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Nr. 24. PAPIER-ZEITUNG. 767 Pflege der Lungen. Schluss zu Nr. 23. Wir müssen für das Zustandekommen der Tuberkulose etwas anderes als den Staub verantwortlich machen, das der bazillären Ein wanderung; die Fremdkörper, welche in Form von Staub in die Lunge eintreten, können wohl zu Reizungen, auch zu kleinen Verletzungen Veranlassung geben, ja sie können sogar selbst in die gesammte Lymph- und Blutbahn übergehen, ohne zu Tuberkulose zu führen. Nicht in diesem Sinne ist die Tuberkulose als durch körperliche Elemente entstanden anzusehen, wohl aber können diese körper lichen Theile das Zustandekommen der Tuberkulose vermitteln, indem sie den Boden vorbereiten, den Infektionsträgern, den Tuberkulose-Bazillen, den Eintritt erleichtern, ja vielfach das Mittel abgeben, durch welches der Bazillus in die Lunge gelangt. Die verschiedenen Staubarten sind, wie aus der beigegebenen kleinen Tabelle ersichtlich ist, nicht gleichwirkend. Für das Zu standekommen der Phthysis ist der mineralische, besonders der metallische Staub am wirksamsten; ihm zunächst steht der anima lische, während der vegetabilische der relativ ungefährlichste ist. Durch Einfluss von Staub kommen ferner noch Erkrankungen des Auges und Hautkrankheiten, sowie schwere allgemeine Erkran kungen vor, welche hauptsächlich bei kleinen Verletzungen der Haut entstehen, durch welche die wirksamen Infektionsträger ihren Eingang in das Blut finden (Milzbrand, Hadernkrankheit, Rotz). Wer gesund bleiben oder gesund werden will, muss mit dem Staub rechnen. Die Kunst verstehen wir aber noch recht wenig. Abstauben heisst den Staub von den Möbeln und Arbeiter- geräthen (zum Beispiel Setzerkästen) an die Wände und in die Atmosphäre des Zimmers treiben. Noch seltener, als man diese wäscht, reibt man die Wände ab. Das Schlimmste aber sind die wollenen Vorhänge und die festgenagelten Bodenteppiche, wahre Sparkassen, die den Staub getreulich aufbewahren und dann die Zinsenzahlung in Form von Bazillen, von Tuberkulose, Diphtheritis, Rothlauf, Keuchhusten oder Scharlach leisten. Am allerwohlsten fühlt sich der Bazillus in den Ecken, den sogenannten todten Winkeln. Vollständig eckenrein sind nur ganz modern ausgestattete chirurgische Operationssäle und die Wohnungen einzelner weisser Raben unter uns. Es ist eine Ironie auf alle Reinlichkeit, in Zimmern oder auf Gängen Kleider auszubürsten oder Polster auszuklopfen. Diese Arbeit sollte nur im Freien geschehen. Wie leicht aber tausenderlei schädliche Stoffe ebenso wie gute, reine Atmosphäre in unsere Lungen eindringen können, ersehen wir aus folgender Betrachtung. Beim ersten Athemzuge des Neugebornen hebt sich der Brustkasten, sein Raum wird erweitert, die Luft steigt durch Mund und Nase in die Luftröhre und ihre Verästelungen hinein, überwindet das elastische Gewebe, welches das Organ wie einen zusammengelegten Fächer gehalten hat und durch das ganze Leben seine- Neigung sich zusammen zuziehen behält; die Athmung ist im Gange, und das Kind wird sich entwickeln und aufbauen, je nach dem Material, das ihm in Luft, Nahrung und Erziehung geboten wird. Wie viel Luft gebraucht ein Mensch? Ein Erwachsener nimmt mit jedem Athemzuge wenigstens 1/2 Liter normale Luft ein und giebt 1/2 Liter sehr kohlensäurereiche Luft ab. In der Minute nehmen wir 16 Athemzüge,-verbrauchen also 8 Liter Luft. In der Stunde 60 X 8 = 480 Liter; in 24 Stunden 480 X 11520 Liter = 14860 Gramm (1 Liter Luft = 1,29 Gramm). Also beinahe 15 kg =30 Pfund Luft werden täglich von 1/4 pCt. auf 40 bis 45 pCt. Kohlensäure gebracht und durch diese und sie begleitende Gase derart verunreinigt, dass ohne die künstliche oder natürliche Ventilation der Wohnräume der Menschen und deren Arbeitsstätten der Mensch an seinen eigenen gasförmigen Ausscheidungen zu Grunde gehen müsste. Die Grösse des Luftbedürfnisses und die natürlichen Mittel, demselben annähernd zu genügen, sind noch lange nicht bekannt, in das Bewusstsein der Gebildeten und in den Gedankenkreis der Schule und des täglichen Lebens noch lange nicht hinreichend eingedrungen. Für den Grönländer in seiner Schneegrube, für unsern armen Mann mit Frau und Kind in seiner übelriechenden und für unseren reichen Mann in seinem parfümirten Stübchen giebt es keine Luft, das heisst keine Luft zum Leben und zum Gesundsein, sondern nur eine Luft zum Vegetiren und Krankwerden. Parkes sagt: Unreine Luft ist weitaus die häufigste aller Krankheits- und Todesursachen, und immer steigt die Sterblichkeit mit der Wohnungsdichtigkeit und Luft Verschlechterung. Und nun sehen wir einmal zu, wie alle diese Lehren im gewöhnlichen Leben beobachtet und befolgt werden. Um gute Luft zu athmen, brauchen wir eigentlich keine Reise zu unternehmen, denn die beste Luftveränderung, welche wir durch eine Reise anstreben, wäre die, im eigenen Hause für eine möglichst gute Luft zu sorgen. Denn an Sauerstoffmangel leiden wir eigentlich nie. Die grösste Schädigung des Menschen ist der Luftschmutz, die CO, und CO, ferner die verschiedenen Fäulniss- Produkte, Pilze, Bakterien oder Sporen derselben, die übel riechenden Fettsäuren, die Ausscheidungen der Menschen, ihrer Kleider, Speisen und Getränke, sowie ihrer Gebrauchsgegenstände. Der Mensch kann die Luft, die er athmet, ebensogut einmal und noch mehrmals athmen, wie er ein Fussbad und in der Ver zweiflung sogar etwas Schlimmeres trinken kann; aber je höher die Verunreinigung steigt, um so ausgesprochener wirkt das Auf genommene als Gift. Bei einer Luftverunreinigung von 20 bis 30 Theilen in 1000 fängt der Mensch an, erheblich zu leiden: Herzklopfen, Kopfschmerzen, Schwindel und Ohnmacht zu bekommen; die Lampen brennen trübe und löschen aus. Man nimmt allgemein an, 1 Theil Kohlensäure in 1000 sei die Grenze, wo sich gute und schlechte Luft scheiden. Aber unsere Schulzimmer, auch in wohlverwalteten Schulen, haben am Ende des Tages 3 bis 4, ja sogar 6 bis 9 Kohlensäure in 1000, also bis an die Grenzen des Erträglichen oder bis zum Kohlensäuregehalt unserer Gast- und Kaffeehäuser. Pettenkofer sagt hierüber: Den Gipfel allen Luftschmutzes erreicht die Kneipe, sehr oft Restaurant genannt, weil man daran zu Grunde geht. Sollte der Aufenthalt in allen unsern Trink lokalen, in welchen viele Menschen vom Abend bis Mitternacht fast täglich zubringen, der Gesundheit zuträglich sein? Was ist nun zu thun, um immer reine, nicht über 0,4 von 1000 kohlensäurehaltige Luft zu haben? Der stündliche Luft- Umsatz der Lunge muss genau lOOmal durch frische Luft ergänzt werden. Ein Erwachsener verbraucht also 100 X 600 = 60000 Liter oder 60 Kubikmeter Luft stündlich. Mancher macht sich fleissig Bewegung, aber nur im Hause, wird dabei täglich blässer und kränker, denn er athmet eine Luft, die nicht von direktem Sonnenlichte erregt und belebt, dagegen mit Fäulnissprodukten und unorganischem Staub und tausend bekannten und unbekannten Giften gemengt ist. Bewegung im Freien ist etwas ganz anderes als Bewegung im Hause. Frische Luft ist Quellwasser, Hausluft Kloakenwasser. Dies ist leider beinahe buchstäblich zu nehmen, denn viele chemisch untersuchte Hausluft enthält wirklich soviel und mehr Luftschmutz, als ein gewöhnliches Kloaken wasser im Verhältniss zu reinem Trink wasser. Die Schlafstuben bei armen Leuten riechen am Morgen immer sehr schlecht, bei den Reichen meistens auch nicht gut. Der Arme hebt seinen Luftschmutz in schlechten Betten und Kleidern auf, der Reiche in Teppichen und schweren Gardinen. Was schlechte Nahrung und schlechte Wohnung begonnen, das vollendet schlechte Luft, sie hilft einer unverhältnissmässig grossen Anzahl von Minderbemittelten vor der Zeit zum Grab und wird für eine unnöthig grosse Anzahl von Reichen zur ergiebigen Quelle von ansteckenden Krankheiten. Die Zimmer tragen stets die Physiognomie ihrer Bewohner. Der Vernünftige sorgt für Luft und Licht, der Unvernünftige vor allem für Aufputz. Der Werth eines Zimmers besteht zunächst in seiner Grösse. Es ist das vornehmste, was es geben kann, jeden Athemzug Luft nur ein einzigesmal gebrauchen zu müssen und ihn dann gleichsam beiseite legen zu dürfen, während der Arme, der Gefangene, der in einem überfüllten, schlecht ventilirten Arbeits raum thätige Handwerker oder die Dame in ihrem reizenden Boudoir ihre alte Ausathmungsluft immer und immer wieder ver zehren müssen. In den Stuben ärmerer Leute ist sehr oft auch das Gewerbe einlogirt. Der Schuster ist vielleicht der unschuldigste; dann kommt der Schneider, die Näherin mit ihrem Kohlenglätteisen, dem schlimmsten aller modernen Geräthe, und bei fast allen der Petroleumkochherd, der das enge Gemach mit Kohleösäure und Wasserdampf erfüllt. Das Schlafzimmer ist meistens schlecht. Viele wohlhabende und in allen Geldkünsten wohlerfahrene Leute widmen ihre grossen Zimmer, sogenannte Paradezimmer oder Salons, der Eitelkeit, und die kleinen Zimmer dem Unglück. Da schlafen sie in schlechten engen Winkeln und erziehen ihre Familien so rhachitisch, blutleer, skrophulös und engbrüstig, dass man glauben könnte, sie hätten zeitlebens Hunger gelitten und gehörten dem ärmsten Proletariat an. Das alles kann die Schlafspelunke leisten.