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Montag, den S. April 1833. N n in nr e r 13. Peiblatt Zur „Sächsischen Elb-Ieitung". Verantwortlicher Nedactciir und Verlegert Ludwig Donath in Schandau. Motto: Der rcmstc Schah in diesem ird'schcn Lauf ist unbefleckte Ehre, Ohn' die der Mensch bcmahltcr Lehm nur wäre. Shakespeare. Der nächtliche Kirchengnng. Novelle von Äarl Lsterle.*) Vor längerer Zeit lebte in einem kleinen Städt chen Deutschlands ein junger, wohlhabender, sehr ge achteter Handwerker. ' Die. Liebe zu seinem Weibe, die musterhafte Ordnung im Hause des religiösen Mannes, vor Allem aber sein Wohlthätigkeitösinn und seine fast übertriebene Sanftmuth, die ihn nicht eine Fliege tödtcn liest, hatten ihm die Achtung sei ner Mitbürger verschafft. Allgemein war er unter dem Namen „der gute Mann" bekannt, weil kein Nothleidcnder die Schwelle seines Hauscö betrat, ohne, mit reichen Hilfsmitteln versehen, sic getröstet zu verlassen. Dennoch drückte diesen sanften und menschen freundlichen Mann eine so tiefe Schwcrmuth, daß'cr jede Gesellschaft vermied und keinen öffentlichen Ort, mit Ausnahme der Kirche, besuchte; ja, cS gab Tage, wo selbst die unbegrenzte Liebe zu seiner Gattin für ihn trostlos war. In solchen düstcrn Tagen saß er wohl stundenlang in einem einsamen Zimmer, und weinte bittere Thränen, oder lag aus den Knien und betete mit Inbrunst so lange, bis Nacht und Müdig keit ihn auf das ruhelose Lager warfen. Sein Be nehmen, sein Ausdruck im Gesichte verrieth deutlich, daß er unter der Last und dem Drucke irgend eines traurigen Geheimnisses seufze, welches er selbst sei nem geliebten Weibe nicht mittheilen durfte. Allen Bewohnern dcö Städtchens blieb er ein Näthsel. Viele erschöpften sich in Vcrmuthungen über die Ur sache seines Kummers, und, sonderbar! nicht Eine dieser Vcrmuthungen berührte die Wahrheit auch nur in der Ferne; ja, sein guter Nuf war so fest gegrün det, daß selbst unter den Böswilligem es Keinen gab, welcher das sonderbare Betragen des jungen Man nes mit irgend einer schlimmen That in Verbindung > zu sehen wagte. Diese spannende Ungewißheit dauerte fast zwei Jahre, bis endlich die unerbittliche Nemesis ihren Schuldner anhielt. Wiener Zuschauer. Der junge Mann hatte wieder einige schreckliche Tage in Trauer und Einsamkeit unter Beten und Weinen zugcbracht. — Seit einiger Zeit ging feint Schwcrmuth so weit, daß er ein Zimmer abgeson dert von dem seiner Gattin bewohnte; vielleicht aus Furcht, daß ein geschwätziger Traum sein Geheim niß verrathcn könne. Umsonst verschwendete das liebende Weib alle ihre Zärtlichkeit, um ihn zu zer streuen; gerade diese Beweise von Liebe, der sicht bare Gram, welcher der kaum zweiundzwanzigjähri- gcn Frau ein kränkelndes Aussehen gab, belasteten das Gewissen des Unglücklichen noch mehr, weil er sich als die Ursache dieser traurigen Veränderung anklagen mußte; und dennoch konnte und durfte et die wahre und einzige aufrichtige Freundin, die Ge fährtin seines Lebens, nicht zur Vertrauten seines Kummers machen. So wühlte sich der nagende Wurm des bösen Gewissens immer tiefer und tiefer in die Wurzel seiner moralischen Freiheit! — Die Stunden dcö Tages schlichen bleiern und ccntner- schwer für den Unglücklichen dahin; er wünschte sehn« liehst den Einbruch der Nacht; doch kaum sank die Sonne, so schied auch mit ihr jede Hoffnung der Ruhe und selten gelang es dem an Geist und Kör per Geschwächten, einige Stunden zu schlafen. Aber nie verließ er sein Lager gestärkt und erquickt; denn bzi dem leisesten Geräusch fuhr er entsetzt aus dem, kurzen Schlaf empor und blickte scheu und furchtsam ' herum. Aengstigcnde Träume peinigten ihn; er er wachte und sah sich in der Wirklichkeit neuen Qua len.preisgcgeben. In einer heitern Januarsnacht hatte er, erschöpft durch mehrere schlaflose Nächte einige Stunden — vielleicht seit einein Jahre zum erstenmal — traum los geschlafen, als er plötzlich erwachte. Der un gewohnte lange Schlaf, die mondhelle Nacht mach ten ihn glauben, es sei schon Tagesanbruch. Er kleidete sich schnell an, um die Frühmesse nicht zu versäumen, welcher er täglich beizuwohncn Pflegte. Die Straßen waren menschenleer und er dachte, alö er sich im Freien befand, einen Augenblick daran, es könne wohl sehr früh am Tage sein; dennoch schritt