, schuldlose Menschen unheil bar an Ehre und Ruf schädig! mit lieblosen, verdächtig enden Nachreden, die an dem Betroffenen für alle Zeiten haften bleiben, und immer wieder auftauckten, so oft sich die Aufmerksamkeit der Welt wieder auf den Geschädigten lenkt. Oft ist es auch nur ein sogenannter schlechter Witz, vielleicht von einem guten Freunde aufgebracht, der den Gegenstand desselben für alle Zeiten mit dem Fluch der Lächerlichkeit behaftet. Eine der plumpesten, häufigsten und gefährlichsten Indiskretionen ist die sorglose Gewohnheit der Namens nennung, welche manche Leute für nützlich oder erforder lich zu halten scheinen, die Wahrheit ihrer Angaben zu bekräftigen. Jeder von uns wird Menschen kennen, die keine Geschichte erzählen können, ohne ihre Quellen und alle dabei bethciligten Personen namhaft zu machen, ohne zn bedenken, wie leicht sie Bekannte damit kompromitliren und ihnen Unannehmlichkeiten bereiten können. Wie oft schwirrt im Eisenbahnwagen oder an anderen öffentlichen Orten ein uns bekannter Name an unserem Ohr vorüber, begleitet von ein paar für uns geheimnißvollen Worten, die aber alle mögliche Auffassung gestatten. Viele Leute hul digen dieser Unsitte oft nur aus Prahlerei, um das Ver gnügen zu haben, die Namen einiger Rcnommirbekannt- schaften in den Mund zu nehmen, und bereiten damit diesen Gönnern und Freunden, die ganz unschuldig auf diese Weise in Verbindung mit Klatschgeschichten kamen, die allergrößten Unannehmlichkeiten. In jedes Menschen Leben oder Verhältnissen giebt es wohl einen Punkt, dessen Berührung schmerzt. Wo ist die Vergangenheit, welche frei wäre von Leid und Kränk ung, ob selbst oder durch andere verschuldet, die wir nicht zu vergessen wünschten. Wo ist die Familie, auf deren Ehre und Stellung nicht etwa schon ein mißrathenes Mit glied einen Schatten geworfen. Eine unglückliche Ehe, Perrath, Undank und Treulosigkeit, wer wüßte nicht da von zu erzählen, und doch, wie schwer wird es uns, die anzuklagen, die wir liebten, oder die, welche Gott uns zu ehren befiehlt; nur die taktlosteste Neugier wird sich für berechtigt halten, nach diesen dunklen Punkten, von denen ihr der Klatsch erzählt hat, zu forschen. Ein diskreter Freund, auch wenn er den größten Anspruch auf Ver trauen hat, wird immer warten, bis sich ihm das Herz des andern von selbst erschließt. Lebhafte offene Naturen, denen das Herz auf den Lippen liegt, kommen oft in Gefahr, indiskret zu sein, weniger aus Mangel an Zartgefühl als aus Unbedacht samkeit. Diskretion zu üben, lehrt uns nicht nur das erzogene gebildete Herz, welches nicht vermag, anderen wehe zu thun, sic wird uns auch geboten durch die Welt klugheit und allerlei unliebsame Erfahrung. Ihr Begriff schließt mehr ein, als von dem deutschen Worte „Verschwiegenheit" gedeckt wird. Vaterländisches. Wilsdruff, den 20. März 1901. — Bund der Landwirthe. Unter Theilnahme von etwa 800 Landwirthen aus deu verschiedensten Gauen unseres sächsischen Vaterlandes fand am gestrigen Sonn abend im Saale des „Deutschen Kaisers" in Zwickau die Landesversammlnng des Bundes der Landwirthe statt. In der Versammlung bemerkte man Vertreter der König!. Staatsregierung, der Ständeversammlung mit Herrn Vize präsidenten Juftizrath Opitz-Treuen an der Spitze, der Handels- und Gewerbekammern zu Chemnitz und Plauen, des Landeskulturrathes, der städtischen Behörden Zwickaus, der Innungen und der sämmtlichen nationalgesinnten Stände u. v. A. m. Kurz nach 1 Uhr Mittags eröffnete Herr Oekonomierath Andrä-Braunsdorf als Landesdele- girter für das Königreich Sachsen die Versammlung mit einer herzlichen Begrüßung und knüpfte daran eine längere Rede, in welcher er besonders Folgendes hervorhob: Die Landwirthe wollen nicht einseitige Juteressenpolitik treiben, sondern seien von der Ueberzcugung getragen, durch ihre Arbeiten das Wohl des ganzen Vaterlandes zu fördern. Der Bund der Landwirthe er strebe eine gesunde, wirthschaftliche Gesetzgebung, aus gehend von den Vertretern der gesammten heimischen Produktion. Der Bund habe mit seinem Wirken im Laufe der Jahre die Massen der Landwirthe aufgeklärt und vor falschen Schritten bewahrt und im übrigen bewiesen, daß er der wärmste Freund des Mittelstandes ist, weil er weiß, daß unser monarchisches Staatsleben nur gesichert werden kann durch eine kräftige Landwirthschaft und den Mittelstand. So sei der Bund der Landwirthe von der Untrennbarkeit des Zusammenhanges aller Berufe durch drungen und wende sich nur gegen die internationale Geldsackpolilik. Auf solchem Streben habe der Bund gute Erfolge erreicht, doch sei auch für alle Zukunft eine kraftvolle Vertretung der landwirthschaftlichen Berufsinter- esfen nothwcndig, denn nur dadurch würde das Errungene gesichert. Obwohl nun prozentual gerechnet in Sachsen die Mehrzahl dem Bunde der Landwirthe angehörten, nämlich von den 76800 Landwirthen mit über 2 Hektar Grundbesitz 27000, so sei doch noch viel Vorarbeit noth- wendig. Gerade die Besitzer größerer Güter fehlten noch in dm Reihen des Bundes der Landwirthe im Königreich Sachsen. Kürzlich sei nun von liberaler Seite das Ge rücht ausgespreugt worden, daß der Landtagsabgeordnete Huste-Bischofswerda eine Wiederannahme seines Land tagsmandats abgelehnt habe mit der Motivirung, daß er seitens der Mitglieder des Bundes der Landwirthe wegen seiner im Landtage ausgesprochenen Meinung in seinem Geschäftsbetriebe durch die Boykottirung seiner Handelsartikel geschädigt werde. Dem gegenüber müsse er als Delegirtcr des Bundes der Landwirthe erklären, daß die Bundesleituug jede ehrliche Ueberzcugung achtet und gegentheilige Ansichten nicht durch verwerfliche Maß nahmen bekämpft. Wenn an dem ganzen Falle etwas erfreulich sei, so sei es der Umstand, daß sich unter den Landwirthen in der Bischofswerdaer Gegend ein starkes Solidaritätsgefühl entwickelt habe. Auf eine Preßpolemik habe sich der Bund in der ganzen Angelegenheit nicht ein gelassen, weil die liberale Presse mit ihren Auslassungen in der konservativen Presse Verirrungen nicht anrichten könne. Zum Schluß dieser Ausführungen brachte der Redner ein begeistert aufgenommenes Hoch auf Ihre Maje stäten den Kaiser und den König Albert aus. Sodanu sprach an Stelle des erkrankten Vorsitzenden des Bundes der Landwirthe, Neichstagsabgeordneter Dr. Rösicke, Herr Neichstagsabgeordneter Dr. Oertel-Freiberg über den Nutzen der Handelsverträge und deren zukünftige Gestaltung und führte dabei, von lebhaftem Beifall begrüßt, zunächst aus, daß auch im Freiberger Wahlkreise vom Boykott eines Dünger-Fabrikanten seitens des Bundes der Landwirthe gesprochen worden sei. Thatsächlich sei die Sache so, daß die Landwirthe der Freiberger Gegend sehr entrüstet waren, daß ein Industrieller, der unmittelbar von der Landwirthschaft lebt, sich nicht gegen seine, Oertels, Kandidatur, sondern gegen seine Person gewendet habe und zwar in einer Weise, die nicht schön war. Demgegen über habe er, Oertel, seinen ganzen Einfluß aufgcboten, daß der Fabrikant nicht geschädigt werden sollte.. Der Boykott sei denn auch nicht eingetrcten. Zur Sache habe er zu sagen, daß das deutsche Reich mit dem Ablauf der bestehenden Handelsverträge einen Schritt von höchster Be- deutnng für seine Zukunft thun müsse. Die deutschen Land wirthe machten dem Grafen Caprivi keinen Vorwurf darüber, daß er seinerzeit Handelsvertr äge abgeschlossen habe, sondern nur das Wie bemängelten sie. Beim Abschluß der be- stehendeu Handelsverträge seien drei große Fehler gemacht worden: Erstens sei versäumt worden, vor Abschluß neuer Verträge die Meistbegünstigungsverträge zu kündigen; zweitens seien die Handelsverträge mangelhaft vorbereitet worden und drittens habe man an den maßgebenden Stellen die berechtigten Wünsche der Landwirthschaft beiseite gesetzt. Die Landwirthschaft habe die Zeche für die gemachten Fehler bezahlen müssen und daher könne man es der Landwirth schaft nicht verdenken, wenn sie nun in ihrer Noth schreie. Die gemachten drei Fehler lehrten, was letzt vor dem Ab schluß der neuen Handelsverträge zu geschehen hat. Es mußten also die Meistbegünstigungsverträge gekündigt werden, was vollständig unbedenklich fei, da die in Frage kommenden Staaten am Handel mit Deutschland ein weit größeres Interesse hätten, als dies umgekehrt der Fall sei. Weiter müßten die Handelsverträge viel sorgfältiger, genauer und eingehender vorbereitet werden. In dieser Hinsicht habe die Neichsregierung alles Mögliche gethan. Dies sei dem Staatssekretär Graf Posadowsky zu danken. Der Tarif, welchen der wirthschaftliche Ausschuß in monatelanger Thätigkeit ausgearbeitet habe, liege jetzt bei einer von den Reichsämtcrn und der preußischen Regierung gebildeten Kommission. Dann werde er den deutschen Einzelstaaten zur Nachprüfung und Stellungnahme zugehen. Er, Redner, wisse, daß die bayerische und die sächsische Staatsregierung ihre Entschließung mit Schnelligkeit fassen wird, weil sie bereits jetzt Stellung zu den Tarifen genommen habe. Mitte April würde der Tarif voraussichtlich an den Bundesrath zur verfassungsmäßigen Bcrathung gehen nnd dann hoffe man, daß der Reichstag Mitte oder Ende Mai den Zolltarif und das Zollgesetz vorgelegt bekommt. Geschehe jedoch diese Vorlage nicht vor den Sommerfericn des Reichstages, so müsse man befürchten, daß wieder Zwischentrcibereien zum Schaden der Landwirthschaft getrieben worden sind. Eine Neuanflage der Caprivischeu Handelsverträge halte die Landwirthschaft unmöglich aus, weil ihre Nothlage trotz aller Intelligenz und Thatkraft der Landwirthe soweit ge kommen sei, daß man unter Beibehaltung der jetzigen Verhältnisse einem Untergänge entgegenaehe. Es sei jedoch nicht zu fürchten, daß die Landwirthe bei den neuen Handcsverträgen wiederum die Zeche bezahlen müssen, weil sich in einem solchen Falle der Bundesrath mit seinen eigenen feierlich gegebenen Erklärungen in Widerspruch setzen würde. DieLandwirthschaft fordere erstens mindestens für die landwirthschaftlichenErzeugnisse einen festgelegten Minimal tarif, unter den die Unterhändler bei den abzuschließenden Ver trägen unterkeinen Umständen herabgehen können und zweitens einen lückenlosen Zolltarif für alle landwirthschaftlichen Erzeugnisse, die eines Zollschutzes bedürfen. Besonders eine ausreichende Erhöhung der Getreidezölle sei uoth- wendig. Die Börsenqesellschaft habe sich allerdings niit der Sozialdemokratie verbunden und male nun dem Volke das Gespenst eines Zollkrieges und einer Brotvertheuerung vor, um der Landwirthschaft zu schaden. Ueber die nächste Zukunft der Zolltarife und des Zollgesetzes spreche er sich unter den, Vorbehalte dahin ans, daß er glaube, daß, wie gesagt, die Vorlage etwa im Mai an den Reichstag gelangen würde. Daun werde man alsbald in die erste Berathuug eintreten und hierauf würde die Vorlage vor aussichtlich au eine Commission verwiesen werden und diese bedürfe dann wahrscheinlich einige Zeit bis zur Be endigung ihrer Arbeiten. Erst im Spätherbst würde dann der Reichstag in die Lage kommen, die zweite und dritte Lesung vorzunchmen, wozu es dann höchste Zeit sei. Während man bei der Commissionsberathung eine Ob struktion nicht erleben werde, sei dieselbe bei der zweiten und dritten Lesung im Plenum des Reichstages von der Linken zu erwarten und bereits in ziemlich heftiger Weise in Aussicht gestellt worden. Ob diese Obstruktion siegreich überwunden werden wird, sei leider Gottes eine offene Frage, weil es viele Neichstagsabgeordnete mit ihrer Pflicht wenig ernst nehmen und in ernsten Sitzungen fehlten. Reichsregierung und Reichstag seien aber entschlossen, die Vertragszölle zu erhöhen und auch die Produkte der