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Käthchen ging bereitwillig auf Maries Vorschlag ein. „Du hast mir so ost eine Gefälligkeit erzeigt", erklärte sie huldvoll, „daß ich Dir auch wohl einmal eine kleine Freude gönnen darf. Gehst Du mit ihm aus?" „Mit wem?" „Nun, Du weißt wohl, mit dem Briefschreiber!" „Nein, ich gehe allein!" Neuntes Kapitel. Man war in der letzten Woche vor dem St. Nikolausfeste, das nirgends in der Welt so glänzend und allgemein gefeiert wurde wie in Amsterdam. Die Straßen sind voll von morgens früh bis abends spät; aus der ganzen Umgebung strömen die Leute nach der Lieblings stadt des guten Heiligen. Es geht dort denn auch in hohem Maße gemütlich und lustig her; man spaziert an den Läden vorbei wie an den Abteilungen einer Weltausstellung. Was Kunst und Industrie, Mechanik und Technik in den letzten Monaten erfunden haben, drängt sich aus den Magazinen bis vor die großen Spiegelscheiben. Alles, was es auf der Welt nur geben mag, wird als Nikolaus-Geschenk feilgeboten undangepriesen; seidene Roben in den feinsten, schillernden Farben, Sammet-und Pelzmäntel, die Meisterwerke des menschlichen Geistes aus Ländern und Zeiten in den kostbarsten Ausgaben, der Flitterkram der Guldenbasars, japanische Vasen und böhmisches Glas, persische Teppiche und Venetia nische Spiegel. Makartbuketts und Fächerpalmen, Diamanten und Küchengerätschaften, Delikatessen und Zigarren mit bunten Bändern geschmückt; zahllose Kleinigkeiten und Nippsachen aus Elfenbein, Majolika, Biskuit, Plüsch, Brokat, Leder; verjüngte Antiquitäten und Spielsachen von so künstlichem Mechanismus und aus so kostbarem Material, daß mau kaum damit spielen kann —dies alles und tausend anderes ist in den Lüden ausgekramt und von einem Meer von Licht überflutet, das dem Vorbeigänger zuruft: Es ist jetzt Kaufenszeit, hier sind wir, um gekauft zu werden! Greist zu, öffnet die Börsen, alles ist jetzt schön, alles ist jetzt willkommen! lind vor den Fenstern stößt und drängt sich das Volk aus allen Kreisen und Ständen. Einige genießen platonisch: der Anblick genügt ihnen, sie fühlen keine Neigung, die wohlgespickte Börse hervorzuziehen. Andere dagegen sind in große Versuchung geführt; aus jedem Schau fenster bestürmt sie die Kauflust mit schier unwiderstehlicher Kraft, aber gerade bei ihnen ist das Portemonnaie leer — ach, wenn es gefüllt wäre! Wer kann es sagen, wie viel ohnmächtiger Groll, wie viel vornehme Uebersättigung, wie viel unbefriedigte Wünsche, wie viele Empfindungen bitteren Neides sich dort regen und drängen unter jenen Spaziergängern in den übervollen Straßen? 103 Wer nichts dort zu tun hat, vermeidet die Straßen, welche die Herzader der großen Stadt bilden, denn man kommt nur sehr lang sam vorwärts. Hier begegnen wir unserer alten Bekannten, Rose- Marie, dem Dienstmädchen der Frau Sandberg. Sie war nicht hier, um zu gaffen oder um etwas zu kaufen, aber es war der kürzeste Weg zu ihrem Ziele, und sie fühlte sich hier in der belebten Straße sicherer, als auf einer einsamen Gracht. In ihrem Regenmantel und mit ihrem einfachen Hütchen ging sie so rasch, als das Gedränge es ihr erlaubte, ohne auf jemand zu achten oder beachtet zu werden. Nur selten warf sie einen Blick zu den Läden nach rechts und links hinüber. Es war noch nicht so gar lange her, da hatte der bloße Anblick all dieser Herrlichkeiten genügt, ihr Herz mit einer solchen Freude zu erfüllen, daß sie vor lauter Vergnügen auf dem Asphaltpflaster hätte tanzen können. Alles war so schön, so herrlich, so glänzend, und wenn sie auch nichts für sich verlangte und nur eine Kleinig keit für Ians kaufte — dennoch hatte sie sich wochenlang vorher auf das Nikolausfest gefreut. Jetzt aber erschien ihr alles kindisch und leer. Was kümmerte es sie, ob die prächtig gekleideten Puppen mit den Löckenköpfchen und den großen blauen Augen die Hände nach ihr ausstreckten? Was machte sie sich aus dem blitzenden Kristall, den schillernden Stoffen, den verlockenden Kuchenmännern! Es glänzte und funkelte alles, aber nicht für sie, für andere, die sie nicht kannte, die teilnahmslos an ihr vorbeigingen; sie war allein unter diesen Menschen, einem einzigen stand sie im Wege, von den anderen kümmerte sich keiner um sie. Die arme Frau vor dem Konditorladen mit dem Kindchen auf dem Arm, das in ein Tuch gewickelt war, und mit den beiden anderen in zerfetzten Kleidern, die an ihre Schürze sich hingen, war wenigstens unentbehrlich für die Kleinen; aber sie? Was machte sie hier?! Sie fühlte sich einsamer und verlassener denn je; sie hatte ein Gefühl, als wenn ihr Herz auf der Straße läge und alle darüber hinträten, ohne es zu bemerken. All das Plaudern und Rufen jener fröhlich durcheinanderwogenden Menschen, all diese lauten Töne drangen mit unbarmherziger Gewalt auf sie ein und taten ihrem Innern so weh, daß sie weinend hätte aufschreien mögen. Sie lief nur immer fort, bis sie auf den großen Platz vor dem königlichen Schlosse kam und durch das Gewirr der Droschken und Pferdebahnwagen sich hindurchwand, um zum Nieuwendijk zu gelangen. Dort war es etwas ruhiger. Vor dem Milch-Ausschauk blieb Marie steheu und warf einen Blick hinein. Frank war noch nicht da; sie atmete tief auf und schloß einen Augenblick die Augen. Sie zitterte am ganzen Leibe vor Auf regung und Angst vor der kommenden Stunde.