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SMW Nr WM Beilage zu No. 127. Sonnabend, den 26. Oktober 1895. Blütheu aus Ruinen. Erzählung von E. von Linden. (Nachdruck verboten.) (Fortsetzung) 8. Am nächsten Morgen saß die Familie Holbach beim Kaffee. Nur der älteste Sohn fehlte. »Leo scheint recht vornehme Gewohnheiten mit nach Hause gebracht zu haben/ bemerkte Fritz mürrisch, „er verschläft ja regelmäßig den Kaffee/ „Er kann so früh nicht zur Ruhe gehen wie wir/ ent schuldigte die Mutter, welche auf ihren Jüngsten urplötzlich einen kleinen Zahn bekommen wegen der dummen Vorliebe für die Fremde. „Heute Morgen versprach er mir, zum Kaffee sich einzu stellen," sagte der Vater, einen Blick auf den großen Regu lator werfend, „dieses Künstlervolk kennt doch keine Regelmäßigkeit/ Kaum hatte der Vater geendet, da wurde die Thür ge öffnet und Leo trat in die Stube, mit frischen, gerötheten Wangen, vollständig zum Ausgehen gerüstet. „Soeben schalt ich Dich wortbrüchig, mein Sohn!" lächelte der Vater, „und da bist Du schon gestiefelt und gespornt. — Alle Wetter!" setzte er, auf seine Stiefel blickend, hinzu, „scheinst ja schon einen Spaziergang gemacht zu haben?" Leo nickte vergnügt, den Eltern, sowie dem Bruder die Hand mit einem herzlichen „Guten Morgen" reichend. „Ich habe einen tüchtigen Marsch schon gemacht," sagte er, sich neben dem Vater niederlassend, „und einen bärenmäßigen Appetit mitgebracht. Habe die ganze Umgegend einmal wieder durchstreift und alle Spielplätze der Kindheit aufgesucht. Solche Erinnerungen erfrischen das ganze Gemüth und machen es erst empfänglich für die Segnungen des Vaterhauses." Frau Bertha lachte gutmüthig und schenkte ihrem Aeltesten den duftenden Mokka ein. „Nun laß das Schwatzen sein und iß und trinke erst, Kind!" Der bärtige Mann lachte ebenfalls und ließ sich von der Mutter die Wangen streicheln. Er fühlte in diesem Augenblick sich wirklich als Kind. Fritz biß sich auf die Lippen und starrte finster vor sich hin. Zum ersten Male empfand sein sonst so harmloses Ge müth Neid und Eifersucht gegen den von der Natur so bevor zugten Bruder, welcher nun auch noch von der Mutter, die doch ihm sonst den ersten Platz in ihrem Herzen eingcräumt, verhätschelt und vergöttert wurde. — Warum mußte der Bruder jetzt zurückkehren, gerade jetzt? — Ein unbestimmtes Gefühl ließ ihn den Heimgekehrteu als sein Schicksal betrachten. — Er erhob sich Plötzlich, um an sein Geschäft zu gehen. „Noch eine Taffe, Fritz," bat die Mutter, „trinkst doch sonst mehr —" „Ich danke, Mutter, laßt Euch nicht stören," wehrte Jener ab, „es schmeckt mir nicht wie sonst." „Hättest mit mir ausgehen sollen," meinte Leo, sich eine Cigarre anzündend. „Ich habe Wichtigeres zu schaffen, als spazieren zu gehen,' »widerte Fritz rauh. Der Vater runzelte die Stirn und blickte ihn scharf an. „Was hast Du nur, mein Sohn?" fragte er ruhig, „'schlecht geschlafen?" Fritz nickte und machte Miene, sich zu entfernen. „Nun, bist doch in keinem Club gewesen!" lachte Leo. „Entschuldige," setzte er hinzu, aber die Geschichte ist nun ein mal zu komisch. Ich sprach unterwegs Fräulein Wettering, welche ebenfalls schlecht geschlafen und sich deshalb in der frischen Morgenluft erholen wollte. Eigentlich war sie Willens, Dich, Mamachen, mit einem Frühbesuch zu überfallen, wovor ich Dich glücklich bewahrt." „Was wollte sie denn so früh schon?" fragte Frau Bertha »staunt. Fritz war stehen geblieben und schritt nun ganz diplo matisch, wie er dachte noch dem Fenster, wo er sich niederließ und durch den dort befindlichen Spiegel die Straße betrachtete. Herr Holbach ssu. schüttelte unmerklich den Kopf und blies hastig einige Wolken aus seiner Pfeife, während Leos Blick nachdenklich dem Bruder folgte. „Die Frau Rennbahn ick wohl die Gründerin eines hiesigen Damcn-Klub's?" fuhr Leo fort. „Ach ja," lachte Frau Bertha, „ich sollte auch Mitglied werden, bedankte mich aber für den Unsinn." „O, o, Mama," rief der alte Herr, „laß solche Gedenken nicht laut werden. — Es ist in der That keine Kleinigkeit, der Rache eines solchen Clubs zu verfallen." „Bah, dieser Rache seit Ihr bereits verfallen," lächelte Leo, laßt Euch die schrecklicke Geschichte von mir erzählen, be vor sie Euck, was nicht ausbleiben wird, von anderer Seite in vielleicht entstellter Weise mitgetheilt wird." „Herrgott, Du machst mich schaudern, Kind!" rief Frau Bertha, rasch ihren Kaffee austrinkend, während der Vater überrascht seine Pfeife aus dem Munde nahm und den Sohn erwartungsvoll anblickte. Dieser erzählte nun, mit den drolligsten Randglossen ver sehen, die Geschichte von der verhängnißvollen Abstimmung im Damenclub und dem effektvollen Austritt der Instituts-Vor steherin, welche das Resultat als eine persönliche Beleidigung betrachtet und dasselbe wohl mit Recht den Jntriguen der Frau Rennbahn zugeschrieben habe. „Ich bleibe dabei, daß diese fremde Miß nur Unglück über unsere Schwelle gebracht Hot," seufzte Frau Bertha, noch eine Taffe sich einschenkend, „man hat jetzt nichts als Aerger." D „AchjThvrheit/(,riefAerZalte Herr,- unmuthig sich erhebend, „wer kann so ungerecht sein, das arme,'schutzlose Mädchen für die Verkehrtheiten anderer Menschen verantwortlich zu machen. Es war ein Mißgriff von ihr selber, die Stelle bei der Wettering anzunehmen, dort paßt sie nicht, das Beste wäre —" „Sie wieder nach Amerika zurücksenden, wohin sie einzig und allein passen wird," fiel Frau Bertha nicht ohne Bitter keit ein. „Du magst Recht haben, liebe Frau!" nickte Herr Hol bach ernst, „die Arme ist hier in der Fremde, wo ihr eigenes Geschlecht so satanisch Partei gegen sie ergreift, eine exotische Blume, die welken und sterben muß. — Ich werde deshalb, wie meine Pflicht es erheischt, noch heute an Herrn Baring in Chicago schreiben und Anfrage halten, ob sie dort ein Unter kommen findet. Da ihre Mutter allein die Sehnsucht nach der oeutschen Heimath gehabt, so wird Fräulein Leonard sicher lich mit Freuden wieder zurückkeyren, sobald ihr die Gelegenheit dazu geboten wird." Frau Bertha hatte mit gesenktem Blick zugehört und wagte es nicht, den Gatten anzusehen. „Aber, Christian," meinte sie endlich, als dieser der Thür zuschritt und auch Leo sich schweigend erhob, „so schlimm bin ich doch nicht, — es ist nur der Leute wegen. Du hörst es selber, wie die Zungen schon geschäftig sind, — und da unsere beiden Söhne hier im Hause —" „Was thäte das?" nahm Fritz hastig das Wort, „Fräu lein Leonard könnte ja dann eine andere Stellung im Hause einnehmen. Ihr habt schon oft darüber gesprochen, daß eine junge Frau der Mutter zu Hilfe kommen müsse, und daß ich - ich —" Er begann zu stottern und brachte seinen nur allzudeut lichen Satz nicht zu Ende, weil Frau Bertha ein wahrhaft ent setztes Gesicht machte und der Vater düster den Kopf schüttelte. Nur Leo bewahrte seine ruhige Fassung. Er trat zu dem Bruder, legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte: „Du liebst also die junge Dame?" Fritz nickte. Die Kehle war ihm urplötzlich wie zugeschnürt; er begriff es jetzt selber nicht, woher er die Courage genommen. „Und bist ihrer Zustimmung gewiß?" fragte Leo weiter. „Sie weiß ja nichts davon," stieß Fritz mit Anstrengung hervor. „Da haben wir das Unglück in Hellen Hausen," jammerte Frau Bertha, „habe ich nicht recht gehabt? — Will der thörichte Junge eine solche hergelaufene fremdländische Dirne heirathen, die sicherlich nicht nein sagen wird." Herr Holbach machte gewaltsame Anstrengung, um nicht in Hellen Zorn zu gerathen. „Beruhige Dich, Mama," sagte er ungeduldig, „Fräulein Leonard wird Dir schwerlich einen solchen Kummer bereiten. Du aber, mein Sohn," wandte er sich an Fritz, „wirst besser thun, Deine Neigung bei Zeiten zu unterdrücken, > da ich kein Glück für Euch Beide in einer solchen Verbindung erblicken kann." Er schritt, von Leo gefolgt, rasch hinaus, und auch Frau Bertha schickte sich an, eilig den Rückzug anzutreten, als sie sich von Fritz zurückgehalten sah. „Wenn Fräulein Leonard mich nicht verschmäht," sagte er mit heiserer Stimme, „heirathe ich sie mit oder ohne Eure Einwilligung, Mutter! — und gehe dann mit ihr nach Amerika." „Gott im Himmel, was ficht dieses Kind an?" rief Frau Bertha händeringend, „glaubst Du denn wirklich, sie würde Dich heirathen ohne dieses Haus und ohne Geschäft? Ja, wenns Dein Bruder wäre, der hübsche, flotte Maler, — Du aber, mein Sohn, — Du —" Sie verstummte, Thränen rannen plötzlich über das rothe Gesicht und beide Hände dem Sohne entgegenstreckend, blickte sie ihn bittend und zärtlich an. Fritz lachte laut mit unsäglicher Bitterkeit. „Sprich es nur aus, Mutter, Du mit Deiner Häßlichkeit und dieses schöne Mädchen, wolltest Du doch sagen. — Aber steht der schöne, flotte Maler nicht dem Vater ähnlich, während ich Dein leibhaftiges Ebenbild bin? Warum habt Ihr Euch denn geheirathet, der hübsche Christian Holbach und Du, Mutter? Ich wills Dir sagen, weil Du Haus, Hof und Ge schäft von dem Onkel erbtest und der Vater arm war. Seid doch ganz glücklich geworden; warum darf ich denn an ein schönes Mädchen nicht denken? — Du dürftest am allerwenig sten meine Wahl verdammen, Mutter!" Letztere stand wie erstarrt diesem Ausbruch gegenüber, ihre Thränen versiegten, aber die Röthe wich aus dem Gesichte, und machte einer leichenhaften Blässe Platz. „Das sagt ein Sohn seiner Mutter," stöhnte sie endlich, „o, gottlob, daß der Vater es nicht gehört hat, ich will es zu vergessen suchen." Die strich sich über die Stirn und verließ wankend das Zimmer. Fritz blickte ihr nach wie ein verurtheilter Verbrecher. „Ich glaube jetzt selber, daß die Fremde uns Unglück gebracht hat," seufzte er, „wie konnte ich der besten aller Mütter nur so etwas sagen? Es ist richtig, sie hats mir angethan mit ihren Augen. O, wenn dieser flotte Maler nicht dazwischen gekommen wäre." Er seufzte noch einmal herzbrechend und ging dann in den Keller, um Wein abzuzapfen. IX. in's Herz geschlossen, da Sidonie Leonard es verstand, die Jugend an^sichüzu fesseln und derselben die trockenen Lehrstunden genuß reich und anregend zu machen, weshalb auch Fräulein Wettering sie recht freundlich behandelte und sich im Stillen zu dieser Acquisition selber Glück wünschte. Die kluge Dame war von ihrer Morgen-Promenade ganz heiter nach Hause gekommen. Die Begegnung mit dem jungen Holbach erschien ihr als ein gutes Omen, weil sie mit ihrem gewohnten Scharfblick einen Alliirten in ihm witterte und den Heimgekehrten, den sie sogleich wiedererkannt, deshalb ohne Weiteres zu ihrem Vertrauten gemacht hatte. Daß Herr Leo über ihre fürchterliche Geschichte gelacht, hatte sie allerdings etwas stutzig gemacht; doch durfte sie darauf bauen, daß er dieselbe erzählen, und der so gestreute Same auf fruchtbaren Boden fallen werde. Die menschenfreundliche Dame rieb sich vor Vergnügen die Hände bei dem Gedanken an den Scandal, den der Herr Renn bahn mit seiner Gattin machen würde, sobald die Sache ruch bar geworden, da jener, wie sie wußte, alle Ursache hatte, den angesehenen und sehr beliebten Herrn Holbach zu schonen. Die Sache sollte aber doch etwas anders kommen. Fräulein Wettering wollte gerade in's Schulzimmer treten, wo es an diesem Morgen seltsam still herging, als das Dienst mädchen ihr eine große Anzahl Briefe brachte, welche ein Dienst mann soeben auf einmal für sie abgegeben hatte. Von einer peinlichen Ahnung befallen, schritt sie ins Wohn zimmer zurück, um die Briefe nacheinander in einer fieberhaften Erregung, die sich fortwährend steigerte, zu öffnen, bis sie zuletzt aufstöhnend in einem Sessel zusammensank. Die Mehrzahl ihrer Schülerinnen war nicht blos gekündigt, sondern, was die Sache zu einem Eclat für ihr Institut machte, auch sofort aus der Schule genommen worden. Mit kurzen dürren Worten schrieben die Väter resp. Mütter, daß sie ihre Töchter nicht ferner einer Schule anvertrauen könnten, welche in der Wahl der Lehrerinnen so unverantwortlich gleich gültig (einige hatten sogar „leichtfertig" geschrieben) zu Werke gehe und man seine Kinder nicht der zweifelhaften Moral einer fremden Abenteuerin preisgeben möge. Lange blickte Fräulein Wettering auf den Hausen Briefe und raffte sie dann mit entschlossener Miene zusammen. „Die Frau Präsidentin ist sehr hurtig gewesen," murmelte sie, „ich muß Gegenminen legen und vor allen Dingen den Stein des Anstoßes aus dem Wege räumen. Am besten wird es sein, wenn ich ihr den Thatbestand nur gleich unumwunden mittheile. Hätte ich sie doch niemals gesehen." Die gute Dame machte es, wie die Mehrzahl der Menschen in solchen Fällen; — sie lud ihr selbstverschuldete Mißgeschick der unschuldigen Ursache desselben ohne Weiteres auf und hüllte sich majestätisch in den Schleier des unverdienten Märtyrerthums. Kaum ein Drittel der eigentlichen Schülerzahl war an wesend, worüber sich Alle schon seit einer halben Stunde ver wundert hatten. Fräulein Wettering durchschritt die Klaffe mit gewohntem huldvollem Gruß und winkte Fräulein Leonard in ein Kabinet, welches von den großen Schülerinnen der „Beicht stuhl" genannt wurde, weil hier die schweren Sünderinnen ihre Strafen zu finde» pflegten. Man blickte sich in der Klasse ver stohlen an und lächelte. Fräulein Leonard imBeichstuhl? Wac hatte das nur zu bedeuten? „Lesen Sie, bitte, diese Zuschriften, welche ich vorhin em pfangen, mein Fräulein," begann die Jnstitutsdame mit einem unterdrückten Seufzer. Befremdet und von einer bangen Ahnung erfüllt, öffnet- Sidonie den ersten besten Brief. Ihn rasch überfliegend, zuckte sie leicht zusammen und legte ihn wieder hin. „Behandeln diese Briefe alle das gleiche Thema?" fragte sie dann, das Fräulein ruhig anblickend. „Sic können sich davon überzeugen, meine Liebe und sich daraus dis Abwesenheit meiner Schülerinnen genugsam erklären." „Diese letzte Thatsache betrübt mich sehr um Ihretwillen, Fräulein Wettering!" versetzte Sidonie mit einer wunderbaren Fassung; „mich selber kann eine solche Verurtheilung nicht ver wundern, da dieselbe zu ungerecht und zu einseitig ist. Ich hoffe indessen, daß sich die Eltern durch meine Entfernung beruhigen und die Maßregeln zurücknehmen werden." „Ich bin entzückt, Sic so gefaßt, so außerordentlich ver nünftig zu finden, Fräulein Leonard!" rief die Dame, sie um armend; „daran erkennt man die Amerikanerin. Wie es mir leid thut, Sie zu verlieren, kann ich nicht aussprechen, es geht mir ordentlich an's Herz. Gehen Sie in die Klasse, liebes Fräu lein, unterrichten Sie ruhig fort und lassen Sie sich nichts merken. Nachher sprechen wir weiter davon." Sidonie ging allerdings mit dem stillen Gedanken, daß Fräulein Wettering in diesem Falle die ganze Scene auf später hätte verschieben und ihr den ominösen Beichtstuhl ersparen können. Die kluge Instituts-Vorsteherin aber wußte sehr wohl, was sie that, — da sie sich sagen mußte, daß die Briefe sich nicht vertuschen ließen. — Durch das Manöver des Beichtstuhls ge- rieth Sidonie von vornherein in die Kategorie der Schuldigen, während dann die Wettering als strafende Richterin erschien, welche mit strenger Gerechtigkeit das Gesetz handhabte vor den Augen der überraschten Schülerinnen, die eine Lehrerin in solcher Situation noch nicht gesehen. In der Klasse herrschte nach diesem unerklärlichen Vorfall eine sehr gedrückte Stimmung, während das rüthselhaste Fehlen der vielen Schülerinnen eine gewisse Bestürzung heroorrief. (Fortsetzung folgt.) Die unschuldige Ursache all' dieser unangenehmen Scenen sowohl im Holbach'schen Hause als auch im Damen-Club saß mittlerweile ahnungslos im Schulzimmer des Wettering'schen Töchter-Instituts und conversirte französisch mit den Pensionä rinnen des Hauses. Diese letzteren hatten die junge Lehrerin schon vollständig Ein Bäckerlehrling wird unter günstigen Bedingungen Ostern 1896 nach Meißen gesucht. Näheres zu erfahren in der Expedition d. Bl.